Tinnitus. Eberhard J. Wormer

Tinnitus - Eberhard J. Wormer


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Gelenkprobleme, Depression, Schwerhörigkeit oder Tinnitus. Die Sinnesorgane sind an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen und geben auf.

      „Wo immer wir sind, hören wir hauptsächlich Lärm. Wenn wir ihn ignorieren, stört er uns. Wenn wir ihm zuhören, fasziniert er uns.“ Das bemerkt John Cage (1912–1992), einer der einflussreichsten Komponisten der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Über Musik schreibt er: „Das Basismaterial von Musik ist Klang und Stille.“ Wie verstörend oder gar unerträglich Stille auf den lärmumbrausten modernen Menschen wirkt, zeigte die Aufführung seines Stückes 4‘33“ (vier Minuten 33 Sekunden), bei der kein einziger Ton gespielt wird. Nur das Auf- und Zuklappen des Klavierdeckels durch den Pianisten erzeugt Geräusche.

      Auf der Suche nach Stille

      Anlässlich einer Australienreise hatte ich mir vorgenommen, in der weiten Buschlandschaft des Outback einen Ort maximaler Stille zu finden. Das erwies sich sogar auf dem dünn besiedelten australischen Kontinent als relativ schwierig. Schließlich erreichte ich zur Mittagszeit einen solchen Ort. Es gab dort nur zwei Bäume, in deren Schatten ich mich niederließ. Nichts regte sich, ich lauschte der schweigenden Natur und genoss das Gefühl einer beruhigenden Stille. Ein leichter Windhauch streifte die Blätter. Ich erschrak. Diese objektiv sanfte Bewegung der Blätter rief bei mir den subjektiven Eindruck hervor, ein lautstarker Orkan hätte den Baum erfasst. Ich wusste nun, was Stille ist.

      Dauerlärm macht krank. Das weiß man heute. Medizin, Politik und Wirtschaft betonen, dass sie die „Lärmverschmutzung“ im Blick haben und etwas dagegen tun wollen – die üblichen Versprechungen. Oftmals kommt davon wenig in der wirklichen Welt an. Es bleibt trotz verbessertem Lärmschutz vielerorts beim Lärmterror. Vor allem dann, wenn wirtschaftliche Interessen dominieren. Daran wird sich in absehbarer Zeit nicht viel ändern. Besser, Sie ergreifen selbst die Initiative und suchen ganz bewusst nach Momenten der Stille, wo Sie zu Ruhe, Gelassenheit und sinnlicher Achtsamkeit zurückfinden. Das ist gut für die Ohren, für die Gesundheit und für die Seele.

      Lärm ist gleich Leistung, Kraft und Stärke!? Hand aufs Herz, spielt die Lärmemission wirklich eine Rolle, wenn Sie eine Bohrmaschine oder einen Rasenmäher kaufen? Vermutlich nicht, sonst gäbe es nicht die unablässigen Klagen der Nachbarschaft über unerträgliche Lärmbelästigung. „Wenn die Kundschaft vermehrt nach schallgedämpften Geräten fragen würde, hätte ich davon mehr im Angebot. Das ist aber nicht der Fall“, erklärt ein Händler.

      Seit Längerem versucht man mit großem Aufwand, Industrieprodukten ein psychoakustisches Sounddesign zu verpassen. Autohersteller bieten nicht nur programmierte Geräuschkulissen im Innenraum von Fahrzeugen an, sondern entwickeln auch kostensenkende lärmarme Beschallungssysteme im Auspuff. Dennoch scheint an markenspezifischen Klangcharakteristika kein Weg vorbeizuführen: Ein BMW soll wie ein BMW, ein Porsche wie ein Porsche „klingen“. Künstlichkeit in allen Lebensbereichen ist auf dem Vormarsch: künstliche Geschmacksstoffe, virtuelle Bilder, synthetische Klänge.

      Lärm und Klang liegen oft dicht beieinander. Tosender Straßenverkehr hat einen ähnlich hohen Schallpegel wie eine Kirchenorgel. Kann man Lärm in Wohlklang verwandeln? Mit dieser Frage beschäftigen sich Sounddesigner. So gibt es die Idee, die Lärmkulisse von Autobahnen flächendeckend mit Grillenzirpen oder Möwengeschrei anzureichern, um den akustischen Eindruck von Meeresrauschen hervorzurufen. Es wurde auch schon ein Rasenmäher mit dem Geräusch eines grasenden Lamas versehen.

      Psychoakustische Anti-Schall-Technologie kommt zur akustischen Optimierung von Fahrgasträumen in Flugzeugen, Zügen und Bussen zum Einsatz. Andererseits ist die Arbeit in Großraumbüros nur möglich, wenn das Hintergrundrauschen einen Pegel von 40 bis 60 dB hat. Dann wird das eigene Ohr von den Gesprächen und Geräuschen der Nachbarn abgelenkt. Allerdings ist hier der Grenzwert zum krank machenden Lärm bereits erreicht. Wer Tag für Tag ein solches Krachszenario ertragen muss, kann mit erhöhter Stressanfälligkeit und absehbarer vegetativer Erschöpfung rechnen.

      Die Psychoakustik gehört zum Fach Psychophysik. Psychoakustik untersucht das Verhältnis von Schallwellen (objektiver physikalischer Reiz) und dem Klangeindruck beim Hörer (subjektive Schallwahrnehmung). Lautstärke, Tonhöhe und Klangfarbe spielen für die Klangempfindung eine wichtige Rolle. Beispielsweise empfindet ein gesunder Mensch leisen Wind oder Blätterrauschen (etwa 30 dB) als sehr leise und achtet nicht weiter darauf. Ein Ohrgeräusch ist objektiv meist noch leiser als Blätterrauschen, kann den Betroffenen aber dennoch zur Verzweiflung bringen.

      Klangbearbeitung im digitalen Tonstudio (DAW) – ähnlich komplex geht es auch bei der Klangverarbeitung im menschlichen Gehirn zu.

      Wie ist das möglich? Ganz einfach, die Psyche jedes Menschen ist einzigartig konfiguriert. Der eine stört sich an lauten, der andere an leisen Geräuschen. Der eine kommt mit einem Dampfmaschinen-Tinnitus gut zurecht, der andere empfindet sein „Blätterrascheln“ im Ohr als Folter. Die Wahrnehmungen des Menschen sind subjektiv. Das muss man akzeptieren.

      Wie wird aus den Schallwellen in der Luft ein empfundener Klang? Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, möchte ich eine Analogie aus der Musik benutzen. Da ich selbst Musiker bin, bis zum Stimmbruch mit Sopranstimme gesungen, Klavier studiert und ein geschultes Gehör habe, interessierte mich diese Frage schon immer. Heutzutage wird vielerorts Musik im digitalen Heimstudio zu Hause produziert. Da bietet sich ein Vergleich an.

      Zunächst braucht man einen Klangerzeuger: die menschliche Stimme, akustische oder elektronische Instrumente – oder jedes andere Umgebungsgeräusch. Für eine Tonaufnahme akustischer Ereignisse benutzt man ein Mikrofon. Der Mensch besitzt am Kopf zwei Mikrofone, die Stereoaufnahmen bzw. eine räumliche Vorstellung von Klängen übertragen. Wie im Mikrofon versetzen Schallwellen eine Membran, das Trommelfell, in Schwingungen, die über die Gehörknöchelchen im Mittelohr das Innenohr erreichen. Dort werden sie in der Hörschnecke (Corti-Organ) in elektrische Impulse/Signale umgewandelt. Auch eine Vorverstärkung ist in den Ohrmikrofonen vorhanden.

      Das Mikrofonkabel leitet die elektrischen Tonsignale zur zentralen Verarbeitung weiter. Dies geschieht im Körper via Hörnerv. Schließlich landen die Klangsignale im Computer, der mit einer Software digitalisiertes Audiomaterial verarbeitet. Klänge werden auf der Festplatte als digitale Information abgespeichert und können später abgerufen und bearbeitet werden. Auf diese Weise entstehen riesige digitale Klangbibliotheken. Damit aus rohen Klängen Musik wird, stellt die Software ein Mischpult, Audioeffekte/-werkzeuge bereit. Damit erzeugt man, etwa unter Verwendung von Kompressoren, Equalizern, Filtern und Limitern, aus vielen Spuren Audiomaterial einen finalen Mix, der im besten Fall ein emotional bewegendes Musikstück ergibt.

      Da das Gehör des Ungeborenen bereits ab dem vierten Entwicklungsmonat funktioniert, beginnt der Mensch mindestens zu diesem Zeitpunkt eine Klangbibliothek anzulegen, die lebenslang ausgebaut wird. Die „digitale“ Verarbeitung von Audiomaterial wird vom Nervensystem übernommen – in der zentralen Hörbahn/- verarbeitung. Es gibt gut vernetzte Zentren für Sprach- und Musikverarbeitung sowie Verbindungen zu Zentren der Glücks- und Angstverarbeitung (das wäre etwa die Abteilung Filter/Effekte). Das reine Geräusch bekommt so eine emotionale Qualität: angenehm, unangenehm, schön, traurig, aggressiv, aufgeregt u.a. – man denke an Freude schöner Götterfunken von Ludwig van Beethoven.

      Je stärker der Klang mit einem Gefühl assoziiert wird, desto mehr werden sie zum Bestandteil des finalen „Audiomix“ in der Klangwahrnehmung. Die meisten Geräusche sind bekannt bzw. im Klangspeicher als ungefährlich und unbedeutend markiert. Sie werden vom hörverarbeitenden System ausgeblendet (Rauschunterdrückung/-filter).

      Da unersättliche Neugier und Lernfähigkeit Merkmale des menschlichen Gehirns sind, schenkt es neuen unbekannten Geräuschen besondere Aufmerksamkeit. Das Gehirn sucht überall im Speicher nach bekannten akustischen Mustern. Wird es nicht fündig, bleibt das Geräusch weiterhin in der Wahrnehmung präsent. Immer mehr Nervenzellen beschäftigen sich mit dem Klangphänomen und bilden allmählich eine vernetzte Struktur,


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