Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer. Franziska Schläpfer
Gartens (M. H.s Spezialität, zu der er drei Kochtöpfe benötigte). Ich machte gleichzeitig Kalkulationen am Küchentisch oder typographische Entwürfe für Titel und Umschläge. Das hatte ich gründlicher gelernt als das Kochen.» Als unpolitische Zeitschrift blieb Atlantis einigermassen verschont von der Zensur, und die Schweizer Nationalität verlieh den Mitarbeitern einen gewissen Schutz. Doch auch sie mussten sich nach den Sprachregelungen der Reichspressekammer richten. «Martin Hürlimann hat es verstanden, mit grossem Mut und Geschick und mit neuen klugen Redaktoren ‹Atlantis› noch eine Zeitlang als geistige Insel in der braunen Flut zu bewahren», erinnert sich Walther Meier am 70. Geburtstag seines Freundes. Er selbst, 1932 in die Schweiz zurückkehrt, hat mit dem Manesse Verlag (gegründet 1944) und der «Manesse Bibliothek der Weltliteratur» sein eigenes Lebenswerk geschaffen.
Ende Dezember 1933 kommt Barbara zur Welt – für die Eltern «ein ideales Lehrobjekt», rosig, rundlich, fröhlich, gesund und später humorvoll, ja witzig. «Ein wunderbarer Gegensatz zu jener dunklen Zeit, in der sie geboren wurde.» Nach einer Zwischenstation in einer altmodischen Berliner Wohnung ziehen Familie und Verlag an die Teplitzer Strasse im Ortsteil Grunewald. Die Villa zum Roseneck wird Treffpunkt von Mitarbeitern und Freunden, Dichtern und Illustratoren, Forschungsreisenden und Buchdruckern. Der Verlag hält mit einigen Erfolgen und einem kleinen Team den Zeiten stand. «Doktor» nennen sie Hürlimann respektvoll, «nicht nur, dass er den Mut hatte, aus der sicheren Schweiz in die Bombenangriffe nach Berlin zu fahren, sondern vor allem seiner oft gewagten Publikationen wegen, der Zeitschrift, der einzigen in Deutschland, die trotz allen Befehlen niemals ein Bild von Hitler oder seinen bösartigen Trabanten gebracht hat, die niemals den Krieg besang, die nie die geringste Konzession an den Nazigeist machte». Verlagslektor Richard Tüngel schildert «manchen gefährlichen Streit» mit dem Propagandaamt und zuletzt mit dem Sicherheitsdienst. «Nichts geschah, was Martin nicht bestimmte. Das wusste jeder, und das dankte man ihm.»
1934 stirbt Vater Hürlimann. «Fünfzehn Jahre sind uns noch vergönnt, während deren die Mutter im Sihlberg herrscht, so wie nur englische Romanciers alte Damen darzustellen vermögen. Das lange Weihnachtsmahl setzt sich fort, die Gesichter wechseln, auch aus Enkeln werden Persönlichkeiten, die bereits den Geschmack des Todes auf den Lippen erkennen und aus den leuchtenden Augen ihrer Kinder Mut schöpfen. Wir fühlen uns geborgen beim Mahl, das unser Ich zum Wir werden lässt.» Im Mai 1935 erweitert Regine die junge Familie in Berlin. Zum Geburtstag der zweijährigen Barbara zeichnet Bettina ein Buch über den Lauf der Sonne. Martin will noch eines dazukaufen – und bringt Susanne Ehmckes farbig-lustiges Bilderbuch «Bill und Bällchen» heim, entsetzt über das karge Angebot. Sie beschliessen, selbst Kinderbücher zu verlegen. 1936 erscheinen die ersten drei, darunter zwei mit Versen. «Eia Popeia», von Fritz Kredel illustriert, wird ein langjähriger Erfolg. Bettina malt weiter Bilderbücher, die nicht gedruckt werden, und lernt dabei vieles über die sprachliche und bildliche Gestaltung. Ans Weggehen mag sie nicht denken, sie glaubt an die Chance eines politischen Umsturzes. Martin, pessimistischer, eröffnet 1936 eine Filiale in Zürich: ein Büro, eine Sekretärin. «Man musste blind sein gegenüber allen Indizien, um nicht zu merken, dass Hitler seinem Krieg zusteuerte.» Im Spätsommer 1939 telefoniert er seiner Frau: «Pack die Koffer, ich hole Dich nach Zürich.» Die Mädchen sind bereits in einem Kinderheim in der Schweiz. Zwei Tage später steigt Bettina mit dem kleinen Christoph, am 4. März 1938 geboren, in einen der letzten fahrplanmässigen Züge und verlässt Berlin, «wo wir trotz aller politischen Wirren sechs Jahre lang ein glückliches und erfülltes Leben geführt hatten». Sie lässt die Freunde ihrer Jugend zurück, das Haus im Grunewald, den dunklen Havelfluss, die Kiefern- und Birkenwälder, das Häuschen in Caputh, die «Fasanerie» in Potsdam, viele, viele Bücher. Noch einmal kehrt Martin nach Berlin zurück, wo die Mitarbeiter den deutschen Verlag möglichst kompromisslos weiterführen. Über dem Wochenendhäuschen donnern die Kampfflieger, sein deutscher Ford wird von der Wehrmacht eingezogen. Als er dann im Völkischen Beobachter die Überschrift «Ribbentrop in Moskau» liest, weiss er, was das zu bedeuten hat. Am 23. August 1939 unterzeichnet der Reichsminister den Hitler-Stalin-Pakt.
Die Schweiz mobilisiert am 29. August die Grenztruppen, anderntags wird Henri Guisan zum General gewählt. Am 1. September marschiert die Wehrmacht in Polen ein, am 2. folgt dann die Generalmobilmachung der Schweizer Armee. Martin leistet Dienst an der Grenze, Bettina macht sich auf Wohnungssuche. «Wie war ich plötzlich allein im schönen Zürich. Selbst der eigene Mann sprach eine andere schreckliche Sprache und wurde Soldat in einer schrecklichen Uniform. Glücklich, die Kinder auf die sichere Insel Schweiz gerettet zu haben, hatte ich dennoch grenzenloses Heimweh.» Sie versucht, den Dialekt zu lernen, kauft in einem Antiquitätenladen einen Schreibtisch fürs Verlagsbüro, wo Erwin Jaeckle sie in die Geschäfte einführt. Seit Frühjahr 1939 arbeitet der Schriftsteller und spätere Chefredaktor der Tageszeitung Die Tat als Lektor und Verlagsleiter. Bettina findet an der Witellikerstrasse 9 in Zollikon ein «eher banales, aber romantisch an einem Waldbach gelegenes Haus», nicht weit von Feldern, Wiesen, Wäldern. Sie bepflanzt den Garten als «eifriger Soldat der Anbauschlacht», ängstigt sich um all jene, die ihr in den umliegenden Ländern nahestehen. Die Kinder werden schnell zu kleinen Schweizern, Bettina wird es im Geiste, nicht aber in der Realität von Sprache, Küche und allen «täglichen Gebräuchen». Eine Demütigung, als man ihr eine Verwandte zur Seite stellt, von den Kindern Tante Gritti genannt. «So bleibt man leicht in diesem Land, dem es bei allen prächtigen Eigenschaften nicht an einer gewissen Härte fehlt, ein wenig Fremdling.» Sie führt kein Haus à la «Sihlberg», aber Sohn Christoph schildert einen modernen Haushalt, inspiriert und geschmackvoll, auch unbekümmert, spontan und einfach. «Vater konnte um elf Uhr vormittags telefonieren, er bringe Gäste mit, selbst wenn Paul Sacher am Tisch sass, gab es halt Wienerli.» Martin Hürlimann präsidiert 15 Jahre lang Sachers Collegium Musicum, engagiert sich als Präsident der Gelehrten Gesellschaft Zürich, der Rietberg-Gesellschaft, des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverbands. Er präsidiert den Verwaltungsrat der Theater AG, seit seiner Kindheit vom Zauber der Bühne fasziniert. Das Zürcher Stadttheater, das heutige Opernhaus, wurde laut Direktor Claus Helmut Drese in Hürlimanns letzten 26 Lebensjahren «zu einem der wichtigsten Anziehungspunkte seiner praktischen und spekulativen Phantasie».
Zurück in die Jahre des Zweiten Weltkriegs. Bettina stürzt sich in die Arbeit, verhandelt mit Druckern, Buchbindern, bald auch mit Autoren. «Mein Leben und Beruf waren eins.» Arbeitend lernt sie die Schweiz kennen. Albin Zollinger erschliesst ihr den Pfannenstiel geografisch und literarisch, Traugott Vogel lehrt sie am Buch «Regine im Garten» die Kunst der «Anbauschlacht». Mit dem Rad fährt sie zwischen Verlag und Haus, Büchern und Kindern hin und her: «Es war nicht mehr die Einheit wie in Berlin, und es war Krieg.» Am 24. Juni 1942 kommt Ueli zur Welt. 1943 zieht der Verlag von der Akazienstrasse ins «Haus zur Geduld» am Zeltweg. Max Frisch richtet die Räume so her, «dass sie zwar neu erglänzten, aber die Patina der Vergangenheit nur dünn verdeckt war».
Am 4. Dezember 1943 zerstört ein Luftangriff das Bibliographische Institut Leipzig mitsamt dem Hauptlager von Atlantis – bis auf zwei Mitarbeiter sind alle eingezogen; es ist das Ende des Berliner Verlags. Hürlimann übernachtet in seiner Fischerhütte. Am 15. Februar 1944 geht unmittelbar vor der Villa zum Roseneck eine Bombe nieder, reisst die Hälfte des Hauses weg und macht den Rest zur Ruine. Auf dem obersten Mauerstück flattert die Schweizer Fahne. Bettinas Bruder Wölfchen, der hier wohnte, hat sie in lebensgefährlicher Höhe gehisst. Am 20. Juli 1944 versucht eine Handvoll deutscher Offiziere, Hitler durch einen Staatsstreich zu beseitigen. Der Sprengstoffanschlag scheitert. Auch Adam von Trott zu Solz, 35-jährig, Diplomat und Widerstandskämpfer, ist an der Verschwörung beteiligt. Am 26. August wird er hingerichtet. Martin Hürlimann ist erschüttert. Als Angehöriger des Auswärtigen Amtes habe von Trott immer wieder seine schützende Hand über den Verlag gehalten. Ein paar Monate zuvor noch sei er in Zürich mit ihm an der Sonne gesessen: «Er meinte, es stünden Änderungen zum Guten bevor, Änderungen bis in die höchsten Stellen.» Am 27. November wird der mächtige Bau des Herder Verlags in Freiburg im Breisgau zerstört, wo Hürlimann 1943 ein Refugium bekam, um möglichst nahe an der Schweizer Grenze zu sein. Die Bomben vernichten die letzten deutschen Bestände seines Verlags; eine der beiden Sekretärinnen verliert ihr Leben.
Gustav und Irmgard Kiepenheuer haben es beide fertiggebracht, sich kompromisslos, wenn auch mühsam, durchzuschlagen. Mit Büchern «immer an