Generation Lahmsteiger. Justin Kraft

Generation Lahmsteiger - Justin Kraft


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2008/09 wurde der AZ Alkmaar überraschend niederländischer Meister. Das war eine historische Leistung – und zugleich das Ergebnis höchster Souveränität am Spielfeldrand: Van Gaal, häufig als statischer Ballbesitzfanatiker verpönt, setzte hier ganz auf Flexibilität. Die Umschaltmomente spielten eine zentrale Rolle. Seiner Theorie zufolge soll eine Mannschaft in längeren Ballbesitzphasen und in Phasen ohne Ball stets organisiert und sortiert sein (siehe Abb. 1). Gerade die Übergangsphasen, in denen Unordnung herrschte, waren deshalb von Bedeutung. Van Gaals Alkmaar war eine moderne Version seiner Ajax-Mannschaft in den Neunzigerjahren. Nur mit geringerer individueller Qualität und weniger Ballbesitz. Aber mit ebenso großer Dominanz: Die Meisterschaft gewannen sie mit sensationellen 80 Punkten – 11 Zähler vor Twente, 12 vor Ajax.

      Diese Geschichte zeigt, warum der FC Bayern sich 2009 für van Gaal entschieden hat – eine Entscheidung, die die nächsten zehn Jahre prägen sollte. Die Münchner wollten einen Querdenker, einen Revolutionär, einen Menschen, der ihnen aufzeigt, was in der Vergangenheit falsch lief. Sie wollten aber auch einen Trainer, der die Spieler fordert und ihnen gegenüber Dominanz ausstrahlt.

      Dafür war Louis van Gaal der richtige Mann. Schon in seiner ersten Pressekonferenz sagte er den heute legendären Satz: »Mia san mia, wir sind wir – und ich bin ich.«

      In seiner gesamten Karriere hatte sich van Gaal bis dahin für niemanden verbogen, und das hatte er auch beim einst so großen FC Bayern nicht vor. Er war gekommen, um zu verändern und alte Strukturen aufzubrechen. Was der Vorstand von seinen jeweiligen Entscheidungen hielt, war ihm grundsätzlich egal. Die von ihm geforderte Kontrolle bekam er in München zwar nie ganz, aber es reichte aus, um Dinge entscheidend zu verändern.

      Van Gaal engagierte einen Experten für die elektronische Datenvermittlung, er stellte einen Psychologen ein und ließ seine Spieler regelmäßig Fragebögen ausfüllen. Ohnehin stand die Kommunikation mit den Spielern über allem. Van Gaal und sein IT-Experte richteten ein E-Mail-System ein, mit dessen Hilfe sich die Spieler regelmäßig auf persönliche Gespräche mit dem Trainer vorbereiten konnten. Darüber hinaus implementierte er nicht nur Kameras am Trainingsplatz, sondern auch Analysetools, die ihm dabei helfen sollten, seine Philosophie schnellstmöglich umzusetzen.

      In der Trainingsmethodik setzte van Gaal auf sehr viel Arbeit mit dem Ball. Komplexe, teilweise abstrakte, aber auch einfache Übungen sollten Spielsituationen simulieren, in denen die Spieler unter Druck Entscheidungen treffen mussten. Passschärfe und Passgenauigkeit sind für seine Philosophie essenziell. Auch die Einteilung des Spielfelds in Zonen musste seine Mannschaft erst erlernen. Anders als in Spanien hatte man in Deutschland noch nicht viel vom Positionsspiel gehört. Auch deshalb funktionierte die Umsetzung seiner Ideen nicht sofort. Für den FC Bayern war das alles neu. Sie waren vorher Ottmar Hitzfeld und Jürgen Klinsmann gewohnt, die ihren Teams gerade in der Positionierung mit dem Ball viele Freiheiten ließen. Das Konzept der Bayern war darauf ausgelegt, Ribéry freizuspielen. Mit Arjen Robben kam zu Beginn der Saison 2009/2010 aber noch ein weiterer Niederländer, der diesen Fokus etwas lösen sollte. Van Gaal wusste um die Klasse seiner beiden Flügelspieler, und er versuchte deshalb, sein Positionsspiel auf sie zu fokussieren.

       Was ist ein Positionsspiel? Positionsspiel bedeutet, dass das Spielfeld optimal genutzt wird, indem die verschiedenen Positionen regelmäßig besetzt werden – egal von welchem Spieler. Dafür teilt van Gaal das Spielfeld in 18 Zonen ein, in denen sich seine Spieler bewegen sollen. Der Ball wird solange horizontal gespielt, bis sich eine Lücke ergibt, die durch einen Vertikalpass erreicht werden kann. Mit der Zeit versucht die Mannschaft schrittweise nach vorne zu kommen, um den Druck zu erhöhen.

      Um sie perfekt einzubinden, zog van Gaal auf Hermann Gerlands Empfehlung ein weiteres Ass aus dem Ärmel: Thomas Müller.

      Wir alle erinnern uns: »Müller spielt immer!« Die Begründung dafür war, dass Müller schon früh ein herausragendes Gespür für den Raum zeigte. Er war das perfekte Bindeglied einer offensiven Dreierreihe hinter dem Stürmer. Mit seinen Läufen überlud er regelmäßig die Halbräume, also den Bereich zwischen Zentrum und Flügel, und unterstützte damit die beiden Tempodribbler. Doch er bewegte sich auch in den richtigen Momenten von seinen Mitspielern weg, um Gegenspieler wegzuziehen und auf diese Weise Räume für Robben oder Ribéry zu öffnen.

      Müller war schon damals ein Phänomen und der vielleicht wichtigste Spieler der Offensive. Weil er derjenige war, der die einzelnen Mannschaftsteile verbinden konnte. Damals haben das viele noch gar nicht so wahrgenommen. Den wirklichen Hype gab es um »Robbéry«. Vielleicht war das auch besser so für den jungen Müller. Gemeinsam mit Robben löste er nun ein Problem: Ribéry hatte es inzwischen deutlich schwerer, weil der Fokus der gegnerischen Defensive stets auf ihm lag und es sonst kaum kreative Ansätze gab. Mit dem Blitztransfer von Arjen Robben und der Hinzunahme Thomas Müllers sollte sich das ändern.

      Bereits bei Robbens Debüt gegen den VfL Wolfsburg zeigte sich das. In der 68. Minute schickte Ribéry den Niederländer mit einem Pass in die Spitze. Robben verwandelte aus spitzem Winkel zum 2:0. Nur wenige Minuten später war es wieder das Duo, das die Arena zum Kochen brachte. Diesmal schickte Robben den Franzosen, und Ribéry legte nach kurzem Dribbling wieder quer für Robben auf: 3:0. Das Besondere an diesen Szenen war, dass sie nicht aus längeren Ballbesitzphasen entstanden, sondern durch das Ausnutzen von Umschaltmomenten. Und zwar in Perfektion! Ein Paradebeispiel dafür, dass van Gaal keinesfalls für stumpfen Ballbesitz und Quergeschiebe stand, sondern auch auf solche Situationen viel Wert legte. Es war zudem die Geburtsstunde des besten Flügelduos seiner Zeit: »Robbéry«. Zwei prägende Spieler, die auch in den kommenden Kapiteln zu den Protagonisten zählen werden.

      Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis die Bayern ihr neues, auf Dominanz ausgelegtes System umsetzen konnten. Van Gaal integrierte nicht nur junge Spieler wie Thomas Müller und Holger Badstuber, er setzte auch plötzlich Philipp Lahm auf der rechten Außenverteidigerposition ein und schob Bastian Schweinsteiger vom Flügel in die Zentrale: alles Entscheidungen, die aus heutiger Perspektive selbstverständlich klingen, damals aber viel Mut erforderten.

      Gerade die Schaltzentrale mit dem kreativen Schweinsteiger und dem dynamischen Abräumer Mark van Bommel funktionierte sehr gut. Badstuber war auf der linken Seite kein klassisch offensiver Außenverteidiger; er tat aber das Nötigste, um Ribéry vorne zu unterstützen. Außerdem war sein Passspiel so gut, dass er von dort aus das Spiel eröffnen konnte. Gegen den Ball sorgte er für Stabilität.

      Auf der anderen Seite wuchs unterdessen mit Philipp Lahm und Arjen Robben ein Traum-Duo heran. Lahm hinterlief Robben immer und immer wieder, sodass es zu einem »Trademark-Move« wurde. Er war unermüdlich; egal, wieviel Kraft es kostete.

      Und dann war da dieser Müller, der irgendwie überall war: kein klassischer Zehner, aber ein Segen für die komplette Mannschaft.

      Van Gaal hatte für jeden seiner Spieler eine passende Rolle gefunden, auch wenn der Erfolg noch auf sich warten ließ. Die Art und Weise, wie sich die Mannschaft bewegte, war gänzlich neu: viel harmonischer als früher, viel strukturierter. Die Spieler bildeten fast auf dem ganzen Platz Dreiecke. Nie in Perfektion, aber immer so, dass jeder Spieler häufig zwei oder gar drei Anspielstationen hatte. Van Gaal hatte nicht auf jeder Position den besten Spielertypen für seine Philosophie zur Verfügung, aber er wusste mit dem Vorhandenen zu arbeiten. Er gab ihnen Lauf- und Passwege an die Hand, arbeitete individuell und im Team hart daran, diese umzusetzen.

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      Abb. 2 Louis van Gaals System: Müller als freies Element, Schweinsteiger als vorstoßender Stratege, die Außenverteidiger asymmetrisch.

      Gerade die Fehler, die die Mannschaft am Anfang der Saison noch machte, waren für die Entwicklung wichtig. Van Gaal verstand es, den Druck von der Mannschaft zu nehmen: medial aber auch intern. Damit schützte er Spieler wie Badstuber oder Müller, die vielleicht mental noch nicht für diesen hohen Druck bereit waren. Louis van Gaal ging aber auch hart mit seinen Spielern ins Gericht, wenn er es für nötig hielt. So gab es für Arjen Robben in Bremen mal Ärger in der Halbzeitpause,


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