Vorbild und Vorurteil. Jeannine Borer
staatlichen Unterstützungsgeldern, von der Kinderzulage, die meine Mutter mir gab, und von meinem Lehrlingslohn als Goldschmiedin. In dieser Phase entstand mein zweites Tattoo. Dieses Mal auf meinem Unterschenkel. Es war ein schwarzer Panther und symbolisierte das Grosse, Starke, Böse, was ich auch in mir haben wollte. Ich wollte einfach mehr sein als das zurückhaltende «Huscheli» vom Land.
Vom Land ins Ausland. Meine erste richtige Auslandserfahrung machte ich in Australien. Mit 17 ging ich für fünf Monate ans andere Ende der Welt und lebte bei einer Gastfamilie in Sydney. Schnell fühlte ich mich in dieser Familie wohl. Vielleicht fühlte ich mich zu wohl, denn meine Gastmutter wuchs mir ans Herz. Und ich ihr. Sie kümmerte sich um und interessierte sich für mich. Zwei Mal wöchentlich fuhr sie mich ins Trainingscenter in Sydney, wo ich mit Weltklasseathleten im olympischen Stützpunkt trainierte. Meine Gastmutter hegte aber keine Muttergefühle für mich: Sie verliebte sich in mich. Das war eine unglaublich schwierige Situation. Einerseits schätzte ich die emotionale Nähe, andererseits war es mir extrem unangenehm. Die Umstände waren einfach zu speziell: Sie war zwanzig Jahre älter als ich, mit einem Mann verheiratet und hatte zwei Kinder. Reich an neuen Erfahrungen und mit einem vollen Herzen flog ich zurück in die Schweiz. Ich habe in dieser Zeit viel Liebe und Geborgenheit erfahren, dennoch war für mich klar, dass ich meine australische Gastmutter nicht in meinem Leben behalten konnte. Dafür waren die Umstände zu kompliziert. Was dieses Loslassen wirklich bedeutete, erfuhr ich erst Jahre später. Es ist eine traurige Geschichte, die dann Symbol für mein drittes Tattoo wurde.
Dass ich lesbisch bin, wusste ich mit 13, als ich mich in eine Schulfreundin verliebte, die mich faszinierte und die ich wunderschön fand mit ihren blauen Augen. Meine Gefühle behielt ich damals für mich. Ich hatte Angst, mit meinen Eltern darüber zu reden, denn bei uns zu Hause war Lesbischsein verpönt und wurde als nicht normal angesehen. Jahrelang sprach ich mit niemandem darüber. Mit einer Ausnahme: Als Kind stand mir meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, sehr nahe. Ihr vertraute ich. Mit 14, also 1996, sagte ich ihr, dass ich lesbisch sei. Sie umarmte mich einfach und zeigte mir so, dass ich nicht falsch fühlte oder abnormal war. Trotzdem verheimlichte ich meine Liebe zu Frauen noch elf Jahre lang. Vor allem im Sport.
Dabei hatte ich einige Freundinnen während dieser Zeit. Die erste mit 17, eine Coiffeuse aus Thun. Sie war ein paar Jahre älter als ich und war mir eine grosse Stütze. Mit ihr habe ich mich bei meiner Mutter ein erstes Mal geoutet, und zwar am Telefon. Rückblickend war das vielleicht eine schlechte Entscheidung, denn meine Mutter reagierte heftig. Für sie war mein Lesbischsein nicht akzeptabel. Ich fühlte mich danach so schlecht, dass ich eine Woche später wieder angerufen habe und ihr mitteilte, dass es ein Ausrutscher gewesen und ich jetzt nicht mehr lesbisch sei. Heimlich habe ich meine Beziehung mit meiner Freundin weitergeführt.
Mit meiner nächsten Freundin bin ich einige Jahre nach meinem Auslandaufenthalt nach Australien zurückgekehrt. Wir waren Anfang zwanzig. Auf unserer dreimonatigen Reise wollte ich ihr zeigen, wo ich gelebt hatte, und wir besuchten spontan meine Gastfamilie. Als wir beim Haus ankamen, irritierte mich die Unordnung rund ums Haus. Ich klingelte, aber niemand öffnete die Tür, so ging ich zur Nachbarin und erkundigte mich nach ihnen. Als sie mich sah, brach sie in Tränen aus und erzählte mir, dass sich meine Gastmutter vor einem halben Jahr das Leben genommen hatte. Die Nachricht erschütterte mich. Ich wusste, dass sich meine Gastmutter nach meiner Abreise heimlich mit Frauen getroffen hatte. Ich wusste, dass es sie innerlich zerrissen hatte. Dass sie daran zerbrechen könnte, hätte ich aber nie gedacht. Ich habe immer noch Schuldgefühle, auch wenn ich weiss, dass es nicht meine Schuld ist. In Erinnerung an meine Gastmutter liess ich mir vor vier Jahren das japanische Zeichen für Freundschaft auf meinen Oberarm tätowieren. Dasselbe Zeichen hatte auch sie als Tattoo. Es verbindet uns auch über ihren Tod hinaus.
Christa Wittwer ist vierfache Schweizer Meisterin im Speerwerfen. An den Schweizermeisterschaften 2014 in Frauenfeld holte sie die Bronzemedaille mit einer Weite von 50,02 Metern. Christa Wittwer musste sich während ihrer Karriere drei Mal am Ellbogen und einmal an der Schulter operieren lassen.
Der Tod meiner Gastmutter bewegte etwas in mir: Soll man Liebe verheimlichen? Es dauerte zwar noch einige Jahre bis zum ersten Befreiungsschlag, aber mit 25 outete ich mich in meinem Freundeskreis und ein zweites Mal bei meiner Mutter. Diesmal sagte ich es mit Überzeugung. Ich habe das Gefühl, meine Mutter wünscht sich bis heute einen Mann an meiner Seite, und hat Mühe damit, dass ihre einzige Tochter lesbisch ist. Das macht mich manchmal traurig.
Meinen richtigen Befreiungsschlag vollbrachte ich mit 33, dank meiner Freundin. Sie hat mir geholfen, meine Ängste abzuschütteln und öffentlich zu meiner Liebe zu Frauen zu stehen – auch in der Leichtathletik. Im Sport habe ich mich zuletzt geoutet. Mein Coming-out gab ich im Schweizer Fernsehen in der Sendung «Liebesleben – im Bett mit Herr und Frau Schweizer». Als lesbisches Paar sprachen wir in dieser Sendung über unsere Beziehung und den Sex. Öffentlicher kann ein Coming-out kaum sein, umso nervöser machte mich der Gedanke an die Reaktionen im Klub und auf dem Sportplatz. Eine Woche nach der Ausstrahlung hatte ich einen Wettkampf. Was dort passierte, war eine wunderbare Erfahrung: So viele Athleten, Betreuer und Bekannte haben mir zu meinem Auftritt gratuliert. An diesem Tag stand ich im Fokus der Aufmerksamkeit und habe mich gefühlt, als wäre ich Europameisterin. Dabei ging es zum ersten Mal nicht um meine sportliche Leistung, sondern um meine Persönlichkeit. Ich wurde als Christa Wittwer wahrgenommen und akzeptiert. Ein befreiendes Gefühl, denn seit diesem Moment kann ich voll und ganz zu meiner Liebe stehen.
Meine Liebe zur Leichtathletik ist bis heute ungebrochen. Doch Ende 2017, mit 35 Jahren, beendete ich meine aktive Karriere – aus gesundheitlichen Gründen. Meine Schulter hatte wegen des jahrelangen Speerwerfens gelitten und musste operiert werden. Es folgten die schwierigsten Monate meines Lebens. Im Jahr meines Rücktritts habe ich mich selbstständig gemacht. Zusammen mit meiner Geschäftspartnerin eröffneten wir unser Goldschmiedeatelier «E Luda» in Bern. Elf Monate nach der Eröffnung habe ich meine Schulter operieren lassen. Geplant war ein kleiner Eingriff mit kurzer Ausfallzeit. Während der OP stellten die Ärzte jedoch fest, dass eine Sehne angerissen war und verstärkt werden musste. Der Eingriff wurde umfangreicher, und mir wurde nach der Operation mitgeteilt, dass ich für vier Monate krankgeschrieben werden sollte. Als Selbstständige, die ihr Geschäft gerade aufbaute und Schulden hatte, war das eine fast untragbare Belastung. Ich arbeitete natürlich bereits nach kurzer Zeit wieder, doch während Monaten hatte ich grosse Schmerzen und Existenzängste. Dazu kam, dass ich mich mit Sport nicht ablenken konnte, und so hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich an einer Krise nicht wachsen, sondern daran zerbrechen würde. Ich weinte tagelang, fühlte mich absolut hilflos und wurde depressiv. Ein Psychologe half mir, wieder auf die Beine zu kommen, mein Leben in die Hand zu nehmen und vorwärts zu schauen.
Heute geht es mir gut, auch wenn ich noch «Baustellen» habe. Zum Beispiel habe ich meinen Vater seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Seit meinem Rausschmiss mit 17 konnten wir uns nicht mehr annähern. Die Beziehungen zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern mit ihren Familien wurden glücklicherweise besser. Halt gibt mir nach wie vor die Kunst: die Kunst des Goldschmiedens und die Kunst des Speerwerfens. Letztere lebe ich jetzt als Trainerin bei der Gymnastischen Gesellschaft Bern aus. Ich möchte in den Kindern das Feuer fürs Speerwerfen entfachen, wie damals mein Vater es in mir entfacht hatte.
Heute bin ich aber nicht mehr das schüchterne Kind und das «Huscheli» vom Land. Und darum musste der schwarzen Panther auf meinem Unterschenkel auch weg. Er hat mich genervt. Heute brauche ich ihn nicht mehr als Symbol für das Grosse, Starke, Böse. An ihn erinnert nur noch ein unerkennbarer blauer Fleck.
— Christa Wittwer, *1982
— Aufgewachsen in Zollikofen, Kanton Bern
— Goldschmiedin und Geschäftsführerin «E Luda»
— Schweizer Meisterin Speerwurf: 2006, 2008, 2011, 2012
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