Generation Lahmsteiger. Justin Kraft

Generation Lahmsteiger - Justin Kraft


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vor Spannung. Schweinsteiger lief an. Schweinsteiger traf. Das Stadion schwieg. Lediglich ein paar tausend angereiste Fans in Rot feierten.

      Ihr Held, Bastian Schweinsteiger, der Fußballgott, verwirklichte den ganz großen Traum. Und auch das zweite Halbfinale machte den Bayern Hoffnung. Barcelona unterlag Chelsea, und so war der Finalgegner nicht Guardiolas übermächtig wirkende Mannschaft, sondern ein Team, das eine ähnlich durchwachsene Saison hinter sich hatte wie die Bayern selbst. Das roch sogar nach einer leichten Favoritenrolle für den FCB. Mit nur einem Spiel hatte Heynckes die Chance, sich unsterblich zu machen und ein Versprechen einzulösen, das seit dem Jahr 1991 offen war.

      Die Redewendung »es sollte nicht sein« gibt nicht einmal im Ansatz wieder, was dann im Saisonfinale passierte. Ja, die durchwachsenen Leistungen im Frühjahr und die beiden verlorenen Meisterschaften waren nicht nur herbe Rückschläge für die Bayern gewesen, sondern auch eine Machtdemonstration des BVB. Von einem Wechsel an der Spitze des deutschen Fußballs war die Rede. Dortmund gewann nicht nur die direkten Duelle mit dem Rekordmeister, sondern auch die Titel. Psychologisch war das Pokalfinale mit dem Rivalen für die Münchner deshalb aus mehreren Perspektiven eine schwierige Angelegenheit. Da waren nicht nur die Zweifel, ob der BVB überhaupt zu schlagen sei, sondern auch die angesprochenen Einzelschicksale. Robbens verschossener Elfmeter im Bundesliga-Endspurt und andere unglückliche Auftritte hatten Wirkung gezeigt. Der Niederländer war nicht nur einer der wichtigsten Offensivspieler seines Teams, sondern auch ein Antreiber und Führungsspieler mit unfassbarem Ehrgeiz. Trotzdem hatte man das Gefühl, dass ihm und dem FC Bayern das nötige Selbstverständnis fehlte. Nicht zuletzt hatten die Spieler natürlich vor allem das Champions-League-Finale gegen Chelsea im Kopf, das nur eine Woche später stattfand.

      Dortmund ritt dagegen gerade auf einer Euphoriewelle, die kaum aufzuhalten schien. Das zeigte sich auch im Finale des DFB-Pokals. Nach dem Spiel wurde Philipp Lahm dafür belächelt, dass er sein Team lange Zeit als dominante Mannschaft wahrgenommen hatte. Ganz unrecht hatte er aber nicht. Die Bayern kamen gut rein, verkrafteten sogar einen frühen Rückstand und kontrollierten das Geschehen über 40 Minuten hinweg. Dass ausgerechnet Arjen Robben den zwischenzeitlichen Ausgleich per Elfmeter erzielte, schien zur Aufarbeitung der letzten Monate dazuzugehören. Doch dann passierte kurz vor der Halbzeit etwas, das den Bayern förmlich das Genick brach. Boateng verursachte erst einen Elfmeter, den Hummels zur Führung einschoss, und ließ wenig später Lewandowski ziehen. Der Pole gab der Heynckes-Elf mit dem 3:1 einen frühen Knockout.

      Diese komplett verrückte Partie lässt sich kaum anhand eines Aspektes erklären. Aus taktischer Sicht hatte Heynckes nicht viel falsch gemacht. Im Mittelfeld setzte er mit Schweinsteiger und Kroos auf zwei ballsichere Spieler gegen Dortmunds starkes Pressing (siehe Abb. 4). Gerade in der ersten Halbzeit sorgte das für eine gute Spielkontrolle. Beiden war es durch Gustavo als Absicherung möglich, auch mal in die Offensive zu stoßen. Schweinsteiger liebte die Situationen, in denen er aus der Tiefe das offensive Zentrum überladen konnte. Mit Robben und Ribéry entschied sich der Trainer zudem für Tempo und gegen Thomas Müller. Erst sah es so aus, als würden die Bayern von der Flexibilität ihrer Offensive profitieren. Selten hatten sie sich in so kurzer Zeit so viele Chancen gegen Klopps Dortmunder Elf herausgespielt. Allerdings war das Pokalfinale ein Äquivalent zur gesamten Bayern-Saison. Es fehlte dem Team an Sicherheit, Selbstverständnis und Konstanz. Den Doppelschlag vor der Halbzeit konnten sie nicht mehr verkraften. Dortmund nutzte im Gegenpressing die Unsicherheit und ganz besonders die fehlende Kompaktheit aus. Dabei entpuppte sich die Mischung aus risikoreichem Ballbesitzspiel und fehlendem Nachrücken der Mannschaft bei Ballverlusten als unvorteilhaft. Das Mittelfeldpressing der Bayern war wirkungslos gegen Klopps Umschaltfußball.

       Basics des Pressings: Als Pressing wird grundsätzlich das Anlaufen einer Mannschaft ohne Ball bezeichnet. Dabei gibt es drei Grundformen. Das Abwehrpressing ist auch als »Mauerfußball« bekannt. Die Mannschaft steht sehr tief und greift den Gegner spät an. Im Mittelfeldpressing steht die Mannschaft schon deutlich höher. Meist wird dem Gegner der Spielaufbau gewährt, aber sobald der Ball die Mittellinie überschreitet, erfolgt der Zugriff. Das Angriffspressing ist die offensivste Form der Arbeit gegen den Ball. Die Spieler versuchen dabei, den Gegner schon im Aufbauspiel zu stören, und schieben bis weit in die gegnerische Hälfte. Als Gegenpressing wird die Reaktion einer Mannschaft nach Ballverlusten bezeichnet, wenn sie versucht, den Gegner direkt wieder zuzustellen und den Ball innerhalb von wenigen Sekunden zurückzugewinnen.

      Die Offensive wurde nicht ausreichend unterstützt, um einfache Ballverluste zu minimieren, und so entstanden Räume, die nicht mehr verteidigt werden konnten. Kein Team offenbarte diese Schwächen im bayerischen Spiel so gnadenlos wie Klopps Borussia Dortmund. Die 5:2-Niederlage war am Ende niederschmetternd und verdient, wenn auch in der Höhe etwas zu deutlich. Sie markierte eine Zäsur auf nationaler Ebene, doch die Bayern hatten nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen versuchten sie sich an einer schnellen Analyse. Denn da war ja noch ein weiteres Finale zu spielen.

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      Es war ein Finale, neben dem das DFB-Pokalfinale aussah wie Lahm neben van Buyten. Eines, das für alle Bayern-Fans ein emotionaler Höhe- und Tiefpunkt zugleich war – gerade für einen Fan, der wie ich aus der Umgebung Berlins kommt und dem sich in der Kindheit nicht viele Gelegenheiten boten, die Atmosphäre eines derart großen Spiels vor Ort aufzusaugen. Doch diesmal hatte ich diese Chance. Schon nach dem Schweinsteiger-Elfmeter in Madrid machte ich Pläne. Eine Karte für die Allianz Arena wäre ebenso teuer wie unrealistisch für mich gewesen, aber ich wollte um jeden Preis nach München. Zum Glück stand fest, dass im Olympiastadion ein offizielles Public Viewing stattfinden würde. Dafür sicherte ich mir direkt zwei Karten und verabredete mich mit einem Bayern-Fan und guten Freund aus Bremen zum 19. Mai 2012 in München. Ein Berliner und ein Bremer fahren nach München zu ihrem Lieblingsklub – fast schon absurd. Doch das war mir egal. Die Vorfreude aller Bayern-Fans war enorm. Die Zeit bis zum Finale schien überhaupt nicht zu vergehen. In der Nacht davor konnte ich kaum schlafen, doch als ich am frühen Morgen im ICE von Berlin nach München saß, war von Müdigkeit wenig zu spüren. Ich war mir sicher, dass die Bayern an diesem Tag Geschichte schreiben würden.

      Gegen Mittag kam ich am Hauptbahnhof in München an. Ich spürte vom ersten Moment an, welche Bedeutung dieses eine Spiel hatte. Das Wetter war herrlich, die Menschen zeigten sich gut gelaunt, die Biergärten und öffentlichen Plätze waren überfüllt. Auf dem Marienplatz skandierten mehrere Hundert Bayern-Fans: »Drogba, Drogba, who the fuck is Drogba?«

      Für mich persönlich war das ein bis heute einmaliges Erlebnis. Nie wieder habe ich eine so elektrisierende und packende Stimmung in einer Stadt wahrgenommen. Noch in vielen Jahren werde ich an den Moment zurückdenken, als ich das legendäre Münchner Olympiastadion betrat. Ich blickte von oben auf eine Masse aus Menschen, die sich über die Tribünen und den grünen Rasen erstreckte. Nach einigen Minuten, in denen wir diese ganze Atmosphäre einfach aufsaugten, gingen wir ebenfalls in den Innenraum und warteten auf den Anpfiff.

      Als das Spiel dann endlich losging, war die Stimmung herausragend. Vor allem deshalb, weil Chelsea so gut wie keine Chance hatte. Bayern war nicht nur dominant, sondern auch drückend. Lediglich die Chancenverwertung war schlecht. In der zweiten Halbzeit drehte sich die Stimmung etwas. Die Heynckes-Elf war zwar immer noch die klar bessere Mannschaft, doch je mehr Chancen vergeben wurden und je länger es 0:0 stand, umso nervöser wurden auch die Fans. Sie lechzten nach diesem einen Moment. Bei jedem Torschuss, bei jeder Großchance, bei jeder noch so kleinen Möglichkeit spürte ich, wie die Stimmung im Stadion kurz davor war, zu explodieren.

      Dann kam die 83. Spielminute. Toni Kroos streichelte den Ball vom linken Strafraumeck mit einer Präzision in den Fünfer, die ein normaler Mensch nicht einmal an der PlayStation nach mehreren Versuchen


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