Durchschlag am Gotthard. Alexander Grass
Zahl der in der Schweiz immatrikulierten Motorfahrzeuge. Aus ihr wurde das Verkehrsaufkommen abgeleitet – je mehr Fahrzeuge, desto mehr Verkehr. Die Anzahl der Motorfahrzeuge ihrerseits ergab sich aus der Bevölkerungszahl und aus dem Motorisierungsgrad, aus der Anzahl Motorfahrzeuge pro 1000 Einwohnern also. Dieser Motorisierungsgrad wiederum war abhängig vom Wohlstand der Bevölkerung. Doch der Motorisierungsgrad wuchs bei Weitem schneller als die Reallöhne es taten. 1950 betrug er 54 Prozent. 1960 war er drei Mal höher als 1950 – die Reallöhne indes waren im gleichen Zeitraum aber nur um 20 Prozent gestiegen. Auch in den kommenden Jahrzehnten wuchs der Motorisierungsgrad wesentlich schneller als das Einkommen. Die Planungskommission korrigierte zwar den Motorisierungsgrad nach den zu tief liegenden Prognosen aus früheren Jahren noch einmal nach oben und schätzte, dass es im Jahr 1980 in der Schweiz 800 000 Personenwagen geben werde. Tatsächlich wurden es fast drei Mal mehr, über 2,2 Millionen nämlich.34
Doch das Verkehrswachstum an den Alpenübergängen war noch stärker, denn zusammen mit dem wachsenden Wohlstand versprachen die Autofahrten in den Süden Freiheit, Abenteuer und Lebensfreude. Und ebenfalls stark unterschätzt worden war die Zunahme des internationalen Verkehrs. 1953 kamen 6 Prozent aller Automobile aus dem Ausland. 1960 waren es schon 30 Prozent. 2015 54 Prozent.35
Massenmotorisierung und Zeitgeist
Die Autos waren nicht nur erschwinglicher und zuverlässiger geworden. Dank des massiv ausgebauten Strassennetzes erschien das Auto als bequemer und schneller als der öffentliche Verkehr, und die Autofahrt entsprach auch dem Zeitgeist. Das Automobil war das eigentliche Schlüsselprodukt des Wirtschaftswachstums. Die Auswirkung der Massenmotorisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft war enorm, wie Oliver Washington erläutert: «Die Individualisierung wurde anfänglich vor allem in der Freizeit verwirklicht und beide zusammen fanden ihren ursprünglichen materiellen Ausdruck im Automobil. Dieses wurde zum wichtigsten Statussymbol und zentralen Identifikationsobjekt, das Freiheit und sozialen Aufstieg zugleich verkörperte, und damit zur eigentlichen Grundlage des neuen individualisierten Lebensstils, der automobilisierten Individualisierung.»36
Dank des Finanzierungsmodus (drei Fünftel des Treibstoffzollertrags sollten zur Finanzierung der Nationalstrassen verwendet werden) war für den Autobahnbau stets genug und auch immer mehr Geld vorhanden. 1960 brachten die Treibstoffzölle einen Ertrag von 74 Millionen Franken; 1970 waren es 647 Millionen und 1980 1502 Millionen.37 Die Autobahnen wurden gut und besser, damit wurde auch der Strassenverkehr attraktiver, es wurden mehr Autos gekauft, die ihrerseits über die Treibstoffzölle wiederum neue Einnahmen generierten. So drehte sich die Spirale aus Finanzierung, Autobahnbau und mehr Verkehr. Washington schreibt: «Bau und Finanzierung des Nationalstrassennetzes sind wohl das beste Beispiel für die vom Bund während den fünfziger und sechziger Jahren praktizierte bedarfsorientierte Infrastrukturpolitik: Auf eine Nachfragesteigerung wurde in der Regel mit einer Angebotsausweitung reagiert. Dieses Prinzip ist beim Nationalstrassenbau so zu sagen automatisiert.»38
Im August 1959 entsandte das Giornale del Popolo einen Berichterstatter an den Gotthardpass.39 Eine endlose Kolonne sei unterwegs gewesen, als zwei Wagen ineinanderstiessen. Innerhalb von einer Stunde sei ein Stau von mehr als zwölf Kilometern Länge entstanden. Zu keinem Zeitpunkt seien weniger als 500 Autos pro Stunde unterwegs gewesen. Die Spitzenwerte betrügen 900 Fahrzeuge und mehr. Gemäss Reglement müsse eine Strasse, über die in einem Jahr während mehr als dreissig Stunden 600 Fahrzeuge rollten, zur Strasse erster Klasse ausgebaut werden. Das gelte in der ganzen Schweiz, nicht aber am Gotthard.
Tessiner Strassenbaupläne
Aus den Tessiner Wahlen von 1959 waren eine neue, verjüngte Kantonsregierung und auch ein jüngeres Parlament hervorgegangen, die eine Wende in der kantonalen Politik bewirkten. Zu dieser neuen Generation von Politikern im Tessiner Staatsrat zählte FDP-Staatsrat Franco Zorzi. Er war von 1959 bis 1964 im Amt und ein wichtiger Fürsprecher des Autobahnbaus sowie des Gotthard-Strassentunnels im Tessin. Das entsprechende Gesetz auf eidgenössischer Ebene war noch gar nicht in Kraft getreten, als bei der Tessiner Baudirektion in Bellinzona schon am 7. Juli 1959 ein eigenes Nationalstrassenbüro eröffnet wurde, das Ufficio strade nazionali. Es verfügte über einen gewissen Handlungsspielraum und erarbeitete Pläne für die Autobahnprojekte im Tessin.40
Kurz vor der Veröffentlichung des Schlussberichts der Strassenbaukommission wandte sich die Tessiner Kantonsregierung am 30. Juni 1959 mit einem Memorandum vergeblich an den Bundesrat: Mit der Strassenbaupolitik müsse mehr denn je jenes Problem angegangen werden, das die Tessiner Kantonsregierungen seit Bestehen des Kantons beschäftige – die Isolation, welche die Entwicklung des Kantons hemme. Es müsse eine Verkehrsader geschaffen werden, die den europäischen Verkehr aufnehmen und eine schnelle Nord-Süd-Verbindung gewähren könne. Am 10. September 1959 unterstützte der Tessiner Grossrat die Demarchen in Bundesbern einstimmig.41
National- und Ständerat legten im Juni 1960 das Nationalstrassennetz fest. Der Bau des San-Bernardino-Tunnels und der gleichzeitige Verzicht auf jenen am Gotthard mobilisierten die Tessiner Politik. Damit werde das im Tessin ungeliebte SBB-Monopol am Gotthard geschützt.42 Kaum je war das Tessin politisch so geeint wie nun in der Strassenbaupolitik. Der Strassentunnel wurde zum Zentrum der politischen Debatte, erschien als jener Befreiungsschlag, der das Tessin von allen Problemen erlösen könnte.43 Der Bundesrat habe in keiner Weise Rücksicht genommen auf die lebenswichtigen Interessen des Tessins, schrieb der Tessiner Staatsrat. Das Tessin werde sofort das Studium eines neuen Tunnelprojekts anpacken.44 Damit werde dem SBB-Monopol am Gotthard der Kampf angesagt. Endlich beuge sich das Tessin nicht mehr angesichts des Unverständnisses in Bundesbern und angesichts der andauernden Ungerechtigkeit, die den Kanton in eine schädliche und erniedrigende Isolation führe, kommentierte Il Dovere.
Der Tunnel werde eine sichere Quelle für Wirtschaftswachstum und Wohlstand sein, und so werde das Tessin Anschluss finden an das Wachstum der europäischen Wirtschaft, meinte Franco Zorzi.45 An Kundgebungen und Veranstaltungen warb er für den Strassentunnel. In der NZZ trat er 1960 Argumenten eines Strassentunnelkritikers entgegen, der zugleich ein hoher SBB-Beamter gewesen war, jenen SBB, die aus Tessiner Sicht mit hohen Monopoltarifen der Wirtschaft schadeten: «Die heutige Diskussion um den Straßentunnel am Gotthard erinnert zuweilen in fataler Art, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, an die Auseinandersetzungen vor mehr als hundert Jahren», schrieb Zorzi, «wer sich damit zufrieden gibt, technische Bedenken zu äußern und zur Vorsicht zu mahnen, der handelt nicht, sondern er trägt nur dazu bei, das Bestehende zu verewigen. Wir andern hingegen verschließen unsere Augen nicht vor dem, was sich heute in der Welt und in Europa begibt, und erkennen die Gefahr der Trägheit, Tatenlosigkeit und bürokratischen Schwerfälligkeit. Wir leben in einer Zeit sich überstürzender Entwicklungen vor allem auf dem Gebiete der Technik, und was uns anbetrifft, so teilen wir die Meinung der Wirtschaftssachverständigen, die uns lehren, daß unweigerlich ins Hintertreffen gerät, wer sich als unfähig erweist, mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Schritt zu halten. Es ist unerläßlich, daß die Schweiz sich dieser Einsicht vor allem auf dem Gebiete des Verkehrs und der Straßenbaupolitik nicht verschließt, wenn sie des Vorzugs ihrer zentralen Lage in Europa nicht verlustig gehen will.»46
Bei einem «Variantenkrieg» konkurrenzierten sich im Kanton Uri die Tunnelprojekte Göschenen–Airolo und jene vom Urserental ins Tessin.47 Die Bevölkerung des Urserentals wünschte sich eine Tunnelverbindung zwischen dem Urserental und Airolo. Das Urserental befürchtete, sonst von der wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten zu werden. Es gehe gar um die Existenz der drei Urschner Dörfer. «Die Urner stehen wie ein Mann für den grosszügigen Ausbau am Gotthard» titelten die Luzerner Neusten Nachrichten ihren Bericht über eine Bürgerversammlung in Altdorf.48 In Scharen seien Bürger zu der vom Gewerbeverband organisierten Veranstaltung anmarschiert. Ein Schneepflug war drapiert, mit Aufschriften wie «Der Gotthard – Weg Europas» und «Fördert den Strassentunnel durch das Urserntal!». Nach zweistündiger Versammlung wurde jubelnd eine Resolution beschlossen, die energisch einen Gotthard-Strassentunnel postulierte. Bis 1963 sollte sich die Talbevölkerung immer wieder für einen hochgelegenen Tunnel einsetzen.