Generation Lahmsteiger. Justin Kraft
ausführen und erzielte in der zweiten Halbzeit ein wunderschönes Freistoßtor. Somit hatte sich der Ärger doch noch gelohnt …
Die Punkte, die der FC Bayern zu Beginn der Saison durch die Umstellung liegen ließ, sollten schnell wieder eingefahren werden. Denn van Gaals Arbeit machte sich relativ schnell bezahlt. Leverkusen wurde zwar Herbstmeister, hatte aber nur zwei Punkte Vorsprung auf die Bayern. In der Rückrunde verlor van Gaals Mannschaft in der Bundesliga nur noch zwei Spiele. Gerade in den wichtigen Direktvergleichen mit Schalke und Leverkusen konnte die Mannschaft vier Punkte holen. Die Spieler hatten sich an van Gaal, seine Ideen und an die Vorgaben gewöhnt.
Doch es gab auch wichtige emotionale Situationen. Beispielsweise in der Gruppenphase der Champions League. Dort hatten die Bayern nach fünf Spieltagen nur sieben Punkte auf dem Konto. Bordeaux zog mit 13 Punkten davon, Juventus hatte acht Zähler. Für Louis van Gaal bedeutete das quasi ein vorgezogenes Finale. Ausgerechnet in Turin. Ausgerechnet gegen Juve: Die Italiener hatten seiner Mannschaft schon im Hinspiel das Leben zur Hölle gemacht.
Hätte Bayern dieses Spiel verloren, wäre vielleicht die gesamte Saison den Bach runtergegangen und van Gaal entlassen worden. In jedem Fall wäre dann die weitere Zukunft ungewiss gewesen. Doch die Bayern haben nicht verloren. Sie zeigten im Gegenteil eine ihrer beeindruckendsten Saisonleistungen. Trotz eines frühen Rückstands gewannen sie in Turin mit 4:1. Ein surreales Ergebnis: Es hätte auch anders laufen können. Hinten stand die Mannschaft gewiss nicht immer sehr gut. Aber der Wille, die Einstellung und die Bereitschaft, van Gaals taktische Vorgaben umzusetzen, brachten letztendlich den entscheidenden Vorteil.
Es lief nicht alles perfekt, doch ab dieser Partie hatte man das Gefühl, dass alles für die Bayern lief. Van Gaal hatte die Spieler endgültig auf seine Seite gebracht, die taktischen Grundlagen waren da, Rückschläge wurden immer besser weggesteckt. Gerade das ständige Wiederaufstehen nach Misserfolgen wurde eine große Qualität.
Im Achtelfinale der Champions League kassierten die Bayern nach einem 2:1-Erfolg im Hinspiel in Florenz drei Gegentore. Lediglich zwei Treffer aus der Distanz brachten ihnen das Ticket für die nächste Runde.
Dort war der FCB gegen Manchester United Außenseiter. Van Bommel wäre vor dem Hinspiel schon mit einem torlosen Unentschieden zufrieden gewesen. Fans und Klub fürchteten sich vor einer Wiederholung der Ereignisse im Vorjahr. Auch das legendäre Finale im Jahr 1999 sorgte für besondere Emotionen. Diesmal wurde aber schon im Hinspiel deutlich, dass sich dieser FC Bayern nicht verstecken musste. Gegen den Finalisten aus dem Vorjahr zeigte van Gaals Mannschaft eine engagierte Leistung. Zwar ging United durch eine Standardsituation früh in Führung, doch die Bayern waren das aktivere Team. Schon bei Ribérys verdientem Ausgleich in der 77. Minute war ganz München in Feierlaune. Ein Gefühl der Ebenbürtigkeit entstand. Erstmals seit längerer Zeit gelang es den Bayern, auf Augenhöhe mit einer großen Mannschaft zu agieren. Die Messlatte mag nicht so hoch gewesen sein wie gegen Barcelona im Jahr zuvor. Aber sie war hoch genug, um daraus Schlüsse zu ziehen. Alle Sorgen, alle Anspannung, alle Zweifel, die auch mich diesmal wieder plagten, verschwanden mit diesem einen Treffer von Ribéry. Denn die Mannschaft hatte sich diesen Ausgleich verdient. Aber es war noch nicht zu Ende. Einen speziellen Moment hatte diese Partie noch übrig.
Als sich schon alle mit dem 1:1 abfinden wollten, setzte Mario Gómez noch einmal zum Dribbling an. Im ersten Moment dachte ich nur: »Mario, was machst du da?« Er tankte sich gegen fünf Spieler durch, verlor dann den Ball. Allerdings schien sich kein Abwehrspieler der Red Devils dafür verantwortlich zu fühlen, und so übernahm Olić die Kugel, die er überlegt an van der Sar vorbeischob. Ekstase. Wie sehr hatte ich es doch vermisst, dass meine Mannschaft in der Champions League wieder eine Rolle spielen konnte!
Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die die gesamte Saison zu prägen schien. Die Mannschaft steigerte sich von Spiel zu Spiel und war zunehmend in der Lage, mit Drucksituationen umzugehen. Das zeigte sich auch im Rückspiel. Manchester drehte in der Anfangsphase auf und erzielte in wenigen Minuten drei schnelle Tore.
Plötzlich waren die Erinnerungen an das Vorjahr wieder präsent.
War das 2:1 im Hinspiel doch nur eine Illusion?
Nein. Bayern kämpfte sich zurück in die Partie. Kurz vor der Pause erzielte Olić das 3:1, und plötzlich war es nur noch ein Treffer, der zum großen Glück fehlte. Ein Treffer, der nicht nur »fallen« sollte, sondern der wie ein Gemälde entstand: Ecke Ribéry, Volley Robben, Traumtor. Erneute Ekstase.
»Ein unfassbares Tor«, brüllte Wolff-Christoph Fuss in die Mikrofone von Sat1. Bayern schlug Juventus Turin, Bayern schlug Florenz, Bayern schlug nun auch Manchester United, und im Halbfinale war Lyon sogar noch die kleinste Hürde. Dass es letztendlich im Finale nicht zur absoluten Spitze reichte, war trotz aller Lobeshymnen irgendwie absehbar. José Mourinhos Inter Mailand war einfach zu abgebrüht, zu erfahren – und zu gut besetzt. Der gesperrte Franck Ribéry fehlte den Bayern an allen Ecken und Enden. Trotzdem boten die Münchner in diesem Finale keine schlechte Leistung. Es reichte nur einfach noch nicht. Man stand erst am Anfang einer Ära, während Inter Mailand bereits auf dem Zenit war. Das sind Momente, in denen man auch als Fan einfach den Hut vor einer großartigen Mannschaft ziehen und Anerkennung zeigen muss.
Schon am Tag darauf präsentierte sich das gesamte Team auf dem Rathausbalkon am Marienplatz. Es war bereits das zweite Mal nach der Meisterschaftsfeier einige Wochen zuvor. Von Enttäuschung konnte keine Rede sein. Als ich rund ein Jahr zuvor fassungslos vor dem Fernseher saß und Barcelona dabei zusah, wie sie den FC Bayern deklassierten, hätte ich mir in den nächsten fünf Jahren kein einziges Champions-League-Finale mehr erträumen können. Jetzt aber faszinierte die Mannschaft ihre Fans mit attraktivem, strukturiertem Ballbesitzfußball. Die von van Gaal geforderten Umschaltmomente wurden immer besser antizipiert und genutzt. Es entstand eine Mannschaft, die einen Fußball spielte, den es so beim FC Bayern noch nicht zu sehen gab. Louis van Gaal schaffte eine Revolution in München. Er setzte eine Idee davon um, wie moderner Fußball funktioniert. Sein System stand über den Spielern, die er perfekt integrierte.
Es ist nicht so, dass van Gaals Vorgänger keine Ideen mitgebracht hätten. Aber sie passten entweder nicht zur Komplexität des Fußballs oder nicht zum Kader. Der FC Bayern verstand erst um 2008 herum, dass sich die Verhältnisse grundlegend verändert hatten. Mit Klinsmann scheiterte ein Abenteuer, das den gesamten Verein umkrempeln sollte. Er hatte zwar keinen Erfolg, aber die richtige Idee: Der FC Bayern musste sich modernisieren, und van Gaal ging es dann richtig an. Er hatte die nötigen Erfahrungen, um einen derart großen Verein auf allen Ebenen zu modifizieren. Natürlich halfen ihm dabei auch einige Zufälle. Es wäre müßig, darüber zu diskutieren, ob eine weniger erfolgreiche erste Saison zu einem erneuten Umdenken geführt hätte. Denn sie war eben so erfolgreich, wie sie war: Louis van Gaal führte den FC Bayern nach 2001 wieder in ein Champions-League-Finale und schaffte das Double. Wie sehr die Bayern den Erfolg genossen, zeigte sich nicht zuletzt an den vielen Partybildern. Van Gaal avancierte zum »Feierbiest«, und rund 20 000 Bayern-Fans feierten am Marienplatz mit ihm.
In der Nacht von Barcelona wären solche Bilder undenkbar gewesen. Nun stand der FC Bayern wieder in der Sonne – und doch auch erst am Anfang eines Weges, auf dem noch einige Hürden zu bewältigen waren …
Sportliche Stagnation?
Trotz aller Erfolge, und obwohl sich die Mannschaft unter van Gaal aus taktisch-strategischer Perspektive immer weiterentwickelte, blieben im Jahr darauf die entsprechenden Ergebnisse aus. Hinzu kamen menschliche Probleme. Denn Louis van Gaal, das wurde bereits erwähnt, will sich für niemanden verbiegen. Wenn er eine Entscheidung trifft, dann müssen die Argumente der Gegenseite schon sehr gut sein, um ihn davon abzubringen. Das betont er noch heute. In der Öffentlichkeit gilt der Niederländer deshalb als stur und dickköpfig. Er selbst bezeichnet sich als konsequent und anpassungsfähig. Die Wahrheit liegt vermutlich, wie so oft, irgendwo in der Mitte. Allein die Vielzahl an Experten, die van Gaal nach München mitbrachte, um seine Arbeit zu unterstützen, zeigt, dass er sicher nicht beratungsresistent ist. Solange die Diskussion auf Augenhöhe stattfindet und ihn die Argumente der anderen überzeugen, lässt er sich gerne mal umstimmen. Aber gerade mit Uli Hoeneß hatte er seine Probleme. Später