Tinnitus. Eberhard J. Wormer
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Vorwort
Sie können sie nicht mehr hören!!! Störgeräusche im Ohr, die Sie auf Schritt und Tritt als lästige, ermüdende und einfallslose Klanginstallation im Kopf ertragen müssen. Ein Tinnitus macht sich bemerkbar. Er ist urplötzlich aufgetreten und will dann partout nicht mehr aufhören. So ergeht es vielen Menschen. Tinnitus hat sich offenbar in den letzten Jahrzehnten in epidemischem Maßstab ausgebreitet, in Industrie- und Schwellenländern gleichermaßen, weltweit. Ist Tinnitus eine „Globalisierungserkrankung“? Ist Tinnitus die unüberhörbare Antwort der gestressten Seele auf allgegenwärtigen Lärm, auf den Verlust von Geborgenheit und Sinnlichkeit, auf die überzogenen Leistungsanforderungen der technisierten Welt? Ist Tinnitus die verzweifelte Reaktion des menschlichen Körpers auf das ständige Gefühl der Bedrohung und Hilflosigkeit, die er wehrlos und ohnmächtig ertragen muss?
Ohrgeräusche sind zwar nur ein Symptom, können den Menschen aber auf Dauer durchaus krank machen. Viele Betroffene „arrangieren“ sich mit ihrer inneren „Hintergrundmusik“. Andere geraten hingegen in den Zustand nackter Verzweiflung oder werden an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie stecken schlaflos fest im Teufelskreis von Tinnitus, Resignation und Depression. Die Lage erscheint hoffnungslos.
Was ist da los im Kopf? Woher kommen Ohrgeräusche? Wie entsteht Tinnitus? Bekommt man ihn wieder weg oder muss man damit leben? Gibt es wirksame Mittel gegen chronische Ohrgeräusche? Alles ungelöste Fragen, leider. Erschwerend kommt hinzu, dass nur Sie selbst als Betroffener den Tinnitus wahrnehmen, niemand sonst. Glaubt man Ihnen wirklich, dass Sie unter den permanenten Ohrgeräuschen schwer leiden? Oft wird daran gezweifelt und Ihr Leidensdruck wächst weiter. Am Ende heißt es dann: Da kann man nichts machen. Falsch! Sie selbst können sehr viel tun, um Ihr Leiden in den Griff zu bekommen. Davon handelt dieses Buch.
Das Ohr ist ein kompliziertes Sinnesorgan und der Hörprozess ist noch weitaus komplexer. Das Gehör ist immer eingeschaltet, vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Alles, was Sie hören, wird in der Hörschnecke in Nervensignale umgewandelt. Anschließend werden diese Tonsignale zusammen mit den Signalen anderer Sinnesorgane durch hochgradig vernetzte Hirnzentren zur sinnlichen Erfahrung der Welt integriert. Ja, es stimmt: Das Ohr bringt die Welt in den Menschen. Musik entsteht im Kopf. Musik ist pures Gefühl. Diese wunderbare unerklärliche Fähigkeit des Menschen verhindert bislang, dass Medizin und Wissenschaft hier gezielt, manipulativ und wirksam eingreifen können, wenn der Tinnitus zuschlägt. Jenseits der Hörschnecke gibt es keine explizite medizinische Therapie. Andererseits ist vor allem das unbegrenzte Lernvermögen des Gehirns der Schlüssel zur Lösung des Tinnitus-Problems.
Man hat erkannt, dass es darum geht, die Bewertung des Tinnitus zu verändern. Ungewohnte Geräusche werden naturgemäß als bedrohlich empfunden und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Je mehr Aufmerksamkeit Ohrgeräusche bekommen, umso größer ist die Gefahr, dass sie sich als „Tinnitus-Gedächtnis“ im Kopf dauerhaft einnisten. Aus diesem Grund besteht die erfolgreichste Anti-Tinnitus-Strategie darin, sich gewissermaßen an die Ohrgeräusche „zu gewöhnen“. So versuchen Sie, die Bedrohlichkeit und negativen Assoziationen des Tinnitus zu beseitigen. Sie lenken Ihre Aufmerksamkeit vom Ohrgeräusch ab und geben ihm den Status vollkommener Bedeutungslosigkeit. Viele Betroffene profitieren davon, dass sie mit Geduld und Zuversicht ihr Gehirn so „umprogrammiert“ haben, dass der Tinnitus keine Rolle mehr spielt – oder sogar verschwindet. In jedem Fall erreichen Sie wieder eine Lebensqualität, die Sie schon verloren glaubten. Erfolgreiche Tinnitus-Therapie bezieht den ganzen Menschen ein: Körper, Psyche und Seele. Sie werden sehen, es lohnt sich, diesen Weg zu gehen.
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte des Tinnitus so umfassend und aktuell wie möglich. Informationen über die Funktionen des Ohrs und Gehörs, über das Wesen, die Ursachen, die Diagnose und Behandlungsoptionen von Ohrgeräuschen sind der erste und wichtigste Schritt zur Bewältigung des Tinnitus-Problems. Gehen Sie davon aus, dass Sie zu einem neuen, positiven Lebensgefühl zurückfinden und die Lust am Leben wiederentdecken, wenn Sie erleben, dass Sie die Macht besitzen, etwas zu verändern. Es spricht nichts dagegen! Sie können nur gewinnen.
Dr. med. Eberhard J. Wormer
Weltmusik
Wir reisen durch Raum und Zeit. Unsere Ohren sind in ausgezeichnetem Zustand. John Cage
Das Auge führt den Menschen in die Welt – das Ohr bringt die Welt in den Menschen. In Zeiten der modernen digitalen Bilderflut gerät die Geräuschkulisse unserer Lebenswelt allzu leicht ins Abseits. Bilder dominieren. Geräusche und Klänge werden nur noch unterschwellig wahrgenommen. Das bedeutet aber keineswegs, dass Schallempfindungen wirkungslos bleiben. Im Gegenteil! Alles was wir hören, wird in einem komplizierten Klangverarbeitungsprozess im Gehirn aufbereitet, bewertet und mit passenden Gefühlen versehen. Geräusch und Klang sind Sinnlichkeit pur – eigentlich, wären da nicht Lärmemissionen, die einen permanenten körperlichen Alarmzustand verursachen.
Wir schließen die Augen und die äußere Bilderwelt verschwindet. In der Nacht erholt sich das Auge von der optischen Reizüberflutung tagsüber. Aber das Ohr schläft nie! Es ist immer in Betrieb, 24 Stunden, rund um die Uhr, Tag und Nacht, lebenslang. Das Ohr ist das erste und wichtigste Sinnesorgan des Menschen: Es funktioniert bereits vor der Geburt und es schließt die Pforten der Wahrnehmung ganz zuletzt, wenn das Leben erlischt.
Ja sicher, Lärm ist Leben. Lärm ist aber auch Stör- und Stressfaktor Nummer eins. Darauf weist die Tatsache hin, dass immer mehr Menschen von den hartnäckigen SOS-Morsezeichen eines Tinnitus oder dem Absturz des Gehörs betroffen sind. Wenn sich Ohrgeräusche im Kopf festsetzen, wird man sie kaum wieder los.
Sind unsere Ohren diesem anflutenden Schall-Tsunami gewachsen? Eher nicht. Wenn die äußere Klangwelt chaotisch, laut und lärmend ist, entsteht dann nicht eine ebensolche beunruhigende innere Klangwelt – ein Leben latenter Beunruhigung? Möglich, wahrscheinlich, ja. Vielleicht sollten wir uns mehr Zeit nehmen, genauer hinzuhören.
Stille, Musik, Lärm
Absolute Stille gibt es nicht. Aber es gibt ein subjektives Gefühl für Stille. Sie wird erst durch den Kontrast des Geräuschs erfahrbar. Je nachdem, wie intensiv Stille empfunden wird, umso stärker wird ein Geräusch als Lärm eingestuft. Hören ist subjektiv. Jeder Mensch hört und empfindet anders.
Wollte man Musik mit der einfachst möglichen Formel definieren, würde diese so lauten: Musik ist die strukturierte Abfolge von Stille und Klang. Rockmusik mit Dauerlautstärke ermüdet den Zuhörer rasch oder verursacht Stress, das ist bekannt. Erst das balancierte Zusammenspiel von laut und leise, von Klangbewegung und Pausen, von Rhythmus und Melodie, macht Musik zur emotional berührenden Hörerfahrung: Balsam für die Seele.
Was ist Stille? Begibt man sich in einen schalltoten Raum oder legt man sich in einen Floating-Tank, wird man dennoch in kürzester Zeit Geräusche und Klänge wahrnehmen. Wie kann das sein? Es sind Geräusche, die der Körper selbst erzeugt, die man in der Stille hört. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass das Gehirn der Ort ist, wo Musik produziert und gespielt wird. Gesundes Hören bedeutet, eine Empfindsamkeit für die Abfolge von Stille und Geräusch zu haben. Versuchen Sie einmal ganz bewusst die Sounds of Silence zu hören: Vogelgezwitscher, Blätterrauschen, plätschernde Gewässer, summende Bienen, Grillenzirpen, Meeresrauschen oder den Flügelschlag eines Vogels. Wie belastend muss es sein, wenn die Stilleempfindung verloren geht, weil man vom Dauergeräusch des Tinnitus gepeinigt wird?
Das Basismaterial von Musik ist Klang und Stille, der Komponist John Cage (1912–1992) liebte die Stille in der Musik.
Alles, was wir hören, von Geburt an bis zum Lebensende, wird im Gehirn gespeichert. Je stärker und dauerhafter monotone Geräusche das Ohr erreichen, desto stärker ist die Belastung für das Hörorgan. Hinzu kommen die Anforderungen des auf Leistung getrimmten, hoch technisierten Lebens, schädliche Umwelteinflüsse, ein ungesunder