Vorbild und Vorurteil. Jeannine Borer
muss sich auch der Weltfussballverband FIFA auseinandersetzen. Auch unter den 211 FIFA-Mitgliedern befinden sich Staaten mit homophober Rechtsprechung. Trotz des festgeschriebenen Diskriminierungsverbots aufgrund sexueller Orientierung in den FIFA-Statuten wirft dessen Umsetzung grosse Fragen auf. Wie kann es sein, dass die FIFA-WM 2022 in Katar stattfindet, wo Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann?11
In der Schweiz ereignete sich der wohl bekannteste Fall von Diskriminierung durch einen Fussballklub aufgrund sexueller Orientierung 1994 im Kanton Zürich. Der Vorstand des FC Wettswil-Bonstetten suspendierte seine Frauenabteilung mit der Begründung: «Der Verein wird ausgenützt für das Ausleben von abnormalen Veranlagungen.»12 Dem Team wurde vorgeworfen, dass zwei Drittel der Spielerinnen homosexuell seien und «jugendgefährdende lesbische Aktivitäten auf dem Spielfeld und in den Garderoben» stattfinden würden. Die Fussballerinnen legten beim kantonalen Verband Rekurs ein, worauf die Auflösung widerrufen wurde.13 Noch im April 1994 lautete der Titel der Fernsehsendung «Zischtigsclub»: «Lesben im Damenfussball: Angst vor homosexueller Ansteckung?». Und der Moderator formulierte die zu diskutierende Fragestellung: «Ist diese Angst berechtigt oder handelt es sich dabei um einen weiteren Akt der Diskriminierung?»14 Danach dauerte es mehr als zwanzig Jahre, bis Swiss Olympic in der Schweiz 2015 die Kampagne «Rote Karte gegen Homophobie im Sport» mit klaren Statements ins Leben rief: «Schwul oder lesbisch zu sein lässt einen nicht langsamer laufen, weniger weit werfen oder springen – die sexuelle Orientierung hindert niemanden an seiner sportlichen Leistungsfähigkeit – die Homophobie schon!»15 Durch internationale und nationale Richtlinien wird Homophobie von den wichtigsten Sportverbänden theoretisch nicht mehr geduldet. Doch zwischen diesen hehren Prinzipien und der realen Umsetzung besteht nach wie vor eine grosse Kluft.
Sichtbare Homosexualität im Sport
Im August 2016 stellte das deutsche Lesben-Magazin L.Mag die Frage: «Was haben sportliche Erfolge mit der sexuellen Orientierung zu tun?», und gab im Text gleich selbst die Antwort: «Gar nichts! Deshalb ist es umso schöner, dass immer mehr Lesben und Schwule bei Olympia nicht mehr das Gefühl haben, das verstecken zu müssen.»16 Die Tatsache, dass Lesben im Spitzensport immer selbstverständlicher werden, beweist auch die Präsenz des ersten verheirateten Frauenpaares in der olympischen Geschichte in Rio 2016. Helen und Kate Richardson-Walsh spielten gemeinsam im britischen Hockey-Nationalteam. Kate meinte in einem Interview: «Es freut uns, wenn sich Menschen bei uns melden und sagen, dass unsere offene Art ihnen geholfen hat, sich mit ihrer eigenen Homosexualität zu befassen oder sich gegenüber ihren Eltern zu öffnen.»17 Eine andere Geschichte wurde ebenfalls an den Olympischen Spielen in Rio 2016 geschrieben: Eine brasilianische Rugbyspielerin, Isadora Cerullo, erhielt vor laufender Kamera und über das Stadionmikrofon von ihrer Freundin einen Heiratsantrag mit rotem Herzluftballon, den sie mit einem Kuss annahm.18 Auch die Küsse der Fussballweltmeisterinnen aus den USA, welche ihren Partnerinnen auf der Tribüne galten, gingen im Juli 2019 von Frankreich aus um die Welt. Und mit dem US-Star Megan Rapinoe, einer Aktivistin für LGBTIQ-Rechte, wurde die beste WM-Spielerin auch zur Weltfussballerin 2019 ausgezeichnet. Sie nahm bei ihrer Dankesrede vor der versammelten Weltfussballprominenz kein Blatt vor den Mund und prangerte Sexismus, Homophobie und Rassismus im Sport an. Im Gegensatz dazu: Noch bei der FIFA-Nomination 2012 der Schwedin Pia Sundhage zur weltbesten Trainerin wurde die Kameraeinstellung bei der Liveübertragung sofort umgestellt, als sie ihre Partnerin küssen wollte. Die öffentliche Sichtbarkeit lesbischer Spitzensportlerinnen ist insgesamt zunehmend, aber noch lange keine Selbstverständlichkeit.
Gemäss L.Mag nahmen an den Olympischen Spielen 2016 «mindestens 64 offen lesbische und schwule Sportler» teil. Davon waren nur elf Männer, die fast ausschliesslich im Reit- und Wassersport starteten.19 Offen schwule Topathleten sind vor allem in Einzeldisziplinen und Randsportarten anzutreffen. Obwohl die Anzahl sichtbarer lesbischer Sportstars nicht sehr hoch ist, sieht es bei den schwulen Sportlern noch prekärer aus. Die Kulturwissenschaftlerin Tatjana Eggeling berät unter anderen schwule Profisportler, die ihre Homosexualität nicht öffentlich machen wollen. Eggeling meint, dass schwule Athleten noch ein grösseres Tabu brechen als lesbische Sportlerinnen.20 Bei Letzteren scheint Homosexualität weniger Verwunderung hervorzurufen als bei den Männern, da Sportlichkeit historisch gesehen eng mit Männlichkeit verknüpft ist. Das Schwulsein wird oftmals mit weiblichen Attributen beschrieben.21 Dieser Widerspruch führt zum Desinteresse der Massenmedien und des potenziellen Sponsorings.
Bei der Sichtbarkeit von Persönlichkeiten im Sport spielen Medien eine Schlüsselrolle. Dabei bietet die «Machtallianz zwischen Sport, Medien und Wirtschaft» – offenkundig oder subtil – einen idealen Nährboden für die patriarchale Vorherrschaft und Heteronormativität. Von der Norm abweichende Menschen, wie zum Beispiel lesbische Sportlerinnen, entsprechen den Mainstream-Medien und den damit verbundenen Prinzipien der Vermarktbarkeit nicht.22 Frauenliebende Athletinnen sollen entweder über ihre Sexualität offen kommunizieren, oder sie gelten automatisch als heterosexuell. Dazwischen gibt es kaum Optionen. Eher burschikos wirkende Athletinnen, die von einem weiblichen Idealbild abweichen, sind im glamourösen Sport- und Medienbusiness kaum sichtbar. Da ein heterosexuelles Publikum angesprochen werden soll, wird eine erfolgreiche Vermarktung dieser Athletinnen nicht erwartet. In einer Gesellschaftsordnung der quasi obligatorischen Heterosexualität geraten aber auch Athletinnen, die auf Männer stehen, unter Druck. Sie müssen sich einerseits vom Männlichsein und andererseits vom möglichen Lesbischsein distanzieren. Der sogenannte Kournikova-Effekt23 ist durch Studien in verschiedenen Ländern bestätigt. Dies bedeutet kurz gesagt: Je hübscher und sexyer sich eine Athletin präsentiert, desto mehr Zeitungsspalten, Werbefläche und Übertragungsminuten werden ihr gewidmet.24 Demnach wäre es vermessen, alle Sportlerinnen als Opfer der Werbebranche darzustellen, weil sie oftmals selbst zur Aufrechterhaltung der althergebrachten Stereotypen beitragen und davon profitieren.
In den letzten Jahren scheint sich diese heteronormative Sportphalanx auch in der Schweiz punktuell aufgeweicht zu haben. So war etwa der schwule Fussballschiedsrichter Pascal Erlachner 2018 für den Prix Courage nominiert.25 Dies kann einerseits als Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung bewertet werden, aber verdeutlicht andererseits auch die Einordnung seines Coming-outs als äusserst mutiger Akt. Auch andere Homo- oder Bisexuelle der Schweizer Sportwelt rückten ins Rampenlicht der Medienaufmerksamkeit. Ramona Bachmann und Alisha Lehmann wurden zum Beispiel vom Boulevardblatt Blick wiederholt als «Schweizer Traumpaar des Frauenfussballs» bezeichnet. Weiter schrieb der Blick: «Was in der Welt des Männerfussballs noch undenkbar wäre, ist bei Ramona und Alisha inzwischen Realität: Frauen stehen offen zu ihrer homosexuellen Beziehung. Und die Fans liegen ihnen dafür zu Füssen.»26
Die Sportredaktion des Schweizer Fernsehens hielt sich in all den Jahren über das Privatleben von Athletinnen – insofern diese nicht gerade Mutter wurden und mit einem Mann liiert waren – bedeckt. Lesbische Sportlerinnen und sogar Frauenpaare wurden im beliebten «Sportpanorama» zwar auch privat gezeigt, aber als Kolleginnen oder WG-Bewohnerinnen.27 Natürlich müssen bei einer Reportage auch die Sportlerinnen einwilligen. Diese Voraussetzung schien beim «Sportpanorama» im September 2019 erstmals gegeben: Die beiden Downhillcracks Emilie Siegenthaler und Camille Balanche wurden sowohl als Liebespaar als auch als Spitzensportlerinnen gezeigt. Dies war ein Novum. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit porträtierte kurz darauf auch die Luzerner Zeitung die Fussballerin Géraldine Reuteler. Dabei war auch ihr Heimweh ein Thema, an dem sie als in Deutschland spielende Profisportlerin manchmal leidet: «Spätestens seit in diesem Sommer ihre Freundin Laila Koch zu ihr nach Frankfurt gezügelt ist, fühlt sich Reuteler sichtlich wohl.»28 Die Frauenbeziehung als solche fand keine Erwähnung im Artikel. So unaufgeregt und simpel könnte es sein.
Fehlende Vorbilder und hartnäckige Vorurteile
Vorbilder, Helden und Heldinnen existieren nicht einfach so, sondern werden gesellschaftlich konstruiert. Sie werden von Menschen dazu gemacht.29 Im Sport bevorzugen viele Frauen und Mädchen männliche Vorbilder, weil diese Kraft und Macht geradezu verkörpern. Zudem werden absolute Höchstleistungen normalerweise in der Männerkategorie erreicht und nicht bei den Frauen. Zu weiblichen Sportvorbildern werden generell jene Athletinnen erkoren, die einem hetero-sexy Image entsprechen.30