Die Bibliothek des Kurfürsten. Birgit Erwin

Die Bibliothek des Kurfürsten - Birgit Erwin


Скачать книгу
die Garnison.«

      Der Stadtkommandant bedachte ihn mit einem abgrundtief ironischen Blick. »Sogar für einen Agenten seid Ihr mit einer bemerkenswerten Beobachtungsgabe gesegnet.« Er betätigte den Türklopfer. Eine Frau öffnete: Martha.

      »Ich muss deine Herrschaft sprechen«, erklärte Maxilius, ohne auf die Verwirrung seines Begleiters zu achten.

      Auf den ersten Blick war die Zeit an Martha einfach vorbeimarschiert. Sie trug dasselbe grobe Leinen, die ehrbare Haube über dem bärbeißigen Gesicht. Auf den zweiten erschien sie dünner, aber nicht weniger Furcht einflößend. Plötzlich war es Jakob unendlich wichtig, freundliche Aufnahme zu finden – oder wenigstens keinem Hass zu begegnen. Er zog den Hut und verbeugte sich elegant.

      »Gott zum Gruße.«

      »Der Herr Katholik«, war alles, was Martha sagte. »Herr Abele ist unterwegs, Herr Major. Frau Abele …« Ihre Blicke wanderten unschlüssig zwischen den beiden Männern auf ihrer Schwelle hin und her. Endlich trat sie beiseite. »Ich hole meine Herrin.«

      Sie ging und Jakob ließ das Haus auf sich wirken. Er hatte nicht geahnt, dass die Einzelheiten sich so tief in sein Gedächtnis gegraben hatten. Nichts hatte sich verändert. Es war immer noch ein behagliches Bürgerhaus mit dieser seltsamen Mischung aus echtem Geschmack und Spießigkeit.

      Sophie trat auf den Flur. Sie hielt die Hände gefaltet. Schwarz hatte sie schon damals getragen, aber keine Haube. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen tieftraurig. Alles hatte sich verändert.

      Eine Weile blieb sie stumm wie eine Statue, dann öffnete sie den Mund. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. »Warum, Fritz? Warum hast du ihn hergebracht? Ich will ihn nicht hier haben.«

      Jakob fühlte sich, als habe sie ihn geschlagen, härter als Karius. Er streckte die Hand aus, ließ sie wieder sinken.

      Maxilius beachtete ihn nicht. Ohne den Hut abzunehmen, schaute er auf Sophie herunter. »Ich habe ihn deinetwegen hergebracht, Schnecke«, sagte er barsch. »Damit du endlich mit diesem Unsinn aufhörst. Außerdem brauche ich jemanden, der ein Auge auf ihn hat. Also du und dein Mann oder der Kerker. Es ist deine Entscheidung.«

      Zum ersten Mal sah sie in Jakobs Richtung, obwohl er immer noch das Gefühl hatte, dass sie an ihm vorbeischaute oder durch ihn hindurch. Ihre blassen Lippen bebten. Wo war das Funkeln geblieben?, fragte sich Jakob, wo der Glanz? Diese Frau war schön. Aber sie war nicht mehr reizend.

      Er besann sich auf seine Erziehung. »Ich möchte niemandem zur Last fallen«, erklärte er steif.

      Ein Zittern lief durch ihren Körper. »Nein, Herr Liebig.« Sie schien Mühe zu haben, seinen Namen auszusprechen. »Ihr könnt bleiben. Matthias würde nie zulassen, dass Ihr in den Kerker geworfen werdet. Martha wird Euch Euer altes Zimmer zurechtmachen. Ihr seid willkommen.«

      Eine kältere Lüge hatte er nie gehört. Er sah zu Maxilius hinüber, aber der wich ihm beharrlich aus. Er wirkte wütend, doch Jakob hatte nicht den Eindruck, dass der unterdrückte Zorn ihm galt.

      Martha bedeutete Jakob, ihr zu folgen. Die Treppe quietschte noch immer, das Wildschweingemälde war scheußlich wie eh und je.

      »Verdammt, Martha, ist es, weil ich Katholik bin?«, brach es aus Jakob heraus, als sie außer Hörweite waren. »Das war ich vor drei Jahren auch, und da hat sie mich nicht behandelt wie eine Pestleiche.«

      Die Haushälterin schwieg eine Weile. »Nein«, sagte sie halb zu sich selbst. »Das hat sie nicht, das dumme Mädchen.«

      »Aber …«

      »Bleibt in Eurem Zimmer. Ich werde Euch holen, wenn der Herr nach Hause kommt.« Sie musterte ihn streng. »Und in der Zwischenzeit hole ich Euch Wasser und eine Paste aus Beinwell. So könnt Ihr ja nicht unter Leute gehen.«

      »Martha, bitte, was ist hier passiert?«

      »Meine Herrin hat ein Kind verloren«, murmelte die Magd düster. »Stattdessen hat sie Gott gefunden.«

      Grummelnd stapfte Jiří über die Baustelle. Das Geld, das er beim Würfelspiel gewonnen hatte, klimperte in seiner Manteltasche. Ein Bierkrug hatte großzügig die Runde gemacht, bis ein Soldat die kleine Gruppe auseinandergescheucht hatte. Eigentlich hätte es ihm gut gehen müssen. Er strauchelte über einen Sack.

      »Heilige Muttergottes«, entfuhr es ihm. Während sein Puls sich beruhigte, stieß er das Bündel mit dem Fuß an. Es war und blieb ein Sack. Trotzdem schienen ihn die Augen des Toten aus dem Wald anzustarren, über Raum und Zeit hinweg.

      Tote konnten das. Vor allem rachsüchtige Tote.

      Jiří umschloss die Münzen, die keinen Trost spendeten. Er blickte nach Westen. Die Sonne sank. Das bedeutete, dass die Geister erwachen würden. Plötzlich hatten die Geschichten, die die alten Weiber am Ofen erzählt hatten, eine beunruhigende Macht.

      Aber er war kein altes Weib, er war ein Mann. Wenn er nur sein Pferd gehabt hätte. Doch das riesige Streitross, das er eingefangen hatte, als er herren- und kopflos über das blutige Schlachtfeld geirrt war, stand in Reilings Stall und ließ sich verhätscheln. Die Mähre verfluchend, machte sich Jiří auf den Weg. Auf jeden Fall wollte er vor Sonnenuntergang an der Stelle sein, an der er die Leiche zu sehen geglaubt hatte. Vielleicht hatte er sich geirrt. Während er mit Lena und Anni durch den Wald gegangen war, hatte er keinen Gedanken an mörderische Tote verschwendet, aber Lena war nur ein Traum, ein sehnsüchtiger Gedanke und weit fort.

      Ohne die Gesellschaft zweier hübscher Frauen zog sich der Weg im Zwielicht unbarmherzig. Jiří pfiff ein altes Soldatenlied, so musste er das Rascheln in den Zweigen nicht hören. Er versuchte, sich zu erinnern, wo genau sein Pferd gescheut hatte. Ein Baum sah aus wie der andere, knorrig, blattlos und fahl vor dem stahlblauen Himmel, der bald schwarz sein würde wie die Seele eines Toten. Er merkte, dass das Lied ganz von selbst erstorben war. Schweiß rann über seinen Rücken. Mit einem Anflug seiner alten Frechheit stellte er fest, dass feines Leinen ebenso unangenehm juckte wie das grobe Zeug, das er noch vor einem halben Jahr getragen hatte. Nicht, dass er sich beklagen würde.

      Er ging langsam, weil es immer schwieriger wurde, Einzelheiten zu erkennen. Tote bewegten sich nicht. Das sagte der Pfarrer. Und vor allem sagte es seine Beobachtung. Tote bewegten sich nicht, sonst wären Schlachtfelder eine unruhige Angelegenheit.

      Jiří bekreuzigte sich mehrfach in schneller Folge und versuchte, den Erinnerungen zu entkommen. Es waren zu viele Tote, doch an den meisten war er unschuldig.

      Er merkte, dass er die Augen geschlossen hatte, und zwang sich, ins Unterholz zu spähen, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Die anklagende weiße Hand musste irgendwo auf ihn zeigen.

      »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …«

      Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und hob einen langen Ast auf. Mit dem morschen Holz stocherte er bald hier, bald da am Wegrand.

      Seine Hände zitterten.

      »Ich widersage dem Teufel, seiner Macht und gelobe …«

      Jiří ließ den Stock fallen und hielt den Atem an, als ein weißer Fleck aufblitzte. Er ging in die Hocke. Der bauschige Stoff seiner Hose war kein Schutz gegen den kalten Waldboden. Er streckte den bebenden Arm aus, aber es war keine Geisterhand, es war ein Blatt Papier, das jemand an einen Baumstamm genagelt hatte. Jiří riss den Zettel vom Stamm. Er hörte das Reißen des Papiers. Die untergehende Sonne spendete genug Licht, dass er die Schrift entziffern konnte. Es war ein Vers aus den Psalmen. Am liebsten hätte Jiří das Blatt von sich geschleudert, aber abergläubische Furcht hielt ihn zurück. Was, wenn jemand die Worte der Heiligen Schrift nutzte, um den Toten zu bannen? Mit klammen Fingern faltete er das Blatt und steckte es in seine Tasche.

      Flüchtig kam ihm der Gedanke, dem Stadtkommandanten von seinem Fund zu berichten, aber er verwarf ihn trotzig. Die einzige Frage, die sich stellte, war die: Zurück in die Stadt oder zu Reilings Hof?

      Das Bier lockte, aber der Weg war dunkel, er hatte kein Pferd, und Jiří musste sich eingestehen, dass allein ein Blick in den schwärzer werdenden Wald ihm Todesangst


Скачать книгу