Vorbild und Vorurteil. Jeannine Borer

Vorbild und Vorurteil - Jeannine Borer


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Reaktionen waren unberechenbar, und wir wollten unsere Karrieren nicht riskieren. Wir waren schon froh und dankbar, dass wir mittlerweile als Frauen im Bobsport akzeptiert waren. So lebte ich meine Liebe zu Sabina während meiner Aktivzeit versteckt. Diese endete 2007 nach den Weltmeisterschaften in St. Moritz. Dem Bobsport blieb ich danach treu, denn ich betreute Sabina als Mechanikerin. Zusammen erlebten wir die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver und 2018 in Pyeongchang. Seit einigen Jahren stehen wir zu unserer Liebe. Die negativen Reaktionen blieben aus – im privaten Umfeld, im Beruf und auch im Sport.

      Mein Sportlerinnenleben war nicht nur geprägt vom Kampf um Medaillen und Titel, sondern auch vom Kampf um Anerkennung und Akzeptanz. Auf allen Ebenen. Darauf bin ich stolz.

      — Katharina Sutter, *1968

      — Aufgewachsen in Beringen, Kanton Schaffhausen

      — Selbstständige diplomierte Bauleiterin

      — WM-Bronze 2000, Weltmeisterin 2001, WM-Vierte 2005, Team-WM-Bronze 2007

      — Olympische Spiele: Salt Lake City 2002 (4.)

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      In den USA habe ich mich selbst gefunden. Das war für mich eine Befreiung, denn zuvor hatte ich mich selbst verleugnet. Damals konnte ich nicht akzeptieren, dass ich lesbisch bin. Ich hatte ein Problem damit und spielte eine Rolle, die für alle stimmte – ausser für mich. Wie ich mich dabei fühlte, war mir nicht so wichtig.

      Als Teenager war ich schüchtern, hatte wenig Selbstvertrauen. Das kam erst mit der Zeit, dank dem Fussball. Mit 14 Jahren spielte ich bereits in der höchsten Schweizer Liga, kam bald ins Nationalteam. Das ging alles sehr schnell und liess mein Selbstvertrauen wachsen. Ich hatte etwas erreicht. Neben dem Platz war ich allerdings zurückhaltend, verwirrt über meine eigene Gefühlslage. Lange wusste ich nicht, wer ich sein will. So gesehen kam mir das Stipendium der Ohio State University 2004 gerade recht. Wirtschaftsstudium und College-Fussball, eine gute Kombination. Es war der Aufbruch in ein Abenteuer, bei dem ich mir selbst nicht vorstellen konnte, wie es herauskommen würde. Vor allem sah ich in Amerika die Chance für einen Neustart. Denn ich nahm mir vor: Ab jetzt stehe ich auf Männer. Das war mein Ziel. Ich wollte nicht dort ankommen und sagen: «Hallo zusammen, ich stehe auf Frauen.» Das habe ich durchgezogen. Also am Anfang. Aber die Realität hat mich ziemlich schnell eingeholt. Denn es führte dazu, dass ich Dinge ausprobierte, bei denen ich eigentlich wusste, dass ich das gar nicht wollte. Es war anstrengend, ja. Aber es war mir auch schnell bewusst, dass mein Vorhaben mit den Männern nicht klappte. Amerika wurde also zum Neustart – aber anders als gedacht.

      Mit Carla hatte ich meine erste Beziehung in den USA. Sie gab mir zu verstehen, dass lesbisch sein in Ordnung und ganz normal ist. Je mehr sie das sagte, desto mehr glaubte ich ihr. Irgendwann gab es für mich keine andere Möglichkeit mehr, und wir standen offen zu unserer Beziehung. Das war ein befreiender Moment, der Startschuss zu meinem Öffnungsprozess. Aber ich war in den USA, die Schweiz war weit weg. Und so dauerte es bis zum öffentlichen Coming-out in meiner Heimat noch ein paar Jahre.

      In meiner Jugend in der Schweiz versteckte ich mich lange Zeit. In der Schule wusste niemand, wer ich wirklich war. Wobei, wahrscheinlich war es mir selbst nicht so richtig klar. Im Nachhinein denke ich, dass ich das Coming-out anders hätte machen sollen – früher darüber reden oder dazu stehen. Aber eben: Ich hatte zu wenig Selbstvertrauen. Und als ich einem Kollegen einmal sagte, dass ich lesbisch sei, nahm er mich nicht ernst. Er glaubte mir einfach nicht. Was hätte ich sonst noch machen sollen? Deshalb habe ich lange geschwiegen.

      Der Fussball war meine Flucht. Ein schöner Ort, an dem ich sein konnte, wie ich bin. Auf dem Kleinfeld in Kriens gab es einen roten Hartplatz, dort habe ich als Kind einen grossen Teil meiner Freizeit verbracht und bin dann mit sechs Jahren dem Verein beigetreten. Es war eine gute Zeit, wenn auch manchmal nicht ganz einfach. Ich war das einzige Mädchen und noch talentiert dazu. Jede Saison spielte ich in einem guten Team und konnte daher viel profitieren. Auch mein Bruder spielte Fussball, und so gab es am Sonntagabend nach den Spielen immer Diskussionen am Familientisch. Mein Vater war einmal Profifussballer gewesen und deshalb kritisch mit Joel und mir. Meine Mutter hat die Wogen jeweils geglättet. Doch diese Sonntagabende, sie waren prägend für meine spätere Entwicklung als Fussballerin. Mein Vater war oft der Meinung, dass ich mein Potenzial nicht ausschöpfe. Er hatte recht. Aber ich musste es auch nicht. Und genau das hat ihn gestört. Er war damals wahrscheinlich nicht sicher, ob ich das jemals begreifen würde. Mit dem Jonglieren war das zum Beispiel so eine Sache. Manchmal sagte er zu mir: «Wenn du zwanzig Mal jonglieren kannst, darfst du wieder hereinkommen.» Das war für mich wirklich sehr schwer, ich war ja noch ein Kind. Ich habe dann geübt, bis ich es konnte. Aber nicht immer hat es geklappt. Manchmal gelangte ich auch an den Punkt, an dem ich einfach wütend wurde und getobt habe. Aber aus solchen Situationen habe ich immer etwas gelernt. Denn genau das hat mich weitergebracht. Selbstkritisch zu sein, ist ein wichtiger Teil meines Wesens. Ich will mich nie zufriedengeben und immer besser werden. Und sowieso: Mit Kritik kann ich besser umgehen als mit Komplimenten. Durch den Spitzensport habe ich viel gelernt. Eigentlich das meiste, was mich und mein Leben ausmacht: sich einen Platz im Team zu suchen, verschiedene Kulturen kennenzulernen und zu bemerken, dass es Leute gibt, die anders ticken. Und dass dies gut so ist. Dass man sich nicht immer nur die eigenen Wünsche erfüllen kann, sich auch anpassen und seine Rolle akzeptieren muss.

      Auch die Zeit bei Olympique Lyon war sehr lehrreich. Nach dem Studium in Amerika wechselte ich 2009 nach Frankreich und war erstmals in meinem Leben Profi – in einem richtig guten Team, das international erfolgreich war. Ich die junge Schweizerin – und zack, da war es wieder, das fehlende Selbstvertrauen. Ich kam natürlich nicht nach Lyon und sagte: «Hallo, da bin ich jetzt.» Ich war anfänglich zurückhaltend und habe beobachtet, wie das Team funktionierte. Und bin erst mit der Zeit in meine Rolle hineingewachsen. Ich war nie die Lauteste, aber ich wurde wichtig für das Team. Das hat mich als Person gestärkt. Von den Fans und auch vom Verein wurde ich sehr gut behandelt – es war eine wunderbare Zeit. Und eine sehr erfolgreiche. Mit Lyon verbinde ich auch mein schönstes Fussballerlebnis auf Klubebene: den erstmaligen Gewinn der Champions League. Dieser Titel war immer mein Traum – 2011 wurde er Wirklichkeit, und ich habe sogar das Siegestor erzielt. Unglaublich. Weniger gut war in Lyon der Umgang mit dem Thema Homosexualität, das war eher ein Tabu. Wir wussten es untereinander, aber nicht einmal von allen. Und an die Öffentlichkeit trugen wir es schon gar nicht. Man versteckte sich. Auch, weil der Verein – bei allem Erfolg und dem vielen Geld – konservativ ist und nicht offen mit dem Thema umgehen konnte. Ich habe mich im Verein oder in der Stadt nie versteckt, aber des vorherrschenden Klimas war ich mir schon bewusst.

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      Lara Dickenmann schaffte es vom Krienser Kleinfeld auf die grosse Bühne des Frauenfussballs. Bis zu ihrem Rücktritt aus dem Schweizer Nationalteam im August 2019 wurde die Teamälteste von ihren Kolleginnen liebevoll «Grosle» genannt. Sie war Captain und ist mit 135 Länderspielen Rekordspielerin. Lara Dickenmann ist eines der Aushängeschilder des Schweizer Frauenfussballs – auf und neben dem Platz. [1]

      Bei meinem aktuellen Verein, dem VfL Wolfsburg, ist das zum Glück ganz anders, da sind alle viel toleranter. Der Klub ist offen, was das Thema Homosexualität anbelangt, und in Wolfsburg fühle ich mich sehr wohl, mit dem Team und dem Staff und auch in der Stadt. Auf Initiative unserer ehemaligen Mitspielerin und Spielführerin Nilla Fischer trägt der ganze Verein – von den U-Teams bis zu den männlichen Profis – Captain-Armbinden in Regenbogenfarben. Das finde ich speziell und gut, weil es zu unserer Sichtbarkeit beiträgt und hoffentlich einen positiven Effekt hat.

      Beim Nationalteam war der grösste Moment die definitive WM-Qualifikation für Kanada 2015. Das war unglaublich und emotional. Wenn etwas das erste Mal passiert, ist es für mich immer am eindrücklichsten. So auch mein erstes Länderspiel im August 2002, damals in Frankreich. Mit 16 war ich die Jüngste im Team – und bei meinem Rücktritt im Herbst 2019 dann die Älteste. Von meinen Nati-Teamkolleginnen wurde ich «Grosle» genannt.

      Im September 2018, ein Jahr vor dem Rücktritt aus dem Nationalteam,


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