Durchschlag am Gotthard. Alexander Grass

Durchschlag am Gotthard - Alexander Grass


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102

      «Hier meine Hinweise. Freundliche Grüsse.» So endete eine Mail aus dem Zentralsekretariat der Gewerkschaft Unia. Wo liegen die Akten der Gewerkschaft Bau und Holz, die einst für den Gotthard-Strassentunnel zuständig gewesen ist – das war meine Frage. Die Antwort: Sie liegen im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich, im Staatsarchiv Uri in Altdorf und bei der Fondazione Piero e Marco Pellegrini e Guglielmo Canevascini im Kanton Tessin.

      Viele dieser Akten sind nicht erschlossen, sondern lediglich in Kartonschachteln verpackt. Zum Beispiel Zügelkarton 102: Dossier zu Baustellenbesichtigungen und -fragen, 1977–1993. Der Staatsarchivar des Kantons Uri sieht nach, er findet Position 102 und schreibt: «Dort sind auch die Unterlagen zu den Baustellenbesichtigungen erwähnt. Die Unterlagen konnte ich jedoch nicht finden, obwohl das Dossier 102 vorhanden ist.» Die Berichte von den Baustellenbesuchen sind verschollen. Erhalten sind Unterlagen zur gewerkschaftlichen Arbeit auf den Gotthard-Grossbaustellen. So begann meine Suche nach Zeitzeugnissen und Dokumenten zum Bau des Strassentunnels.

      Neben den Gewerkschaftsakten sind auch die Protokolle der Baukommission erhalten; Planer und Ingenieure verfassten zahlreiche Schriften. Die Kantone Uri und Tessin waren als Bauherren beteiligt, der Bund hatte die Oberaufsicht inne. So entstanden zahlreiche Korrespondenzen zwischen den vier Parteien Bauherrschaft, Amt für Strassen- und Flussbau in Bern und Bundesrat. Der Bau des Gotthard-Strassentunnels beschäftigte eine ganze Generation von Politikern und Planern; Kulturschaffende setzten sich auseinander mit dem Tunnelbau, mit dem ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde in der Beziehungsgeschichte zwischen dem Tessin und den Landesteilen nördlich des Gotthards.

      Im Bundesarchiv in Bern liegen über 180 Dossiers zum Bau des Gotthard-Strassentunnels, jedes von ihnen hat bis zu 1000 Seiten. Dazu kommen Bestände im Staatsarchiv Uri, im Archivio di Stato del Cantone Ticino und im Zürcher Sozialarchiv. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) hält Akten über den Arbeitsschutz auf der Baustelle, im Archiv der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ist die Auseinandersetzung der SBB mit der Lastwagenkonkurrenz am Gotthard dokumentiert. Dazu kommen Hunderte von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, Denkschriften, Studien, Parlamentsprotokolle und Berichte von Behörden.

      Und es gibt Funde in privaten Archiven: Etwa die Fotos und Dokumente von Walter Scheidegger, dem ehemaligen Bauführer im Südkonsortium, der nach dem Abschluss der Baustelle in der Leventina geblieben ist. Oder den Nachlass von Ezio Censi. Er war Sektionschef beim Ufficio strade nazionali del Cantone Ticino in Bellinzona und ab 1967 örtlicher Bauleiter des Bauloses Süd. Seine Persönlichkeit beeindruckte über die Baustelle hinaus. In seinem ehemaligen Familiensitz befindet sich noch sein Büro mit zahlreichen Schriften – an der Wand hängt noch immer ein drei Meter langer Bauplan, auf dem Censi Tag für Tag den Baufortschritt eingetragen hat. Seine Familie hütet dieses Archiv und zahlreiche Erinnerungen.

      Lückenhafte Archive

      Trotz der grossen Zahl an Archivdokumenten bleiben blinde Flecken. Akten sind dann erhalten geblieben, wenn eine Institution involviert gewesen ist, die ihre Unterlagen nach Projektende aufbewahrt hat. Das trifft zu bei Behörden in Bundesbern oder im Kanton Uri, nur selten aber bei Firmen, die am Projekt beteiligt waren.

      Schriftstücke entstanden dann, wenn politische, rechtliche und finanzielle Konflikte ausgetragen wurden, zum Beispiel bei der Kosten- und Terminkrise im nördlichen Baulos. Viel weniger Unterlagen sind vom Südlos erhalten, wo die Konflikte weniger waren. Mit Interviews sowie mit Akten aus dem Archiv der Baufirma Walo Bertschinger versuchte ich, diese Lücke zu schliessen. Nur wenige Dokumente schildern Arbeitsbedingungen und den Baustellenalltag. In Gesprächen mit am Bau beteiligten Personen konnte ich Erinnerungen festhalten; dazu kommen Reportagen, Radio- und Fernsehbeiträge aus den 1970er-Jahren. Zur Rolle der Frauen beim Bau des Gotthard-Strassentunnels ist keine einzige Unterlage erhalten. Auf der Liste der Gewerkschaftsmitglieder steht keine einzige Frau, in den Sitzungsprotokollen und Schriftwechseln werden ausschliesslich Männer erwähnt. Dieses Thema harrt noch der Recherche.

      Der Gotthard ist eine spröde Verkehrs- und Energielandschaft. Er ist auch ein Ort der Erinnerung: an die Vespafahrt zwischen den eiskalten Schneemauern hindurch, an kochende Motorkühler, an Familienmitglieder, die bei der Bergfahrt aus dem Auto aussteigen mussten, weil der Motor die Last nicht schaffte. Es ging um etwas Abenteuer, um Freiheit. Die Massenmotorisierung, der Autobahnbau und damit auch der Bau des Gotthard-Strassentunnels bewirkten eine tiefgreifende Umwälzung. Sie erfasste Gesellschaft, Raumplanung, Volkswirtschaft und Kultur, und sie ist vergleichbar mit jener Revolution, die der Eisenbahnbau bewirkt hatte.

      Der Gotthard-Strassentunnel war zu seiner Zeit der längste Strassentunnel der Welt. 2015, also vor der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels, befuhren ihn 36 800 Personen pro Tag. Beim Bahntunnel waren es viermal weniger, nämlich 8900.1 Im gleichen Jahr wurden 8 691 000 Tonnen Güter durch den Strassentunnel befördert, im Bahntunnel waren es 15 251 000 Tonnen.2 Der Gotthard-Strassentunnel ist eines der wichtigsten Infrastrukturbauwerke der Schweiz.

      «Swiss open world’s longest road tunnel» – sogar die New York Times thematisierte im September 1980 die Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels auf ihrer Titelseite. Doch im Gegensatz zum Basistunnel von 2016 und zum Eisenbahntunnel von 1882 wurde die Geschichte des Strassentunnelbaus am Gotthard in den Jahren 1970 bis 1980 kaum aufgearbeitet. Mit einer Ausnahme3 fehlen Gesamtdarstellungen von Planung und Bau des Gotthard-Strassentunnels, von politischen, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zum Baubeginn erschien ein Band, in dem das Projekt vorgestellt wurde.4 Zum Durchschlag des Sicherheitsstollens wurde eine Broschüre publiziert, 5 im Umfeld der Eröffnung erschienen ein Baustellentagebuch6 und ein Porträt des Tunnels.7 In der Fachpresse gab es zahlreiche technische Berichte. Die Autoren waren Vertreter der auftraggebenden staatlichen Behörden einerseits und solche der auftragnehmenden Konsortien und Ingenieurbüros andererseits. Mehrere Studien untersuchten die Verkehrsentwicklung nach der Eröffnung des Tunnels.8 Und schliesslich war der Gotthard-Strassentunnel immer wieder ein Aspekt in Büchern zu übergreifenden Gotthardthemen wie Verkehrspolitik, Volkswirtschaft oder Geschichte.9

      Die Inbetriebnahme des Tunnels wurde zum nationalen Fernsehspektakel. «Beginn und Vollendung dieses Tunnels fallen in unterschiedliche Epochen schweizerischer Strassenbaupolitik», sagte Bundesrat Hans Hürlimann in seiner Ansprache, 10 «unbestrittene Dynamik hat anderen Erwägungen, Skepsis und Vorbehalten gegenüber Fortschritt und Verkehr Platz gemacht.» Hürlimann dachte dabei an die Hoffnung auf Freiheit und Aufschwung, die den Autobahnbau anfänglich begleitet hatte. Doch bei seiner Eröffnung wurde der Strassentunnel zum Symbol für Autolärm, Gestank und Staus in den Alpentälern. Er wurde zum Schauplatz einer veränderten Verkehrs- und Umweltpolitik. Der Gotthard-Strassentunnel entstand in einer Zeit des Übergangs, er steht für diese Zeitenwende.

      II

      45 Jahre Planung

      Der erste Anlauf 1935

      Der Kartonumschlag des Buches glänzt bräunlich und ist etwas abgegriffen. «ASTA» steht da in grossen Lettern – «Auto-Strassen-Tunnel durch die Alpen». Ein einziges Exemplar ist in der Bibliothek der Architekturakademie in Mendrisio erhalten. Die Schrift ist 41 Seiten lang und datiert vom 15. März 1935, nach dem Ersten und noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das erste Projekt zum Bau eines Gotthard-Strassentunnels.1 Verfasser waren der 1905 geborene ETH-Bauingenieur Eduard Gruner und sein Bruder Georg Gruner. Die grossen Handelswege hätten ohne Zweifel zu den wichtigsten Faktoren in der Entwicklung der Kultur gehört, schrieben sie: «Heute noch verdankt die Schweiz ihre wirtschaftliche Stellung als zentraler Verkehrsplatz unseres Kontinents weitgehend dem St. Gotthardübergang.» Die nördlichen und südlichen Nachbarländer hätten grosse Strassennetze bis an die Schweizer Grenzen gebaut. Diese Netze müssten nun zusammengeschlossen werden. Im Alpenraum bestünden die Brenner-Route, die von Frankreich und Italien propagierte Mont-Blanc-Route und die Gotthardroute durch die Schweiz. Es liege im volkswirtschaftlichen Interesse der Schweiz, dem Automobilverkehr einen ganzjährigen Alpenübergang


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