Durchschlag am Gotthard. Alexander Grass
Teil des europäischen Tourismus werde damit von der Schweiz abgeleitet, befürchtete Die Tat25, das sei eine Gefahr für Wirtschaft und Fremdenverkehr: «Allerdings, diese Gefahr besteht auch ohne den Mont Blanc-Tunnel. Die Schuld daran trägt zur Hauptsache unser mangelndes Straßensystem. Zwar sind wir naiverweise oft stolz darauf, daß in der Schweiz auch die Nebenstraßen gut und sauber ausgebaut sind. Wir übersehen dabei, daß wir das schlechteste Netz von Hauptdurchgangsstraßen haben, welches wohl in Europa zu finden ist. Zum Ausbau unseres Hauptstraßennetzes gehört neben einer Ost-West-Achse eine großzügige Nord-Süd-Achse. Diese ist ohne einen Durchstich durch die Alpenkette nicht denkbar.»
Während die NZZ und Die Tat eine übergeordnete Strassenplanung anmahnten, prangerte Die Weltwoche im Juni 1954 die Strassenbaupolitik am Gotthard an: «ein europäischer Verkehrsskandal».26 Der Schweiz drohe die internationale Verkehrsisolierung. Am schlimmsten seien die Verhältnisse am Gotthardpass. Zu Ostern, wenn die Passstrasse noch Wintersperre habe, betrage die Wartezeit an den Rampen zum Autoverlad sechs bis zehn Stunden. Jeder elfte Schweizer besitze ein Motorfahrzeug, rechnete Die Weltwoche vor, die Schweiz sei das am stärksten motorisierte Land Europas. Dazu kämen 1,3 Millionen ausländische Fahrzeuge, die pro Jahr in die Schweiz führen. «Ganz allgemein stehen wir mit dem Ausbau unseres Hauptstrassennetzes im Rückstand. Unsere Nachbarstaaten, namentlich Frankreich, Deutschland und Italien verfügen über ein vorzüglich ausgebautes Netz von Hauptstrassen und von Autobahnen. Bei uns dagegen herrscht im Strassenwesen ein ausgesprochenes Chaos. Die auf diesem Gebiet souveränen Kantone bauen weitgehend ohne gegenseitige Koordination.»
Am 30. Juni 1954 verfassten elf kantonale Baudirektoren eine Resolution: «Die in Luzern versammelten kantonalen und kommunalen Vertreter der zentralschweizerischen Kantone und des Kantons Tessin sind angesichts der ausländischen Bestrebungen auf Umfahrung der Schweiz der einhelligen Auffassung, dass die Schaffung einer ganzjährig befahrbaren Gotthardstrasse in absehbarer Zeit ein unbedingtes und im Interesse des ganzen Landes liegendes Erfordernis darstellt.» 200 000 Stimmbürger unterschrieben 1956 dann die Volksinitiative «Für die Verbesserung des Strassennetzes» – eine vor der Einführung des Frauenstimmrechts sensationelle Zahl. Lanciert worden war die Initiative vom Automobil Club und vom Touring Club der Schweiz.27 Der Bundesrat nahm das Anliegen in einem Gegenvorschlag auf: Bau von Autobahnen von Ost nach West und von Nord nach Süd. Zuständig sei der Bund. Alle Parteien und wichtigen Organisationen gaben die Ja-Parole aus. Am 6. Juli 1958 wurde die Volksinitiative angenommen. 85 Prozent betrug der nationale Ja-Stimmenanteil, 94 Prozent waren es im Tessin, 80 Prozent im Kanton Uri.
Die Schweiz als (noch) autoverkehrsarme Insel zwischen Italien, Frankreich und Deutschland, 1965.
Europastrasse am Gotthard
Bruno Legobbe, Präsident des Vereins Pro Leventina, organisierte im Dezember 1957 in Faido eine Konferenz. Dort hiess es: Das Gotthardproblem, das bisher als Problem eines Freizeitverkehrs innerhalb der auf die Schweiz beschränkten Strassenplanung gesehen worden war, sei nun eine Frage von volkswirtschaftlicher und europäischer Bedeutung. «San Gottardo strada d’Europa»28 lautete der programmatische Titel einer Tessiner Publikation, also «Europastrasse Gotthard». Rund um die Zentralalpen lebten 140 Millionen Menschen, der Fahrzeugpark sei dort auf 10 Millionen Motorfahrzeuge stark angewachsen, und mit ihm auch der Tourismus. Italien war damals Europas Hauptreiseziel. Siebzig Prozent der Gäste reisten mit dem Auto an. 1956 empfing Italien 8,8 Millionen Autotouristen, und die meisten, nämlich 3,2 Millionen, wählten den Weg durch die Schweiz. Die Tourismusindustrie in Italien und im Tessin war also angewiesen auf gute Verbindungen. Genauso war es mit der übrigen Wirtschaft, die sich dank guter Strassenverbindungen einen Anschluss an das Wirtschaftswunder im Norden erhoffte. Der Strassenbau sei das Schlüsselproblem des Kantons Tessin.
Im Juli 1958 berichtete die NZZ: «Saurier der Straße schoben sich ‹einzelsprungweise› jede Kehre mehrmals ‹ansägend›, mühsam voran, die Kolonnen in beiden Fahrrichtungen weithin stauend und stark an den Nerven nicht nur der Carinsassen, sondern aller betroffenen Fahrer reißend. Es ist offenkundig, daß dieses einst mit Recht gefeierte Straßenstück dem heutigen Verkehr nicht mehr gewachsen ist.»29 Am 9. August 1959 seien in Airolo 7120 Motorfahrzeuge gezählt worden, rechnete der Luzerner Ständerat Christian Clavadetscher in seiner Interpellation im Juni 1960 vor.30 Das sei jetzt schon mehr als der für eine dreispurige Autobahn zulässige Verkehr. Und 1962 würden die deutsche Autobahn und mit ihr gewaltige Verkehrsströme Basel erreicht haben. Clavadetscher forderte einen Ausbau der Gotthardstrecke oder einen Strassentunnel.
Das Nein der Kommission für Strassenplanung
Bereits im Herbst 1954 hatte der Bundesrat eine Kommission für Strassenplanung eingesetzt. Sie sollte den Bau von Autobahnen und Tunnels durch die Alpen prüfen. Im Juli 1956 entschied sich die Planungskommission für den Bau des Tunnels durch den San Bernardino und gegen einen Gotthard-Strassentunnel. Michael Ackermann hat in seiner Dissertation die Arbeit dieser Kommission dokumentiert.31 Nach harter Kritik des Automobil Clubs der Schweiz habe das Oberbauinspektorat ein informelles Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. «Die positiven Stellungnahmen zum Gotthard-Tunnel wurden vom Oberbauinspektorat nicht zur Kenntnis genommen, man beharrte auf der Position, dass mehr Alpentunnels wirtschaftlich nicht begründet werden könnten», schreibt Ackermann und vertritt die These, dass die Ablehnung des Gotthard-Strassentunnels durch Oberbauinspektor Robert Ruckli politische Gründe gehabt habe: Solange das Nationalstrassennetz nicht rechtskräftig beschlossen worden war, wollte er dieses Paket nicht mit einem Gotthard-Strassentunnel überladen. Ruckli war von 1957 bis 1972 Direktor des Oberbauinspektorats beziehungsweise des Eidgenössischen Amts für Strassen- und Flussbau (EASF). Er galt als «Vater des schweizerischen Autobahnbaus» und war Vorsitzender der Studiengruppe Gotthardtunnel. «Der Gotthard-Tunnel hätte die Kosten so weit erhöht, dass die Zustimmung der Verkehrsverbände und Kantone unsicher geworden wäre», meint Ackermann.
Die Kommission für Strassenplanung erarbeitete in fünf Bänden eine ausführliche statistische Analyse der Verkehrsflüsse in der Schweiz, legte Ausbaustandards für Strassen fest und schlug den Bau eines Autobahnnetzes in der Schweiz vor. Sie erklärte im Abschlussbericht von 1959: Der von den SBB projektierte Ausbau des Verladedienstes am Gotthard genüge.32 In der Botschaft vom 5. Februar 1960 über die Planung des Nationalstrassennetzes übernahm der Bundesrat diese Argumentation: «Der von den Schweizerischen Bundesbahnen projektierte bauliche und betriebliche Ausbau des Verladedienstes am Gotthard (ohne Erstellung des zweiten Bahntunnels) wird dieser Winterverbindung eine Kapazität verleihen, die für die Bewältigung des bis 1980 vorausgesagten Strassenverkehrs auch in Spitzenzeiten genügt.»33 Nur am San Bernardino solle ein Strassentunnel erstellt werden, schrieb der Bundesrat. Man wolle die Erfahrungen, die beim Bau des San-Bernardino-Tunnels gemacht würden, abwarten. Die technischen Schwierigkeiten am Gotthard würden unterschätzt. Ein 15 Kilometer langer Tunnel stelle ein Wagnis dar, das nicht ohne Not eingegangen werden solle. So wurde von Basel bis Chiasso kein Nord-Süd-Strassenkorridor gebaut. Von Basel bis Egerkingen sollte es eine Autobahn geben, von da nach Luzern eine Autostrasse, bis Stans dann wieder eine vierspurige Autobahn, bis Altdorf wieder eine Autostrasse und ab dort eine Strasse dritter Klasse. Im Süden sah es nicht anders aus.
Zu tiefe Verkehrsprognosen
Vor den Toren des Tessins war die Autobahn zwischen Mailand und Como schon seit 1924 in Betrieb. Der erste Abschnitt der Autostrada del Sole von Mailand bis Neapel, dieses Symbol für Aufschwung und nationale Einigung in Italien, wurde 1958 eröffnet. Umso schmerzlicher wurde der Rückstand im Tessiner Autobahnbau empfunden; er erschien als Stückwerk. 1970 wurde die Strecke von Chiasso bis Lugano Süd in Betrieb genommen, die Strecke bis zum Ceneri sowie die Umfahrung Bellinzonas waren im Bau. Andere Teilstücke sollten zu einer zweispurigen Autostrasse ausgebaut werden. Angesichts der konjunkturellen Überhitzung verschob der Bundesrat 1965 den Baubeginn in der Leventina. Der Bau der Ceneri-Strecke wurde 1984 fertiggestellt.
Trotz aller wissenschaftlichen Sorgfalt schätzte die