Durchschlag am Gotthard. Alexander Grass
am Gotthard) endlich dem Schweizervolk bekanntzugeben, hiess es da. «Wir dürfen nicht einfach zuwarten, bis, ähnlich wie beim ersten Tunnelbau, die Anregung zu einer Weiterentwicklung aus dem Ausland zu uns kommt, indem irgendein internationaler oder amerikanischer Konzern ein neues europäisches Verkehrsnetz legt und uns dabei die Gotthardroute als Spezialaufgabe zuweist.»
Seit seinem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) habe Gruner all seine überschüssige Zeit dem Gotthardproblem gewidmet. Ein fünfzig Kilometer langer Basistunnel, ein zwei- oder gar dreistöckiger Doppeltunnel für Bahn und Strasse – das war Gruners neues Projekt.13 Die Schweizerische allgemeine Volkszeitung kommentierte: «Die von Eduard Gruner geplante Kunstbaute dürfen wir uns somit nicht als Selbstzweck denken, sondern als das vitalste Werkzeug unserer Volkswirtschaft, wodurch auch die schweizerische Staatsraison für kommende Jahrhunderte auf neuer Basis gefestigt wäre.»
Der fünfte und sechste Anlauf 1953
An Ostern 1953 verteilte das Initiativkomitee Pro Gotthard in Andermatt ein Flugblatt. Bürger aus dem Urserental und das Baudepartement des Kantons Tessin hätten ein «Sofort-Aktionskomitee Pro Gotthard» gegründet, hiess es darauf. Alle Verkehrsinteressenten und Strassenbenützer sollten die Aktion mit ihrer Unterschrift unterstützen. Die zentralen Forderungen waren der Bau von Lawinenschutzgalerien in der Schöllenenschlucht, um die Strasse dort wintersicher zu machen, und der Bau eines Gotthard-Strassentunnels. Man nehme Fühlung auf mit schweizerischen, italienischen, französischen, belgischen und weiteren Automobilklubs, hiess es auf dem Flugblatt.14 Im Tessiner Staatsratspräsidenten Nello Celio fand man einen begeisterten Mitkämpfer, der später Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und Bundesrat werden sollte.
Im August 1953 folgte der sechste Anlauf zum Bau eines Strassentunnels: In einem Brief vom 19. August an die Baudirektionen von sieben Kantonen schrieb Nello Celio, dass er seit 1951 das Problem eines Gotthard-Strassentunnels prüfe.15 Er habe Herrn Dr. h. c. Arnold Kaech, der über eine ausgedehnte Erfahrung im Tunnelbau verfüge, beauftragt, ein Vorprojekt auszuarbeiten. An einer Sitzung sagte Celio, angesichts der Bedeutung des Alpenübergangs dürfe die Initiative nicht den Banken überlassen werden. Die Verladeeinrichtungen der SBB seien ungenügend, Flaschenhälse müssten verschwinden, hiess es an der Sitzung. Die Bedeutung des Verkehrs zwischen Zürich und Mailand sei ausserordentlich. Arnold Kaech, Ehrendoktor der ETH und Erbauer zahlreicher Wasserkraftanlagen, schrieb in seiner Studie, dass Autocars und Lastwagen an den steilen Streckenabschnitten und in engen Kurven den Verkehr behinderten.16 Lange Strecken seien verstopft und die Unfallgefahr steige. «Bei einer weitern Zunahme des Verkehrs werden diese Verhältnisse untragbar. Sie können nur in Ordnung gebracht werden, wenn die Autocars und Lastwagen von der Passstrecke weggenommen und durch einen Tunnel geführt werden.»
Kaech untersuchte zwanzig Tunnelvarianten im Alpenbogen von Chamonix bis Maloja. Die zentrale Lage und auch die direkte Verbindung zwischen den wirtschaftlichen Zentren in Norditalien und im Schweizer Mittelland sprachen in seiner Analyse für den Gotthard. Zugleich erschienen die baulichen Schwierigkeiten und die geologischen Verhältnisse dort einigermassen günstig. Drei Varianten stellte Kaech zur Wahl: einen Scheiteltunnel Mätteli–Motto Bartola, einen Mitteltunnel Hospental–Motto Bartola und einen Basistunnel Göschenen–Airolo. Nach komplexen Berechnungen unter Einbezug von Tunnelgebühren, Anlagekosten, Verkehrszahlen und Wintersperren erschien der 9750 Meter lange Mitteltunnel zwischen Hospental und Motto Bartola als die wirtschaftlichste Variante. Eine Frequenz von 160 000 Fahrzeugen im Jahr genüge, um einen Bruttoertrag von sechs Prozent zu erzielen (für das Jahr 1960 prognostizierte Kaech einen Tunnelverkehr von 113 000 bis 160 000 Fahrzeugen).17 Der tiefliegende Tunnel von Göschenen nach Airolo erschien Kaech aber als nicht wirtschaftlich.
Wenn schon ein Strassentunnel, dann von Göschenen nach Airolo, so die Antwort eines Kritikers in den Luzerner Neusten Nachrichten auf die Tessiner Tunnelpläne: «Die Situation ist doch die, daß die Schöllenen bei einer einigermaßen normalen Witterung im Winter nicht offengehalten werden kann. Versuche wurden schon zu verschiedenen Malen unternommen, unseres Wissens scheiterten sie, da sich die Natur immer stärker erwiesen hat als der Mensch. Die größten Maschinen nützen nämlich nichts, wenn der Schnee so dicht fällt, daß die Straße hinter der Schneeschleuder vorweg wieder zugeschneit wird, wenn die Winterstürme toben und Mensch und Material gefährden. Im besten Falle wäre der Materialverschleiß so enorm, daß er sich nicht lohnen würde. Somit käme doch für einen Autotunnel nur die Basis Göschenen–Airolo in Betracht.»18
Das Urner Wochenblatt warnte vor der Tunnelangst: Kaechs Mitteltunnel wäre der längste Autotunnel der Welt, um ein Mehrfaches länger als andere Autotunnel in New York, Antwerpen oder Liverpool. Der Tunnel sei eng und niedrig. Sogar Lokomotivführer müssten erst in vielen Probefahrten «Gotthard-Tunnel-tauglich» werden. «Es ist eine Beanspruchung des ganzen Nervensystems von nicht zu unterschätzender Stärke und erfordert ein gesundes Herz. […] Im zweiten, dritten Kilometer verliert [der Chauffeur] vollkommen das Geborgenheitsgefühl, auch bei bester Lüftung wird’s ihm zu eng, ist er nicht ganz herz- und nervensicher, wird’s ihm im sechsten, siebenten Kilometer trümmlig.»19
Dazu kamen regionale Widerstände. Die Ostschweizer setzten auf den Tunnel durch den San Bernardino und waren gegen den Gotthard. Die Ostschweizer Kantonsregierungen forderten in einer gemeinsamen Eingabe an die Landesregierung die teilweise Erfüllung des aus der Zeit des Gotthardbahnbaus herrührenden Ostalpenbahn-Versprechens.20 Im Eisenbahngesetz von 1872 sei der Ostschweiz eine Alpenbahn versprochen worden. Das Versprechen sei nie eingelöst worden. Gefordert wurde die unbedingte Priorität für einen ganzjährig befahrbaren Alpenstrassentunnel, der die Ostschweiz mit dem Tessin verbinde.
Die Westschweiz gab dem Simplon und dem Grossen St. Bernhard den Vorzug. Und es wurde an den Vorschlag des ETH-Ingenieurs Albert Coudrey aus Martigny erinnert, der eine neue Strecke westlich des Gotthards vorschlug: Ein Tunnel unter dem Grimselpass solle die Kantone Bern und Wallis verbinden, von dort solle ein zweiter Tunnel ins Tessiner Bedrettotal führen, wo ein dritter Tunnel ins Maggiatal und die offene Strecke nach Locarno folgen sollten.21
Die SBB bekämpften den Strassentunnel, hatten sie doch während sieben Monaten im Jahr ein Transportmonopol inne am Gotthard. Die Kreisdirektion II der SBB schlug einen zweiten einspurigen Gotthard-Bahntunnel vor, der dem Autotransport dienen sollte und dank dessen neu 220 Fahrzeuge pro Stunde durch den Gotthard befördert werden könnten. Am Ende scheiterte Kaechs Projekt an der Ablehnung in Bundesbern und wurde ad acta gelegt.22
Strassenbau ohne nationale Koordination
Italien und Deutschland waren die Pioniere im europäischen Autobahnbau ab 1950. In Deutschland wuchs das Autobahnnetz zwischen 1960 und 1980 von 2700 Kilometer Länge auf 9200, in Italien von 1000 Kilometer Länge auf 5900.23 Preisgünstige Automodelle wie der Fiat 500, der VW Käfer oder der Citroën 2CV wurden zu Symbolen der Massenmotorisierung. Im Jahr 1950 unterzeichneten fünf Staaten eine Erklärung zum Bau eines europäischen Fernverkehr-Strassennetzes. Sieben weitere Länder schlossen sich an, doch die Schweiz blieb abseits – der Strassenbau war Sache der Kantone. Die Schweizer Debatte war geprägt von regionalen und kantonalen Interessen.
«Gotthard offen» titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu Ostern 1954.24 Die Schneefräse «Peter» habe sich mit ihren 160 Pferdestärken zum Pass hochgearbeitet. Die Gotthardstrasse sei nun durchwegs sechs Meter breit: «Ihre Oberfläche besteht zum Teil aus Granitpflaster und in den zuletzt vollendeten Stücken zum Teil aus Beton. Sogar auf dieser Höhe hat sich der Beton bewährt. Der Ausbau der Straße zwischen Airolo und der Urner Grenze kostete etwa sieben Millionen Franken, wovon 65 bis 70 Prozent als Alpenstraßenbeitrag vom Bund getragen wurden.» Der Bau eines ganzjährig offenen Strassentunnels sei aber noch Zukunftsmusik. «Der regionale Wettbewerb um die Sicherstellung der ganzjährigen Nord-Süd-Verbindung auf der Straße ist in voller Entwicklung begriffen. […] Freilich wird über kurz oder lang eine ordnende Hand dem Ausbruch einer helvetischen Konfusion vorbeugen müssen, und es wird erforderlich sein, von höherer Warte die Anwartschaften zu wägen und Entscheide zu treffen.»
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