Generation Lahmsteiger. Justin Kraft

Generation Lahmsteiger - Justin Kraft


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als Querdenker – ein Typ mit Ecken und Kanten. Bayern und Sammer sollten aber erst später zusammenfinden. Neuer Trainer wurde zunächst Louis van Gaal.

      Für den FC Bayern bedeutete diese Entscheidung eine Zäsur. Sie läutete eine Ära ein, die den im europäischen Niemandsland gestrandeten Klub innerhalb weniger Jahre wieder an Spitze des Kontinents führen sollte. Denn so wie sich der Weg in die europäische Bedeutungslosigkeit schon lange vor der Nacht in Barcelona abgezeichnet hatte, so fiel auch das Triple im Jahr 2013 nicht vom Himmel.

      Der FC Bayern wurde nicht zufällig Champions-League-Sieger 2013: Es war das Produkt einer Entwicklung. Die Bayern gingen einen langen Weg. Das Ziel war längst klar definiert: die Champions League zu gewinnen. Doch seit 2009 gab es nun auch eine Wegbeschreibung – einen Plan, der dem Klub helfen sollte, an die alten Tage anzuknüpfen.

      Aus heutiger Perspektive darf infrage gestellt werden, wie langfristig dieser Plan wirklich durchdacht war. Doch selbst wenn auf dem Weg auch Zufälle eine große Rolle spielten, so wurden doch auch viele richtige und weitsichtige Entscheidungen getroffen.

      Dieses Buch soll diese Geschichte nicht nur erzählen. Es soll auch analysieren und erklären, was der Klub zwischen den Jahren 2009 und 2016 richtig gemacht hat. Dabei beginnen wir in der Nacht von Barcelona: weil da der Grundstein für das gelegt wurde, wovon der FC Bayern München bis heute profitiert. Würde man diese Geschichte dagegen vom Triple ausgehend erzählen, blieben viele Aspekte unberücksichtigt. Denn bis es so weit war, hatte erst noch eine ganze Generation einen beachtlichen Weg zurückzulegen.

      Zwei Spieler sind es vor allem, die diese goldene Ära des FC Bayern München so maßgeblich prägten, dass ich mich dazu entschieden habe, ihr den Namen »Generation Lahmsteiger« zu geben. Beide stiegen seit 2009 nach und nach zu Führungsspielern auf, und auch wenn Bastian Schweinsteiger im Jahr 2015 den Klub verließ und Philipp Lahm seine Karriere im Jahr 2017 beendete, so wird diese goldene Ära doch immer mit ihren Namen verbunden bleiben. Denn die Generation Lahmsteiger hat Großes hinterlassen. Heute können die Bayern darauf zurückblicken und Schlüsse für die Zukunft ziehen, um etwas Neues zu beginnen. So wie sie es damals im Jahr 2009 getan haben: In dem Jahr, in dem die tiefe Enttäuschung über eine der schlimmsten Niederlagen in der Champions League den Ausschlag für ein Umdenken gab. Ein Umdenken, das zunächst einmal zu Louis van Gaal führte: jenem Trainer, der die große Revolution einleiten sollte …

      Kapitel 1: 2009–2012

      Louis van Gaals Revolution

      Um zu verstehen, was genau an van Gaals Ideen in München revolutionär war, muss man ein wenig zurückblicken. Geht es um die prägendsten Trainerfiguren zwischen den Jahren 2000 und 2010, so führt kein Weg an Carlo Ancelotti, Vicente del Bosque, Sir Alex Ferguson, Pep Guardiola, Ottmar Hitzfeld, José Mourinho und vielleicht noch Arsène Wenger vorbei. Sie alle haben den Fußball auf ihre Art und Weise geprägt. Louis van Gaal dagegen wird häufig übersehen. Dabei gehört er zu den Persönlichkeiten, die den Fußball in Europa fast kontinuierlich mitgestaltet und verändert haben.

      Schon lange vor seiner Karriere an der Seitenlinie zeichnete sich ab, dass er dort einmal stehen würde. Er war zwar auch selbst auf dem Platz als Profi aktiv, doch der große Durchbruch gelang ihm hier nie. Bei Ajax Amsterdam kam er nicht über eine Reservistenrolle hinaus, und so ging es über Antwerpen, Telstar und Sparta Rotterdam zum AZ Alkmaar. Nebenher unterrichtete er als Sportlehrer an einer Berufsschule.

      »Von 8.00 Uhr früh bis 2.00 Uhr nachmittags unterrichtete ich, und um 15.30 Uhr begann bei Sparta das Training«, erzählte der Niederländer der taz.

      Van Gaal hatte es hier mit Kindern unterschiedlicher Schichten zu tun. Noch heute spricht er davon, dass ihn das für sein späteres Berufsleben geprägt hat. Ein Stück weit erklärt sich daraus auch, warum van Gaal in seiner gesamten Laufbahn am liebsten mit jungen Spielern arbeitete.

      1988, nach elf Jahren, gab er seinen Nebenjob auf, weil ihn ein Ruf aus Amsterdam lockte. Sein Ex-Klub bot ihm eine Co-Trainer-Stelle im Jugendbereich an, der er nicht widerstehen konnte. 1991 stieg er zum Cheftrainer der ersten Mannschaft auf. Schnell wurde deutlich, dass van Gaal seinen Job anders als die meisten seiner Kollegen interpretiert. Er leitete nicht nur taktische und personelle Veränderungen bei Ajax ein, sondern arbeitete auch an strukturellen und organisatorischen Dingen, die den ganzen Klub betrafen. In seiner gesamten Karriere brauchte er die größtmögliche Kontrolle über alle Bereiche, um seine Ideen umzusetzen. Das führte immer mal wieder zu Konflikten – auch später bei den Bayern. Aber van Gaal war damit auch sehr erfolgreich. Mit Ajax gewann er drei Meisterschaften, dreimal den niederländischen Supercup und 1993 den niederländischen Pokal. Auf europäischer Ebene gewann er 1992 den UEFA-Pokal, 1995 war er mit Ajax Amsterdam endgültig auf dem europäischen Fußballthron. Mit dem Champions-League-Titel setzte sich van Gaal ein Denkmal in Amsterdam. Komplettiert wird diese einzigartige Zeit durch den UEFA Super Cup und den Gewinn des Weltpokals. Diese Aufzählung ist das Ergebnis einer taktisch-strategischen Meisterleistung, die erklärt, wofür der Niederländer sein Leben lang stand: »Dominant zu spielen bedeutet, mehr Torchancen zu kreieren als die gegnerische Mannschaft. (…) Ich verbinde den Begriff ›dominant‹ mit offensivem Fußball und Pressing in der Hälfte des Gegners.«

      So wird der Trainer auf Spielverlagerung.de zitiert. Diese Vorgaben setzte seine Ajax-Mannschaft nahezu perfekt um. Ein Orkan von Kurzpassstafetten und Doppelpässen fegte über Europa hinweg.

      Klar hatte Van Gaal auch einen herausragenden Kader zur Verfügung – aber was er damit anstellte, glich einer Revolution.

      Das flexible Mittelfeld war der Kern dieser Mannschaft. Es bildete eine Raute und bewegte sich zwischen den zwei Dreierketten sehr variabel. Überall war Ajax in der Lage, Überzahlsituationen herzustellen und sich spielerisch Räume zu erarbeiten. Van Gaal war ihr Lehrer, ihr Meister. So paradiesische Arbeitsbedingungen wie hier würde er nirgendwo anders mehr finden: eine Konstellation aus jungen Spielern, die ihm bedingungslos folgten, und einem Klub, der ihm die Freiheit gab, auch weit über die Trainertätigkeit hinaus Entscheidungen zu beeinflussen.

      Louis van Gaal war damals einer der wenigen Trainer, die früh die Zeichen der Zeit erkannten; die verstanden hatten, dass ein Fußball-Klub der Moderne anders funktionieren würde. Die Komplexität der Vereine stieg bereits damals an, und die Bereiche, in denen strukturiert gearbeitet werden musste, nahmen zu. Van Gaal verpasste Ajax wieder eine Identität. Er gab einen Weg vor, den der ganze Klub erfolgreich ging.

      In den folgenden Jahren war er nicht mehr ganz so erfolgreich, konnte beim FC Barcelona aber immerhin entscheidenden Einfluss auf Spieler wie Xavi oder Puyol nehmen und die herausragende Arbeit seines Landsmannes Cruyff weiterführen. Damit wurde er zu einem Wegbereiter jener Mannschaft, die 2009 den FC Bayern in der Champions League deklassierte.

      »Cruyff baute die Kathedrale. Wir halten sie nur instand«, sagte Guardiola einst. In dieses »wir« schloss er auch van Gaal mit ein, auch wenn der das niemals zugeben würde. Zweifellos steht van Gaal aber in der großartigen Entwicklungslinie derjenigen, die Barcelona zu einer der beeindruckendsten Mannschaften der Fußballgeschichte machten.

      Auch beim KNVB (dem niederländischen Fußballverband) konnte van Gaal später einige wichtige Veränderungen durchsetzen: zum Beispiel eine übergeordnete Strategie im Jugendbereich, die infrastrukturelle und taktische Elemente beinhaltete. 2005 übernahm er dann den AZ Alkmaar. Dort bewies er eindrucksvoll, dass auch vermeintlich kleinere Mannschaften vom Ballbesitzspiel profitieren können. Zwar musste er hier den Fokus zwangsweise auch auf die Arbeit gegen den Ball legen, doch bei Alkmaar implementierte er ein spielstarkes Mittelfeld rund um den tiefen Strategen Schaars.

      Zunächst verpasste van Gaal zweimal knapp die Meisterschaft. Im dritten Jahr lief es plötzlich nicht mehr so gut, und er sah sich zum Rücktritt gezwungen. Dass ihn die Spieler letztendlich umstimmten, war nicht nur ein Wendepunkt für den Klub, sondern


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