Die Badenfahrt. David Hess
befindet man sich schon im Hui an der Spitze des Ötenbachergartens bei der Papiermühle, wo am Abend des 22. Heumonats 1350 vor der Mordnacht der besonnene Fischer Bachs den verräterischen Grafen von Toggenburg mit seinen beiden Gefährten in die Fluten versenkte und sich dann von seiner Obrigkeit die silbernen Panzerschuppen der von ihm in der Reuse gefangenen Fische zur Belohnung erbat. Nicht vergebens heisst diese Stromgegend die Schnelle. Man hat sich kaum bedacht, so ist man schon unterm langen Steg dahin und schwebt längs den schattigen Lindengängen des Schützenplatzes, an dessen Spitze der Sihlstrom sich mit seiner jugendlichen Braut, der Limmat, vermählt. Ade, Zürich!
Wer etwa dort oben im Beckenhofunter dem dunklen Kastaniengewölb eine befreundete Gestalt erblickt, winkt wohl mit weissem Tuch hinauf. Aber kaum hat man den Gegengruss aufgefangen, so ist der Beckenhof verschwunden, und wie das Leben im Zauberstrahl der Jugend eilt der Nachen weiter und weiter, vorbei an schönen Fabrikgebäuden, die rechts und links am Ufer stehen, wo Kattun gedruckt, geklopft und in der Limmat reingewaschen wird.
Der Kirchturm von Wipkingen, der aus Obstbäumen hervorragt, ist schon hinter uns. Links zeigt sich der Hardturm, früher auch Schwedenturm genannt, wo vor Zeiten eine Brücke stand, deren Zoll den Freiherren von Regensberg gehört hatte. Als am 24. Heumonat 1343 die angeschwollene Limmat den Gasthof zum Schwert und mehrere Mühlen aus Zürich wegschwemmte, zertrümmerten diese die Brücke, und die Regierung verordnete, dass von nun an zwischen dieser Stadt und Baden keine Brücke mehr solle errichtet werden. Als Herzog Albrecht im Jahr 1352 Zürich von der östlichen Seite belagerte und dort wenig ausrichtete, beschloss er, die Stadt von der Sihlseite anzugreifen, und liess zu diesem Ende wieder eine Brücke gegen den Hardturm schlagen. Die Zürcher aber zerstörten dieselbe durch Flösse, welche sie auf der Limmat hinabschwimmen liessen, und seither ist keine mehr hier gestanden. Jetzt stellt in friedlichern Zeiten eine Gesellschaft agronomischer Freunde in dieser Gegend auf zürcherischem Stadtgemeindeboden fellenbergische Experimente an und benutzt den Turm als Landsitz.
Die südliche Seite des anmutigen Hönggerbergs ist auch schon zurückgetreten. Die Kirche von Höngg winkt vergebens auf ihrem Rebhügel, wir haben jetzt nicht Zeit, dort vom Friedhof die herrliche Aussicht zu bewundern. Der Strom zieht uns vorbei an den Getreide- und Pulvermühlen, vorbei an den reizenden Wiesen, Obst- und Weingärten, an schattigen Wäldchen, an Landhäusern und malerischen Hütten unter alten Nussbäumen, von Weiden umzäunt. Da kommen wir an eine Stelle beim Landsreinwuhr, wo die Limmat sich nach links biegt. Es liegen Steine im Wasser, die Wellen schäumen und spritzen. «Ist das der Kessel?», rufen die Kinder. Aber sie haben kaum gefragt, sind wir schon vorbei. Es war nur ein Vorspiel dessen, was weiter unten auf uns wartet.
Dort strebt ein Türmchen auf klösterlichen Dächern empor.93 Hier ist das Fahr. Hier wohnen die armen blassen Nonnen und beten und singen und sticken und tändeln ihr freudloses Leben dahin. Nur an seltenen Festtagen und wenn sie etwa zur Ader gelassen haben, ist ihnen vergönnt, sich im Freien zu ergehen und am Ufer des Flusses unter ihren Fruchtbaumalleen an der Seite eines gefälligen Propstes oder Beichtvaters zu lustwandeln. Ach, es ist ihnen wohl besser, dass sie das fröhliche Leben nicht sehen, das so rasch auf tanzenden Fluten vorüberschwebt, weil sie doch nicht mit uns nach Baden fahren, sich nicht mit uns erlustigen dürfen und verurteilt sind, auf der gleichen Stelle zu harren, in stiller Betrachtung, in heimlicher Sehnsucht, in trostlosem Leiden, bis der himmlische Bräutigam kommt, sie aus dem Kerker zu erlösen.
So schnell zieht uns die Limmat fort, dass wir über dieser wehmütigen Erinnerung an die guten Nonnen versäumten, die Stelle zu bemerken, wo unten am Kloster einst das Städtchen Glanzenberg stand, das der listige und tapfere Graf Rudolf von Habsburg als Hauptmann der Zürcher im Jahr 1268 eroberte und verbrannte. Man entdeckt unter wildem Gesträuch noch Spuren von dem verschütteten Gemäuer. In dieser Gegend hat vor ungefähr 20 Jahren ein ausgewanderter französischer Bernhardinermönch, der nebst zwei anderen Geistlichen bei den Nonnen eine Zuflucht gefunden, aus Dankbarkeit und zum Zeitvertreib ganz allein und ohne Gehilfen eine lange Strasse über die Klostergüter gebaut, mit Kies überführt und mit nützlichen Kirschbäumen eingefasst. Seine beiden Gefährten, weniger emsig, beteten fast immer und standen dafür bei den Nonnen in höherem Ansehen. Nach Verfluss einiger Jahre kehrten alle drei in ihr Vaterland zurück. Die Erinnerung an die müssigen Beter ist erloschen, indes der Arbeitsame sich selbst ein bleibendes Denkmal gestiftet. Das war doch einmal ein nützlicher Emigrant!
Hier beginnt das Wasser etwas ruhiger zu fliessen, die Gegend wird allmählich flacher, der breitere Strom nimmt in seine kühlen Arme mehrere kleine Inselchen auf, die mit Weidengestrüpp bewachsen sind, und wir können mit Musse den Punkt betrachten, wo im Jahr 1799 der französische Feldherr Massena am 25. Herbstmonat bei Dietikon eine Schiffsbrücke über die Limmat schlug, die Russen auf dem rechten Ufer überfiel, wie eine verheerende Lawine sich wieder über die Stellungen verbreitete, die er am 6. Brachmonat, von den Österreichern bedrängt, verlassen hatte, und dann durch die berühmte zweitägige Schlacht bei Zürich das Schicksal von Europa zugunsten seiner räuberischen Regierung wieder für mehrere Jahre entschied. Rechts im Niederholz liegen viele Hundert Russen begraben, welche zu schwach und des Krieges mit den leichtfüssigen Franzosen noch nicht kundig, beim ersten Anlauf den Tod fanden. Indes der Nachen sanfter dahingleitet, kann man sich gemächlich umsehen und rückwärts auf den alten Uto blicken, welcher von hier aus, im Profil gesehen, seine bedeutende Form ganz verloren hat und als eine mässige Anhöhe erscheint. Die waldbewachsenen Hügel und Berge zur Rechten wechseln in mannigfaltigen Abstufungen, indes die Aussicht zur Linken weniger malerisch ist. Die Schiffsleute erlauben sich, hier ein bescheidenes Gläschen des mitgenommenen Weins zu trinken, und die Frauenzimmer packen Äpfel und Weggen aus ihren Arbeitsbeuteln und geben den Kindern zu naschen.
Aber bald nachdem man bei Oetwil an der grössten Limmatinsel vorbeigekommen, beginnt das Wasser wieder eilfertiger, das linke Ufer romantischer zu werden. Die Führer ergreifen die Ruder wieder und verdoppeln ihre Achtsamkeit. Höflich ersucht der Schiffsmeister die Damen, welche etwa ihre Sonnenschirme offen haben, sie niederzulegen, damit er ungehindert die gefährlicher werdende Fahrt lenken könne. Dort oben glänzt auf sonnigen Weinhügeln die Würenloser Trotte, ein schönes lustiges Gebäude mit einem Wohnboden. Warum dieses auf den reizendsten Punkt hingestellte Haus vom Pöbel das Narrenhaus genannt wird, habe ich nicht erfahren können. Im Herbst beziehen und lassen die Wettingermönche dort ihren Weinzehnten keltern.
«Wir sind am Kessel! Da ist der Kessel!», ruft einer dem andern zu. Die Kinder kreischen auf; sie haben so viel von den Gefahren des Kessels gehört, dass sie furchtsam sich an die Mutter drängen und anklammern und wähnen, schon in der nächsten Minute vom gähnenden Rachen eines nasskalten Todes verschlungen zu werden. Ist etwa ein artiges, ängstliches Bernermädchen mitten im Schiff, dem auch vor dem schrecklichen Kessel graut, und sitzt vielleicht ein junger Herr neben dem zagenden Kinde, wer wollte es ihm verargen, wenn er sich flugs entblödet, schützend und tröstend den Arm um die schlanke Gestalt zu schlingen, bis die Charybdis bezwungen ist? Die Wellen schlagen wie mit Hämmern an die Bodenplanken des Schiffes, heben es ein paarmal auf, lassen es wieder sinken, bespritzen die Reisenden, welche vorn sitzen ein wenig im Fliehen. Es sind zwei Augenblicke, und sogleich schwimmt der Nachen wieder so sanft wie zuvor dahin – der Zorn des Flussgottes hat sich gelegt, die Gefahr ist überstanden und die Furchtsamsten sind die Ersten, welche über ihre vergebliche Angst lachen.
Was ist denn dieser Kessel, von dem so viel Abenteuerliches erzählt wird? Ein paar grosse Felsbrocken ragen aus dem Wasser hervor, an welchen sich die Wellen mit Ungestüm brechen, der Fluss biegt sich plötzlich nach links und bildet beinahe einen rechten Winkel, das ist alles. Freilich muss der Schiffer genau den Punkt kennen, wo er sicher hindurch kann. Kundigen und nüchternen Fahrleuten ist noch nie ein Unglück begegnet. Im Winter, bei niederem Wasserstand, könnten die Steine ohne grossen Aufwand weggesprengt werden; allein, fast wäre es schade, denn es gibt immer Spass im Schiff, wenn es auf diesen Punkt kommt.
Indes vom Kessel geschwatzt wird, sind wir schon bedeutend weiter geschwommen, denn der Strom – wie das Genie nach bezwungenen Hindernissen – ist wieder in vollem Zug und reisst uns unaufhaltsam mit sich fort. Die schroffen Ufer drängen ihn enger zusammen und verdoppeln seine Schnellkraft. Die Gegend wird wilder. Weisse Möwen und Fischreiher fliegen durch die blaue Luft und lauern auf Raub.
Wir begegnen