Durchschlag am Gotthard. Alexander Grass
des Automobilverkehrs am Gotthard von 1970 bis 2016. 1979, ein Jahr vor der Tunneleröffnung, nutzten insgesamt 1 285 000 Fahrzeuge die Gotthardstrecke. 2009, dreissig Jahre später also, waren es über fünf Mal mehr, 6 792 000 Fahrzeuge nämlich.
Daten Strassentunnel: Dipartimento del Territorio Sezione della mobilità – Osservatorio Ambientale: 150 – A2 – Gottardo (Tunnel). Evoluzione del traffico giornaliero (TGM) mensile e annuale. Bellinzona 2017. Daten Gotthardpass: Dipartimento del Territorio Sezione della mobilità – Osservatorio Ambientale: 010 – Passo del S. Gottardo. Evoluzione del traffico giornaliero (TGM) mensile e annuale. Bellinzona 2017. Daten Verlad SBB: Gisler-Jauch, Rolf: Uri und das Automobil: des Teufels späte Rache? Soziale und wirtschaftliche Auswirkungen des Automobils auf das Urnerland. Zürich/ Altdorf 1994, S. 405ff.
1986 wurde bei Biasca das letzte Teilstück der Gotthardautobahn N2 eröffnet. Die Autobahn von Dänemark bis Reggio Calabria war damit durchgehend geworden. Ein mit Schuhen beladener Lastwagen aus Italien war das erste Fahrzeug auf der Strecke. Das Tessin hatte gehofft, dass es dank des Tunnels Anschluss finden könne an das Wirtschaftswunder im Norden. Eine ganzjährig offene Strassenverbindung durch den Gotthard könne die Wirtschaftsentwicklung im Tessin wesentlich fördern, hatte es noch 1963 im Bericht zur Schaffung einer wintersicheren Strassenverbindung geheissen.76 Die Prognos AG kam zum gleichen Schluss: Die mangelnde Transportkapazität der Bahn sei für das Tessin zum Hemmschuh geworden. Die Konkurrenzsituation von Tessiner Firmen verbessere sich mit der wintersicheren Strassenverbindung, zahlreiche Unternehmen würden ihre Transporte von der Schiene auf die Strasse verlagern und auch der Tourismus werde profitieren.77
Den erhofften Aufschwung im Tourismus brachte der Tunnel aber nicht. Jahrzehntelang war das Tessin für Reisende aus dem Norden der erste Süden gewesen, wo sie gerne ihre Ferien verbrachten. Bei gleichbleibender Reisezeit erreichten Touristen aber nun durchaus auch das Mittelmeer. Als der Tunnel eröffnet wurde, zählte das Tessin noch über drei Millionen Übernachtungen pro Jahr. 2019 hatte sich die Zahl bei gut zwei Millionen eingependelt. Gründe für den Rückgang waren vermutlich günstig gewordene Fernreisen und billige Angebote am Meer.
Was die übrige Tessiner Wirtschaft anbelangt, fällt die Antwort schwerer. Das Tessin gehört zu den am stärksten auf den Export ausgerichteten Kantonen der Schweiz. Fast jeder zweite Franken (43 %) im Tessin wird mit Exporten verdient, und die grössten Märkte befinden sich im Norden – umso abhängiger ist die Tessiner Wirtschaft vom Transportsystem. Ein grosser Teil dieser Warenströme wird durch den Gotthard abgewickelt. Die Autobahn und der Strassentunnel haben diese Entwicklung begünstigt oder waren gar Voraussetzung dafür. Was aber wäre gewesen, wenn der Strassentunnel nicht gebaut worden wäre? Der Eisenbahn-Basistunnel wäre wohl früher fertiggestellt worden. Und der Strassenverkehr hätte sich durch Graubünden und den San Bernardino gezwängt.
III
14 Varianten und ein Projekt
«Freie Bahn für den Gotthardstrassentunnel» titelte die NZZ am 25. Juni 1965:1 National- und Ständerat hatten einstimmig für die Ergänzung des Nationalstrassennetzes durch einen Strassentunnel am Gotthard gestimmt. Schon bei der Beratung des Nationalstrassennetzes 1960 sei offensichtlich gewesen, dass die Verkehrszunahme rascher eintreten werde als geplant und dass der Autoverlad am Gotthard an seine Grenzen stossen werde, schrieb der Berichterstatter Christian Clavadetscher.
Aus der ehemaligen Studiengruppe Gotthardtunnel wurde die «Baukommission Gotthardtunnel» gebildet. Sie war das vom Eidgenössischen Amt für Strassen- und Flussbau (EASF) und von den Kantonen Uri und Tessin bevollmächtigte Organ. Eine pragmatische Planungsarbeit schien sich abzuzeichnen. Doch in der Öffentlichkeit wurden noch einmal Grundsatzfragen diskutiert. Die Einführungsvorlesung des ETH-Professors Hans Grob sorgte für Ärger in der Bundesverwaltung.2 Grob war von 1964 bis 1985 Professor an der ETH und ein Befürworter des Bahnbasistunnels. Eine rollende Strasse in einem Bahnbasistunnel koste weniger als der Selbstfahrertunnel zwischen Göschenen und Airolo, lautete Grobs Fazit, sie sei leistungsfähiger und sicherer. Er bedaure den Beschluss zum Bau des Strassentunnels. Die Vorlesung erschien als Sonderdruck in der Schweizerischen Bauzeitung, sie wurde auch in der NZZ abgedruckt, und Professor Grob legte mit einem zweiten Text nach, den er dem Bundesrat direkt zusandte.3 «Anderthalb Milliarden am Gotthard verschleudert», titelte Die Tat. In Leserbriefen war vom Gotthardabenteuer die Rede. Nicht einmal die SBB-Baudirektion war glücklich über Grobs Schützenhilfe. Der Mischverkehr von Autozügen, Güter- und Reisezügen werde problematisch, schrieb sie.4 Eine rollende Strasse grosser Leistungsfähigkeit habe keinen Platz im Basistunnel. Grobs Vorstoss sei ein «Sabotageversuch», fand der gesamte Tessiner Staatsrat.
In der Landesregierung zuständig war Hans Peter Tschudi. Er war von 1959 bis 1973 Bundesrat, als Vorsteher des Innendepartements gehörte der Nationalstrassenbau zu den grössten Dossiers des Sozialdemokraten. Die Antwort von Bundesrat Tschudi an Professor Grob war diplomatisch, aber deutlich: «Die von Ihnen vorgebrachten Argumente zugunsten einer sogenannten rollenden Strasse und eines Basis-Eisenbahntunnels sind mir sehr genau bekannt. Sie wurden in der Hauptsache bereits von der Studiengruppe Gotthardtunnel behandelt. Der Bundesrat hat sich sehr eingehend mit ihnen auseinandergesetzt, bevor er den Antrag auf Bau des Gotthard-Strassentunnels Göschenen–Airolo stellte. Die Eidg. Räte haben den entsprechenden Beschluss einstimmig gefasst. Dieser Entscheid ist für den Bundesrat verbindlich; er hat ihn auszuführen. Wie Sie mit Recht schreiben, dürfen die höchst dringlichen Arbeiten nicht verzögert werden.»5
Der Ball lag nun bei der Baukommission, und ihr Vorgehen war ungewöhnlich.6 Zu Beginn wurden vier Ingenieurbüros aus der Deutschschweiz und aus dem Tessin eingeladen, in einer Art Wettbewerb Vorschläge für einen Strassentunnel zwischen Göschenen und Airolo einzureichen.7 Drei Projekte mit schnurgeraden Tunnels, deren Lüftungsschächte sich jedoch in schwer zugänglichem Berggebiet befanden, wurden vorgeschlagen. Das Projekt von Giovanni Lombardi aber sah einen Tunnel vor, der in einem Bogen den Taleinschnitten an der Erdoberfläche folgte und der darum länger war als die gerade Verbindung zwischen Göschenen und Airolo.8 So wurden die Belüftungsschächte besser zugänglich und weniger tief, also weniger kostspielig. Lombardis Tunnel war also länger, aber dennoch 100 Millionen Franken günstiger.
Giovanni Lombardi wurde 1926 geboren und starb 2017. Er war Bauingenieur und Ehrendoktor der ETH und führte ab 1955 sein eigenes Büro bei Locarno, war tätig bei Brücken-, Staudamm- und Tunnelbauten. 1965 beschäftigte das Büro bereits achtzig Angestellte und bot sich an für die Projektierung und Bauleitung des längsten Strassentunnels der Welt am Gotthard. Giovanni Lombardi war einer der ersten Ingenieure, die Elektronenrechner einsetzten, und so konnte er mit begrenztem Zeitaufwand eine ganze Anzahl von Varianten durchrechnen. Er verwendete neue Werkstoffe im Tunnelbau und setzte auf die wissenschaftliche Avantgarde, die Formeln der Felsmechanik einsetzte anstelle des bis dahin verbreiteten Erfahrungswissens. Lombardi war am Eurotunnel beteiligt, er gewann den Planungswettbewerb für einen 38 Kilometer langen Bahntunnel unter der Strasse von Gibraltar hindurch, und nicht zuletzt ist sein Name verbunden mit dem Bau des Gotthard-Basistunnels. Lombardi baute in seinem Leben Tunnel mit einer Gesamtlänge von über 1000 Kilometern. Er war einer der ganz Grossen im Tunnelbau.
Eine Jury beurteilte die 14 eingereichten Varianten zum Vorprojekt. Dann standen zwei Projekte im Vordergrund: das 2-Schacht-Projekt mit seitlichem Frischluftstollen von Motor Columbus und des Ingenieurbüros der Maggia-Kraftwerke sowie das 4-Schacht-Projekt, das vom Ingenieurbüro Lombardi zusammen mit der Elektrowatt Ingenieurunternehmung entwickelt worden war.9 Der Bundesrat gab am 15. Mai 1968 zwei generelle Projekte frei zur Ausschreibung.10 Beide Varianten zeigten bei einer ersten Schätzung sehr ähnliche Anlage- und Betriebskosten. Die Ausschreibung sollte zeigen, welche Variante die günstigere sei. Die Akten wogen 120 Kilogramm. Die interessierten Firmen hatten je ein Angebot für beide Varianten im Baulos Nord und Süd einzureichen, insgesamt also vier Offerten. Die Preisliste jedes Loses umfasste 2500 Positionen, so mussten in jeder Offerte 20 000 Preise gerechnet werden. Die Daten wurden auf Lochkarten erfasst und mit Computern ausgewertet.