Vorbild und Vorurteil. Jeannine Borer
Es geschah im selben Jahr 1993/94 in Calgary. Während der Fahrt im Eiskanal mit etwa 120 km/h klemmte auf einmal der Steuerkopf, und die Pilotin konnte den Schlitten nicht mehr steuern. Wir stürzten und donnerten ungebremst von der einen in die andere Kurve. Seitlich rutschte der Schlitten dann ins Ziel. Caroline Burdet hatte einen doppelten Schlüsselbeinbruch. Ich kam glimpflich davon und zerrte mir nur den Rückenmuskel.
Im Bob gehöre ich zu den Pionierinnen. Während meiner Karriere waren wir, meine Pilotinnen und ich, mehrmals die allerersten Frauen auf einer Bobbahn. So auch in Altenberg bei Dresden, einer Bobbahn in der damaligen DDR, ganz nah an der deutsch-tschechischen Grenze. Knapp fünf Jahre nach der Wende entschlossen wir uns, diese Bahn aufzusuchen. Suchen ist das richtige Wort, denn die Bobbahn lag versteckt in einem Waldgebiet. Zu DDR-Zeiten diente sie als geheimer Trainingsort für DDR-Athleten. Ohne einen genauen Plan zu haben, machten wir uns auf den Weg von der Schweiz nach Altenberg. Zwei Frauen, ein Auto, ein Bob auf einem Anhänger, ein Ziel: Als erstes Frauenteam der Welt wollten wir diese Bobbahn erobern. Und das taten wir dann auch.
Ende der 1990er-Jahre veränderte sich einiges im Frauenbob, denn 2002 in Salt Lake City sollten wir ins olympische Programm aufgenommen werden. Aus dem «Ladies Cup» wurde der Weltcup. Und im Jahr 2000 fand die erste Weltmeisterschaft statt. Austragungsort war Winterberg. Ein Fiasko. Nach dem ersten Lauf war unser Schweizer Team mit der Pilotin Françoise Burdet, der älteren Schwester von Caroline Burdet, und mir auf Platz zwei. Das deutsche Team war auf Platz sechs. Im zweiten Lauf, man startet in umgekehrter Reihenfolge, übernahmen die Deutschen die Führung. Was danach geschah, war unglaublich. Kein Team kam an die Zeit der Deutschen heran, auch nicht die favorisierten Amerikanerinnen. Bis heute vermuten wir, dass die Veranstalter nach dem zweiten Lauf der Deutschen die Kühlanlage abgestellt haben. Heute wäre das unmöglich, die Kühlung unterliegt dem Rennreglement. Aber eben, wir standen im Frauenbobsport wirklich noch am Anfang. Zwar haben die Amerikanerinnen und wir Schweizerinnen nach dem Rennen rekurriert, aber erfolglos. Das deutsche Bobteam gewann WM-Gold vor den USA. Wir holten an den ersten Weltmeisterschaften der Geschichte Bronze. Eine Ehre mit einem bitteren Beigeschmack, der ein Jahr später dann vergessen war.
2001 wurde ich Weltmeisterin. Es war ein «Hundertstelkrimi»: in den Hauptrollen die favorisierten Amerikanerinnen und wir Schweizerinnen. Bei minus 25 Grad in Calgary entschieden wir das Rennen ganz knapp für uns, was grosse Emotionen auslöste. Was wir mit dieser Goldmedaille erreicht hatten, begriff ich aber erst später, als wir zurück in die Schweiz kamen. Am Flughafen wurde ich mit Kuhglocken empfangen. Plötzlich interessierte sich die Schweizer Presse für uns, und zum allerersten Mal habe ich eine Prämie erhalten: 1500 Franken von der Schweizer Sporthilfe. Am schönsten aber war die Feier, die meine Familie in meinem Heimatdorf Beringen im Kanton Schaffhausen organisierte. Die Mehrzweckhalle war bis zum letzten Platz gefüllt, die Dorfmusik spielte, der Gemeindepräsident hielt eine Ansprache, und es wurde gefeiert. Mit mir. Wegen mir. Das war der schönste Moment meiner Karriere, denn zum ersten Mal erfuhr ich tiefe und weitgehende Anerkennung. Zumindest in meinem persönlichen Umfeld.
Im Bobverband war es damals noch anders. Wurden Männer Weltmeister, erhielten sie unter anderem ein Auto. Einen Audi für ein Jahr beispielsweise. Ich wollte auch einen, also fragte ich nach. Mit Erfolg. Mir wurde temporär ein Auto zur Verfügung gestellt. Ich musste zwar die Versicherung und die Winterreifen selbst bezahlen, trotzdem fuhr ich stolz mit dem mit «Schweizer Bobverband» beschrifteten Auto herum. Das tat meinem Ego gut.
Nach den ersten Weltmeisterschaften standen die ersten Olympischen Spiele an. Salt Lake City 2002. Mein Ziel. Mein Traum. Seit bekannt geworden war, dass Frauenbob ins Olympische Programm aufgenommen würde, wechselten immer mehr schnelle Leichtathletinnen zum Bob. Die Konkurrenz in der Schweiz wuchs, und so fand kurz vor den Spielen ein interner Qualifikationswettkampf der Anschieberinnen statt. Drei Frauen. Ein Startplatz. Die Tagesform entschied, die schnellste Starterin würde nach Salt Lake City reisen. Jede hatte drei Startversuche, die schlechteste Zeit wurde gestrichen, die anderen beiden Zeiten addiert. Die Ausgangslage war somit klar und die Stimmung dementsprechend angespannt. Und sie wurde noch angespannter, als wir nach drei Läufen, in denen wir höchst fokussiert alles aus uns herausgeholt hatten, feststellen mussten, dass die mobile Infrarotzeitmessung falsche Zeiten mass. Da am nächsten Tag Meldeschluss für die Olympischen Spiele war, blieb den Verbandsverantwortlichen nichts anderes übrig, als die Wiederholung des Wettkampfs auf den nächsten Tag zu verschieben – auf einen Montag. Wir Athletinnen mussten unsere Chefs anrufen und ihnen mitteilen, dass wir nicht zur Arbeit erscheinen würden und im Engadin übernachteten. Schliesslich ging es um Olympia.
Katharina Sutter gehört zu den Schweizer Bobpionierinnen und wurde 2001 Weltmeisterin. Als sie in den 1990er-Jahren anfing, Bob zu fahren, gab es noch keinen Weltcup. Das Bild stammt vom «Ladies Cup» 1999. Sie scheint mit jeder Faser ihres Körpers bereit zu sein für den sekundenschnellen Einsatz als Anschieberin.
Dann wurde mein Traum Realität. Ich qualifizierte mich für Salt Lake City 2002. Auch wenn wir dort um fünf Hundertstelsekunden die Bronzemedaille verpassten, gehören die Spiele zu meinem Karrierehöhepunkt. Olympische Spiele sind etwas Einmaliges: viel Rummel, viel Presse, viel Aufmerksamkeit. Etwas, was ich als Athletin kein zweites Mal erleben durfte. Die Olympischen Spiele 2006 in Turin hätten ein besonderer Anlass werden sollen. Einerseits wollte ich danach zurücktreten, andererseits wollte ich mich mit der noch jungen Pilotin Sabina Hafner qualifizieren, die schon damals meine Partnerin war. Was für ein Abschluss wäre das gewesen!? Doch es kam nicht dazu. Ich war am Knie verletzt, konnte vier Wochen lang nicht trainieren und verpasste den Leistungstest, der als Selektion für uns Starterinnen zählte. Die letzte Chance bot sich an den Schweizermeisterschaften. Sabina und ich gewannen überlegen Gold mit über eineinhalb Sekunden Vorsprung. Das überzeugte die Verbandsverantwortlichen dennoch nicht: Sie zogen eine andere Anschieberin vor. Die Art und Weise, wie ich von diesem Entscheid erfuhr, war sehr schmerzhaft.
Es war der Tiefpunkt meiner 15-jährigen Karriere: Der Verband organisierte an den Schweizermeisterschaften eine Medienkonferenz, an der er bekannt gab, wer für die Schweiz an die Olympischen Spiele fahren würde. Ich war in St. Moritz vor Ort. Doch niemand sprach im Vorfeld mit mir und klärte mich auf. Nach der offiziellen Medienkonferenz, bei der ich nicht dabei war, erfuhr ich von den Journalisten, dass ich nicht mit meiner Freundin Sabina Hafner auf dem Olympiaschlitten sitzen würde. Ich sei «ausser Rang und Traktanden» gefallen. Meine Sportlerinnenwelt brach zusammen, ich konnte den Entscheid nicht verstehen, denn Sabina und ich waren das beste Schweizer Team, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt aufgrund meiner Verletzung noch nicht ganz die Schnellste war – aber ich hätte noch über einen Monat Zeit gehabt, mich in Bestform zu bringen. Und so fand Turin 2006 ohne mich statt. Ich ging auch nicht hin. Ich wollte den Verbandsmännern nicht begegnen. Ich war sauer, enttäuscht, traurig. Am Fernsehen verfolgte ich das Rennen von Sabina. Es lief ihr nicht gut.
Sabina und ich. Seit Silvester 2004 sind wir ein Paar. Mit Sabina ging ich meine erste Frauenbeziehung ein – meine allererste richtige Beziehung überhaupt. Die Liebe hatte in meinem Leben lange keinen Platz. Sport war mein Leben – zuerst die Leichtathletik, dann der Bob. Sabina verknallte sich sofort in mich, als wir 2003 angefangen haben, zusammen Bob zu fahren. Sie war offensiv, suchte meine Nähe. Manchmal kam sie mir näher, als mir lieb war. Ich war damit überfordert: Einerseits wollte ich ihre Nähe zulassen, andererseits wehrte sich mein Kopf dagegen. Doch dann war das Herz stärker als der Kopf.
Wir führten ein halbes Jahr lang eine Beziehung, dann begann ich erneut zu zweifeln. Bin ich nicht zu alt für sie? Sind 16 Jahre Altersunterschied nicht zu viel? Liebe ich Sabina? Bin ich wirklich lesbisch? Wenn ja, möchte ich es ausleben, oder kämpfe ich dagegen an? Es begann eine schwierige Zeit für uns beide, vor allem aber für Sabina, die fast verzweifelte wegen meiner Unsicherheiten. Ich haderte mit mir selbst und fürchtete mich auch vor den Reaktionen in meinem privaten und sportlichen Umfeld. Warum ich mich dennoch auf die lesbische Liebe und auf Sabina eingelassen habe, weiss ich nicht mehr genau. Es hatte sicher damit zu tun, dass ich auf etwas so Schönes nicht verzichten wollte. Seither bin ich zufriedener denn je.
Im Bob haben wir unsere Liebe verheimlicht. Im Verband gab es einige konservative, traditionell eingestellte Leute. Wir hatten Angst, dass das