Partnerschaft und Sexualität. Monika Röder
(»Shutdown«) (dorsaler Vagus im parasympathischen Nervensystem)
Ist der ventrale Vagus aktiv, erleben wir Sicherheit und Verbundenheit. Hier suchen wir nach Möglichkeiten der Co-Regulation, können uns beruhigen und beruhigt werden (Dana, 2019). Dieser Modus ist assoziiert mit einem regulierten Blutdruck, tiefer Atmung, einer Offenheit für Mitmenschen und dem generellen Gefühl eines geordneten, strukturierten Zustandes. Der ventrovagale Komplex im autonomen Nervensystem wird daher als Soziales Kontaktsystem bezeichnet. Die Funktionen des ventralen Vagus sind Voraussetzung für Gesundheit und Entwicklung. Als Therapeutinnen und Beraterinnen ist es unsere Aufgabe, die Klienten darin zu unterstützen, in diesen Modus zu finden, um wieder zueinander in Kontakt treten, wachsen und heilen zu können.
Kommt es zur Wahrnehmung einer Bedrohung, wird unwillkürlich der Sympathikus aktiviert. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird kurz und flach, der Muskeltonus steigt und es kommt zu einer Mobilisierung. Das autonome Nervensystem bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Zustand verändert sich unsere Fähigkeit zu denken, aber auch zu sehen und zu hören. Freundliche Stimmen im mittleren Frequenzbereich werden überhört, der Blick wird eng (»Tunnelblick«) und die Wahrnehmung ist fokussiert auf die Gefahr. Für Paartherapeutinnen sind Kenntnisse um die Wahrnehmung sympathisch aktivierter Nervensysteme wichtig, um Streitdynamiken und fruchtlose Eskalationsspiralen erkennen und einschätzen zu können. Oft sind beide Partner
Abb. 4.1: Polyvagaltheorie
entsprechend aktiviert und kommen aus dem Kreislauf gegenseitiger Verletzungen nicht heraus.
Wenn die sympathischen Aktivitäten Kampf oder Flucht versagen oder nicht zur Verfügung stehen, kommt der hintere Zweig des parasympathischen Nervensystems, der dorsale Vagus, zum Einsatz. Er ist verantwortlich für einen Zustand, der in lebensgefährlichen Situationen unwillkürlich aktiviert wird: die Immobilitätsreaktion, auch »Shutdown« oder »Totstellreflex« genannt. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, der Herzschlag verlangsamt sich und die Atmung wird flacher. Mit diesem Zustand assoziierte Gefühle sind Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit und eher ein Nicht-Denken-können, ein Nicht-Fühlen und eine Leere. Der Kontakt zum anderen ist unterbrochen (Dana, 2019, S. 27). Auch dieser Teil des Nervensystems ist ein Kompetenzbereich. So ist er evolutionsbiologisch betrachtet sinnvoll, indem durch das Totstellen beispielsweise schlimmere Aktivitäten des Angreifers verhindert werden, die Schmerzwahrnehmungsschwelle angehoben und das weitere Funktionieren der Organe gesichert werden.
In Paardynamiken gibt es häufig Wiederholungsschleifen, die von den Betreffenden neurozeptiv so hoffnungslos eingeschätzt werden, dass einer oder beide Partner in eine Immobilitätsreaktion (Shutdown) fallen. Von außen betrachtet wirkt das Verhalten wie Desinteresse oder eine Blockade. Im Inneren ist das System jedoch in höchstem Alarmzustand, der Kopf ist jedoch leer und es steht keine Energie zur Auseinandersetzung zur Verfügung.
In welchen Modus unser autonomes Nervensystem schaltet, entscheidet es noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle autonom. Porges führte dafür den Begriff der Neurozeption ein, einen unbewussten neuronalen Schaltkreis, der fortwährend die Umgebung scannt, deren Gefahrenpotential beurteilt und damit blitzschnell handlungsfähig ist (Porges, 2018). Denn unser Nervensystem ist ständig auf der Suche nach Sicherheit, um seine höchste Aufgabe zu erfüllen: zu überleben.
Schuldzuschreibungen an Partner im Sinne eines »Du schleichst dich einfach raus!« oder auch die Beurteilung des Verhaltens von traumatisierten Gewaltopfern mit dem Vorwurf, nicht gekämpft zu haben oder nicht geflohen zu sein, erscheinen dadurch in einem neuen Licht: Nicht der Mensch als Ganzes, sondern sein autonomes Nervensystem hat entschieden, dass in dieser Situation Kampf oder Flucht nicht möglich war.
Die drei neuronalen Systeme sind hierarchisch organisiert: Der Mensch versucht zuerst unter Einsatz seiner sozialen Fähigkeiten zu vermitteln. Ist das wirkungslos, schaltet das vegetative Nervensystem um in die Mobilisierung und bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Ist auch das erfolglos, so kommt die Immobilitätsreaktion. Der auslösende Reiz, der das Nervensystem autonom wie auf Knopfdruck von einem in den anderen Modus schalten lässt, wird als Trigger bezeichnet.
Im Alltag sind wir häufigen stärkeren und schwächeren Triggersituationen ausgesetzt, in denen sich die Ebenen auch vermischen können. So kann es sein, dass das Soziale Kontaktsystem mit einer gewissen Aktivierung des Sympathikus zusammentrifft, etwa damit wir uns klarer ausdrücken oder besser durchsetzen können. Zwischen dem Sozialen Kontaktsystem und dem Sympathikus können wir relativ schnell und vielfach täglich hin und her navigieren. Einzig die Rückkehr aus einer intensiven Immobilitätsreaktion in den ventrovagalen Komplex, insbesondere bei traumatisierten Menschen, gelingt oft nicht spontan und benötigt therapeutische Unterstützung (Porges, 2018). Der Weg vom Shutdown ins Soziale Kontaktsystem führt dabei zwingend über das sympathische Nervensystem. Zuerst muss der Mensch mobilisiert werden, bevor echter sozialer Kontakt möglich ist.
4.2 Neurobiologische Implikationen für die Sexualität
Die neurobiologischen und endokrinologischen Prozesse der Sexualität zu untersuchen ist schwierig, weil das klinische Untersuchungssetting stark von der üblich gelebten Sexualität abweicht, sodass Intimität schwer aufgebaut werden kann. Aus diesem Grund werden neurobiologische Untersuchungen der Sexualität häufig an Tieren oder aus methodologischen Gründen nur an einem Geschlecht durchgeführt, woraus resultiert, dass der aktuelle Wissensstand auf diesem Gebiet noch eingeschränkt ist (Biedermann, 2018). Dennoch gibt es Befunde, die dabei helfen, sexuelle Funktionen und Funktionsstörungen besser zu verstehen.
Die sexuelle Funktion bedarf einer feinen Abstimmung des autonomen Nervensystems. Hier greifen die Gegenspieler Sympathikus (Stresssystem) und Parasympathikus (Entspannungssystem) ineinander: Sexuelle Stimulation aktiviert zunächst den Parasympathikus, da insbesondere der dorsale Vagus die Geschlechtsteile enerviert. Das führt zur verstärkten Durchblutung der Genitalien und damit zum Anschwellen der Geschlechtsorgane sowie zur Lubrikation. Gleichzeitig aktivieren die sexuellen Reize aber auch den Sympathikus, was beispielsweise eine Erhöhung der Atemfrequenz und des Blutflusses nach sich zieht und die Ausschüttung von Noradrenalin und Testosteron bewirkt. Mit steigender Erregung kommt es zusätzlich zu einem Anstieg von Oxytocin und Östrogen (Biedermann, 2018).
Während der sexuellen Aktivität verändert sich auch die Gehirnaktivität: So werden je nach visueller oder genitaler Stimulation unterschiedliche Hirnareale aktiviert. Mit steigender Erregung kommt es, kurz gesagt, zu einer nachlassenden Aktivität der Amygdala und des Präfrontalkortex – also des Alarmsystems und des bewussten Verstandes; beim Orgasmus werden beide Bereiche sogar weitgehend deaktiviert (Biedermann, 2018) und ältere Hirnteile übernehmen die Führung, d. h. wir »lassen uns fallen«.
Um sowohl die Erregung als auch den Genuss zu steigern, ist die Bewegung des Körpers hilfreich: Bestimmte Muskeln arbeiten, während ihre Gegenspieler sich entspannen (Schiftan, 2019). Der Körper ist also im Mobilisierungsmodus und im Entspannungsmodus gleichzeitig. Das ist wichtig, denn für einen Anstieg von Genuss und Erregung braucht es das Zusammenspiel der beiden Nervensysteme: Nimmt die sympathische Aktivierung dabei überhand, so wird der Mensch leicht ablenkbar und seine Gefühle und Gedanken färben sich negativ. Übernimmt der Relaxmodus die Führung, ist die Aktivität zwar wohltuend und entspannend, die Erregung reicht aber nicht für einen Orgasmus.
4.3 Frühe Prägungen und Auswirkungen auf das Beziehungsverhalten
Aus der Säuglingsforschung wissen wir, dass das Gehirn seine neuronale Struktur über Spiegelprozesse in der frühen Kommunikation mit den Eltern bildet. Für die Bedürfnisregulation des Säuglings braucht es die Responsivität der Eltern und deren Fähigkeit, die Bedürfnisse des Kindes zu versorgen (Schore & Schore, 2008). Werden beispielsweise kindliche Bedürfnisse aufgrund einer depressiven Bezugsperson nicht gestillt, so reagiert der Säugling zunächst mit Regulationsversuchen und schließlich mit Rückzug. Die entstandenen Gefühle wie Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Verlassenheit verursachen Bindungsverletzungen und werden im limbischen System wie körperlicher