Tinnitus. Eberhard J. Wormer
Schalldruck und Schalldruckpegel: Was ist wie laut?
Situation/Schallquelle | Schall-druck (p) | Schall-druckpe-gel (dB) |
militärisches Sonar unter Wasser (1 m Entfernung) | 1.000.000 | 240 |
M1-Gewehr (1 m Entfernung) | 5.000 | 168 |
Düsenflugzeug (30 m Entfernung) | 630 | 150 |
Gewehr (1 m Entfernung), Fußballstadion | 200 | 140 |
Schmerzschwelle | 100 | 134 |
Gehörschäden: kurzfristige Einwirkung | 20 | ≥ 120 |
Düsenflugzeug (100 m Entfernung) | 6,3–200 | 110–140 |
Presslufthammer (1 m Entfernung), Diskothek, Rockkonzert, Musik im Orchestergraben | 2 | 100 |
Gehörschäden: Einwirkung mehr als 8 Stunden/Tag | 0,63 | ≥ 90 |
Hauptverkehrsstraße (10 m Entfernung) | 0,2–0,63 | 80–90 |
PKW (10 m Entfernung) | 0,02–0,2 | 60–80 |
Hörschwelle eines Tauchers bei 1 kHz | 2,2.10-3 | 67 |
TV-Gerät mit Zimmerlautstärke (1 m Entfernung) | 0,02 | 60 |
Normale Unterhaltung (1 m Entfernung) | 2.10-3 – 6,3.10-3 | 40–50 |
Sehr ruhiges Zimmer | 2.10-4 – 6,3.10-4 | 20–30 |
Blätterrauschen, ruhiges Atmen | 6,3.10-5 | 10 |
Hörschwelle bei 1 kHz | 2.10-5 | 0 |
Schallübertragung (Transduktion) in der Hörschnecke: Darstellung der Funktion einer Haarzelle (links: Hemmung, Mitte: ohne Reizung, rechts: Erregung)
Innenohr
Das Innenohr enthält unter anderem den körpereigenen „Tonabnehmer“ (Hörschnecke, Cochlea) und das Gleichgewichtsorgan – insgesamt mehr als eine Million mechanische Teile! Es ist ein komplex geformter knöcherner Hohlraum im Felsenbein (knöchernes Labyrinth). Dieser Hohlraum ist mit einer Flüssigkeit gefüllt (Perilymphe). Darin ist ein häutiges Labyrinth eingespannt, das gleichfalls mit Flüssigkeit gefüllt ist (Endolymphe). Nach der mechanischen Vorverstärkung über die Gehörknöchelchen erreichen Schallschwingungen über die Fußplatte des Steigbügels das ovale Fenster, die Abgrenzung zum Innenohr. Von dort tragen Wellenbewegungen der Flüssigkeit die Schallinformation weiter (Wanderwellen).
Das Tonabnehmersystem befindet sich in der Hörschnecke (Cochlea). Sie ist von hartem Knochen umgeben und macht zweieinhalb Windungen. In der Hörschnecke werden Wellenbewegungen in elektrische Signale verwandelt. Dies geschieht im Corti-Organ, das mit 48.000 winzigen Tonabnehmern ausgestattet ist, den sogenannten Haarzellen – sie haben haarförmige Fortsätze, die in der Flüssigkeit des Schneckengangs beweglich sind. Haarzellen sind in vier Reihen angeordnet: Drei Reihen dienen als akustischer Filter und eine Reihe übernimmt die Umwandlung der mechanischen Schwingungen in Nervensignale (Transduktion).
Die Tonabnehmer sind wie beim Klavier in Reihen angeordnet: tiefe Töne unten, hohe Töne oben. In der Hörschnecke werden hohe Töne zuerst erfasst, tiefe Töne am Ende des Schneckengangs. Je mehr Nervensignale an einem Tonabnehmer erzeugt werden, desto lauter wird das Schallsignal empfunden. Der gesunde Mensch kann Frequenzen von maximal 20 bis 20.000 Hz (Hertz = Schwingung pro Sekunde) wahrnehmen, mit einem Unterscheidungsvermögen für Frequenzen von 3 Hz (Tonauflösung). Insbesondere Klavierstimmer sind gut trainiert, um geringe Frequenzunterschiede wahrzunehmen. Mit zunehmendem Alter verringert sich das wahrnehmbare Frequenzspektrum.
Schallübertragung
Erreichen Schallwellen über das Mittelohr die Steigbügelplatte am ovalen Fenster, entstehen in der Flüssigkeit des Innenohrs Wanderwellen, die sich bis in die Hörschnecke ausbreiten. Die Flüssigkeitsbewegung führt zur Auslenkung der Fortsätze der Haarzellen. Dadurch wird eine Aufladung der Zelle durch Ionenströme in Gang gesetzt und eine elektrische Erregung erzeugt. Anschließend zieht sich die Sensorzelle ruckartig zusammen. Dies wird Motormechanismus der Haarzelle genannt, führt zur Signalverstärkung und ermöglicht präzises Hören.
Mithilfe chemischer Botenstoffe der Zelle wird die Erregungsinformation über eine „Schnittstelle“ (Synapse) auf den Hörnerv übertragen und zum Gehirn weitergeleitet. Aus der mechanischen Schallwelle ist nun elektrophysiologische Klanginformation geworden.
Tinnitus-Ursachen im Innenohr
Ausfall der Härchen der Hörsinneszellen
Chronischer Lärm und Knalltraumen können Haarzellen direkt schädigen. Betroffene Frequenzen werden dann nicht mehr wahrgenommen. Haarzellenschäden durch Lärm gehören zu den häufigsten Ursachen für akute oder chronische Ohrgeräusche.
Störung des Ladungs-/Erregungsmechanismus der Haarzellen
Verändert sich die Funktion der Ionenströme, können Überreaktionen auftreten, die Tinnitus erzeugen. Bekannt ist, dass Medikamente wie Acetylsalicylsäure oder manche Antibiotika in hoher Dosierung solche Störungen verursachen. Auch die sogenannten Ionenpumpen der Haarzelle reagieren empfindlich auf Zellgifte, auch auf Genussgifte wie Nikotin.
Störung des Motormechanismus der Haarzellen
Die Kontraktion der Haarzelle verstärkt und präzisiert die Frequenzinformation – damit wir einzelne Instrumente eines Symphonieorchesters heraushören können. Störungen können den sogenannten Motor-Tinnitus verursachen, unkontrollierte und unkoordinierte Kontraktionen der Haarzelle. Das Besondere an diesem Tinnitus ist, dass er durch äußere Schalleinwirkung verschwinden kann: Geräusche von Elektrogeräten, Musikinstrumenten oder Fahrgeräusche. Man nennt dieses Phänomen Residual Inhibition. Ein HNO-Arzt kann diese Störung feststellen. Der Motor-Tinnitus lässt sich erfolgreich mit Tinnitus-Maskern, die Dauertöne oder Rauschen erzeugen, behandeln.
Störung der Signaltransduktion an der Synapse
Dies ist ein wichtiges Forschungsgebiet, bei dem es um Nervenbotenstoffe geht, die für Depressionen, Hirnleistungsstörungen, chronischen Schmerz und Tinnitus eine Rolle spielen. Man erhofft sich hier Fortschritte für die Behandlung dieser Störungen durch positive Beeinflussung des synaptischen Funktionssystems.
Die zentrale Hörbahn
Damit akustische Informationen zu Hörempfindungen werden, bedarf es weiterer Verarbeitungsschritte, die von einem Netzwerk verschiedener Hirnzentren durchgeführt werden. Man nennt dies zentrales Hören (zentrale Hörbahn). Im Heimstudiovergleich wäre dies die auf einem Computer installierte Software, mit der Audiomaterial am digitalen Mischpult mit Filtern, Effekten und Equalizern bearbeitet wird, um am Ende zum finalen Audiomix eines Musikstücks zu kommen.
Stammhirn
Zunächst gelangen Nervensignale der Sinneszellen im Innenohr über den Hörnerv zu den Schneckenkernen (Nuclei cochleares), die im Stammhirn (Medulla oblongata) liegen. Dort wird blitzschnell entschieden, ob die akustischen Informationen als wichtig/unwichtig, bekannt/unbekannt oder ungefährlich/gefährlich zu bewerten sind. Vom Stammhirn werden lebenswichtige Grundfunktionen wie Atmung und Herzschlag kontrolliert.
„Unwichtige“ Geräusche wie das eigene Schluckgeräusch oder ein rauschender Ventilator werden ausgefiltert. Plötzliche oder unbekannte Geräusche können aber sehr schnell eine Alarmreaktion auslösen. Das vegetative Nervensystem wird aktiviert: Der Blutdruck steigt; Stresshormone wie Adrenalin werden