Vorbild und Vorurteil. Jeannine Borer
haben nur die Männer in der obersten Liga finanziell quasi ausgesorgt. Als Paradebeispiel für diesen eklatanten Geschlechterunterschied im gleichen Sport sorgte im November 2018 der FC Basel. Während das Männerteam beim Galadinner sass, verkauften die FCB-Spielerinnen beim gleichen Jubiläumsanlass Tombolalose und erhielten danach in einem Nebenraum Sandwiches.3 Die Definition von Spitzensport muss also relativiert werden und unterscheidet sich, je nach Geschlecht, enorm bezüglich des gesellschaftlichen Stellenwerts und natürlich des Lohnes.
Nebst der sportlichen Höchstqualifikation wird die Gruppe der porträtierten Athletinnen auch durch ihre sexuelle Orientierung definiert. Dabei geht es um homosexuelle Menschen, die als Frauen gelesen werden möchten. In einer verkürzten Form wird im Buch von «lesbischen Frauen» geschrieben, aber dieses Kriterium ist sehr breit zu verstehen und beinhaltet zum Beispiel auch bisexuelle oder queere Frauen. Obwohl die porträtierten Sportlerinnen mit Frauen liiert sind oder waren, bezeichnen sich selbst nicht alle als lesbisch. Um eine Schubladisierung zu vermeiden, verwenden die Autorinnen daher auch den inklusiveren Begriff «frauenliebend».
Wie wurden die in diesem Buch porträtierten Frauen ausgewählt? Die genannten Kriterien der frauenliebenden Spitzensportlerin bildeten den Ausgangspunkt. Die Auswahl geschah nach dem Schneeballprinzip und stützte sich auf das breite Netzwerk der fünf Autorinnen. Es ging darum, mutige Frauen zu gewinnen, die bereit waren, ihre privaten Lebensgeschichten inklusive Fotoporträt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nebst Sportarten und Alter gab es grosse Bemühungen, zusätzliche intersektionale Aspekte zu berücksichtigen. Eine porträtierte Schweizer Athletin hat türkisch-italienische Wurzeln und stammt aus einem muslimisch-katholischen Elternhaus. Doch es ist wohl kein Zufall, dass beispielsweise lesbische Women of Colour im Schweizer Spitzensport kaum sichtbar sind respektive nicht sein möchten.
Bei der sogenannten Intersektionalität geht es um die Überschneidung verschiedener Formen der Diskriminierung und Privilegierung in einer Person. Die Realität einer lesbischen Spitzensportlerin könnte durch eine körperliche Beeinträchtigung oder das Tragen eines Kopftuches aufgrund der Religion anders aussehen. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung oder der Bevorzugung sind miteinander verflochten und können sich gegenseitig auch abschwächen oder verstärken. Die Judo-Olympiasiegerin von Rio 2016, Rafaela Silva, sah sich zum Beispiel nach den verpatzten Sommerspielen in London 2012 in ihrem Heimatland Brasilien mit massiven Anfeindungen konfrontiert. Aufgrund ihrer Favela-Herkunft und Hautfarbe wurde sie in den Medien rassistisch verunglimpft.4 Zwei Tage nachdem sie 2016 in Rio die Goldmedaille gewonnen hatte, gab sie ihr Coming-out. Sie sagte, dass sie sich durch ihren Erfolg weniger angreifbar fühle.5 Trotz der klaren Notwendigkeit, über alle Facetten von Sport und LGBTIQ+ zu schreiben, haben sich die Autorinnen dieses Buches entschieden, den Fokus auf homo- und bisexuelle Spitzensportlerinnen zu legen, welche auf diese Weise sichtbarer werden und eine Vorbildfunktion einnehmen können.
Wer wollte sich in diesem Buch nicht porträtieren lassen?
Nebst spontanen oder gut überdachten Zusagen haben die Autorinnen auch zahlreiche Absagen erhalten. Die Motive dafür sind sehr individuell und zu respektieren. Die Gründe jener Frauen, die lieber nicht im Buch erscheinen wollten, lassen sich grob in vier Kategorien einteilen: Erstens gab es Absagen aufgrund der Tatsache, dass die eigene Familie, die Nachbarschaft oder das Berufsumfeld (noch) nicht offiziell über das Lesbischsein der Sportlerin informiert ist. Der Sportsoziologe Eric Anderson nennt diese Art des Umgangs «Don’t ask, don’t tell».6 Dies in Anlehnung an eine Richtlinie, die von der US-amerikanischen Armee jahrelang praktiziert wurde, um mit offen lebenden Homosexuellen in den eigenen Truppen umzugehen. Solche Absagen erhielten wir insbesondere von älteren Frauen, die zwar mit ihren langjährigen Partnerinnen mehr oder weniger offen liiert sind und teilweise auch zusammenleben, aber darüber trotzdem nicht explizit kommunizieren möchten. Eigentlich wissen alle Bescheid, aber es wird nicht benannt. Denn «was nicht sein darf, gibt es auch nicht», wie sich eine Sportlerin ausdrückte, die nicht im Buch erscheinen wollte.
Zur zweiten Kategorie gehören Absagen von Frauen, die überzeugt sind, dass eine solche Auflistung lesbischer Athletinnen dem Frauensport insgesamt eher schadet. Diese Personen haben sich zum Teil jahrzehntelang dafür eingesetzt, dass zum Beispiel Frauenfussball das «lesbische Label» verliert. Sie berichten über unzählige Gespräche als Trainerin mit Eltern, die Angst davor hatten, dass sich ihre Töchter beim Fussball «anstecken» und lesbisch werden würden. Insbesondere in der Gender-Fachliteratur zu «typisch männlichen» Sportarten ist diese Form der Homophobie gut dokumentiert. Die angefragten Personen, welche dem Frauensport mit einem Buchbeitrag «keinen Bärendienst erweisen» wollten, hatten ihre eigene sexuelle Orientierung als Trainerin, Funktionärin oder Athletin nie publik gemacht. Die Mädchen und insbesondere deren Familien sollten nicht noch mehr abgeschreckt werden. Sie wollten sich lediglich als sportliches Vorbild präsentieren. Ein Teil ihrer Identität sollte jedoch – mit bester Absicht, sozusagen zum «Schutz» der Kinder und Jugendlichen – verborgen bleiben. Dieses Verheimlichen kann signalisieren, dass Homosexualität schlecht und nicht nachahmungswert ist. Die Handhabung des Out-Seins, also offen zum eigenen Lesbischsein zu stehen, ist sehr kontextabhängig und persönlich.
Einige noch aktive Spitzensportlerinnen lehnten ein Porträt in diesem Buch ab, weil sie ihre aktuellen und künftigen Sponsoring-Verträge nicht gefährden wollten. Aus Respekt vor diesen jüngeren Frauen werden die spezifischen Sportarten an dieser Stelle nicht genannt. Der wohl bekannteste Sponsoring-Rückzug nach einem Coming-out im Frauensport ereignete sich vor knapp vierzig Jahren in den USA. Billie Jean King, die damals beste Tennisspielerin der Welt, beschloss nach Jahren der Vertuschung offen über ihre Homosexualität zu sprechen. Sie stand unter Druck und befürchtete, von jemandem geoutet zu werden. Entgegen allen Empfehlungen beschloss sie 1981 die Wahrheit zu sagen – mit fatalen Folgen: «Ich habe all mein Geld über Nacht verloren. Jeder einzelne meiner Sponsoring-Verträge wurde innert 24 Stunden aufgelöst. […] Ich musste wieder ganz von vorne beginnen.»7 Kaum zu glauben, dass frauenliebende Sportlerinnen im heutigen Europa solche Konsequenzen noch immer fürchten müssen.
Absagen der vierten und letzten Kategorie können mit der Befürchtung umschrieben werden, allein auf das Lesbischsein reduziert zu werden. In den Medien und der Öffentlichkeit würde nicht mehr die Athletin im Vordergrund stehen, sondern vor allem die «Lesben-Schublade», aus der kein Weg mehr herausführe. Dies beinhaltet auch die Angst vor einer Schmälerung der sportlichen Höchstleistung. Zudem kommt generell die Furcht dazu, als Lesbe als abnormal zu gelten und nicht mehr gemocht zu werden. Auch mit Goldmedaille würde da immer noch dieser «Homo-Makel» bleiben, wie sich eine Athletin ausdrückte, der auch eine mögliche Vorbildfunktion sowie den «Stolz der Nation» beeinträchtigen würde. Dies wirkt sich wiederum auf die Attraktivität und Vermarktbarkeit sowie auf eine damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit aus. Nur sehr weiblich wirkende Athletinnen wie zum Beispiel die mit einem Mann verheiratete Skifahrerin Lara Gut-Behrami kommen als Werbeträgerinnen gewisser Produkte überhaupt infrage. Eher burschikos anmutende Sportlerinnen, ob lesbisch oder nicht, haben dabei das Nachsehen.8
Grosse Kluft zwischen Richtlinien und Wirklichkeit
Der olympische Gedanke steht für Fair Play, Frieden, Respekt und Solidarität. Dabei gilt die «Olympische Charta» als Schlüsseldokument für unzählige Sportverbände weltweit. Trotz Reformbestrebungen gilt das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach wie vor als konservative, überalterte, elitäre, eurozentrische und von Männern dominierte Organisation. Die Charta sprach sich zwar gegen «jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen» aus, doch Homophobie wurde dabei nicht erwähnt. Auf diese Kritik antwortete das IOC stets beschwichtigend, dass die sexuelle Orientierung unter «sonstigen Gründen» natürlich mitgemeint sei. Der internationale Druck auf das IOC stieg weiter an. Die «Agenda 2020» sah in der Folge vor, «sexuelle Orientierung» explizit in den Anti-Diskriminierungsparagrafen aufzunehmen. Ende 2014 wurde die Charta entsprechend ergänzt. Ein wichtiger formaler Schritt war damit erreicht. Nach wie vor besteht aber der Widerspruch, dass sich unter den 204 IOC-Mitgliedländern immer noch Staaten befinden, welche Homosexualität mit der Todesstrafe sanktionieren.9 Gemäss Angaben von Amnesty International stellten 2015 insgesamt 76 Länder