Tinnitus. Eberhard J. Wormer
nun das Gehirn unablässig mit diesem Geräusch, verfestigt sich das Netzwerk zunehmend. Die emotionale Besetzung von Klängen erzeugt dann unangenehme Nebenwirkungen: Angst, Erschöpfung, Depression. Jeder Gedanke, jede Beschäftigung mit dem Dauergeräusch wirkt verstärkend! Im Heimstudio kann man Störgeräusche ausfiltern oder Geräuschdaten löschen. Beim hochkomplexen menschlichen Gehirn geht das nicht so einfach. Wie erreicht man dieses Störnetzwerk im Kopf?
Da das Gehirn lebenslang lernfähig bleibt – die Fähigkeit der Neuroplastizität –, kann man in gewissem Maß auf eine „Umprogrammierung“ setzen. Die Psychotherapie spricht vom Coordinated Reset („Neustart“) und auch die Hirnforschung geht von der Möglichkeit einer neuroplastischen Struktur(um)bildung zum Vorteil Betroffener aus. Viele Studien haben gezeigt, dass man bis ins hohe Alter Umstrukturierungen im Gehirn und die Veränderung eingefahrener Muster erreichen kann – am besten über körperliche Aktivitäten wie Tai-Chi, Yoga, Qigong, das Erlernen eines Musikinstrumentes oder von Fremdsprachen, Sport und soziale Aktivitäten. Immer neues Futter für die unersättliche Neugier Ihres Gehirns!
Das ist die gute Nachricht für Tinnitus-Betroffene: Ihr belastendes Tinnitus-Netzwerk ist erreichbar und kann umprogrammiert werden. Das funktioniert nur mit regelmäßigem Training, wie beim Klavierspielen oder Sprachen lernen – mit Geduld, Selbstvertrauen und beharrlicher Zielstrebigkeit. Ein erfolgreiches Konzept in diesem Sinn ist unter anderem die Tinnitus-Retraining-Therapie.
Lassen Sie nicht zu, dass Dauergeräusche im Ohr das Kommando übernehmen! Mit dem Willen zur Veränderung, einer positiven Lebenseinstellung und einem gesunden Lebensstil werden Sie Ihre Autonomie wieder zurückgewinnen. Sie stehen mitten im Leben!
Störgeräusche
Ich weiß ihn nicht besser als mit einem Sturme zu vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und mir augenblicks in alle Glieder fuhr… Damit verband sich ein mächtiges Ohrensausen, und dieses Sausen war dreifach oder vielmehr vierfach, nämlich zunächst ein dumpfes, schweres Brausen, dann ein helleres Murmeln wie von fließendem Wasser, endlich ein gelles Pfeifen, und dazu trat dann noch das Klopfen…, dessen einzelne Schläge ich leicht zählen konnte … Dieses innere Geräusch war so groß, dass es mir das feine Gehör… völlig raubte und mich zwar nicht ganz taub, aber so schwerhörig gemacht hat, wie ich es seitdem geblieben bin… Ich glaubte, ich sei tot. Jean-Jacques Rousseau
Es muss Rousseau schwer getroffen haben, als der Tinnitus zuschlug. Seine Schilderung enthält Merkmale, die noch heute für die Diagnostik eine Rolle spielen: plötzliches Auftreten, unterschiedliche Geräuschphänomene, beunruhigend wahrgenommene Lautstärke, Hörminderung, Schwerhörigkeit – bis hin zu Suizidgedanken.
Tinnitus hat es schon immer gegeben. Das belegen zahlreiche Beschreibungen von Ohrgeräuschen in literarischen, künstlerischen, medizinischen und wissenschaftlichen Werken der vergangenen Jahrhunderte.
Echo der Götter
Babylonische Keilinschriften und ägyptische Papyri erwähnen den rätselhaften Ohrenklang. Wer ihn hört, der ist vom bösen Geist ergriffen, so glaubt man. Ein vom Ohrenklingeln Befallener gilt im alten Ägypten als seherisch begabt. Sprechen durch ihn doch die Götter.
Auch das antike Rom ist anfällig für solche Vorstellungen. Obwohl man durchaus erkennt, dass Ohrgeräusche ausschließlich eine subjektive Klangwahrnehmung zu sein scheinen, herrscht doch die Überzeugung, dass eine göttliche Macht, dämonische oder magische Kräfte etwas mit dem unerklärlichen Klang im Ohr zu tun haben müssen.
Auch in der Bibel wird die göttliche Macht subjektiver akustischer Phänomene beschworen: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Johannes, 3,8). Im alten Griechenland beschreiben die Pythagoräer den Tinnitus genauer: „Das Echo, das mitunter unsere Ohren befällt, ist die Stimme der Besseren (Mächtigen/Götter).“
Geräuschkunde
Die Medizingeschichte des Ohrensausens beginnt mit der hippokratischen Schrift Über die heilige Krankheit (d. h. Epilepsie), etwa 450 bis 350 v. Chr. In einer anderen Schrift heißt es: „Die Ohren sausen, (der Kranke) hört schwer, die Adern sind gespannt und pulsieren …“ Zu dieser Zeit erkannte man bereits das Prinzip der Tinnitus-Maskierung: „Warum hört das Summen in den Ohren auf, wenn jemand ein Geräusch macht? Doch wohl deshalb, weil das größere Geräusch das kleinere vertreibt.“
Weltliche Musik: Das gepeinigte Ohr in der Hölle bei Hieronymus Bosch, ca. 1480–1505 (Garten der Lüste)
Der römische Dichter und Philosoph Lukrez beschreibt Ohrensausen als Begleiterscheinung starker Gefühle: „Unsere Sprache wird lallend, die Stimme versagt und das Ohr saust.“
Plinius der Ältere (23–79) prägte den Begriff „Tinnitus“, sprach auch von sonitus oder stridor und empfahl allerlei abenteuerliche Heilmittel. Die nachfolgenden 1400 Jahre Tinnitus-Geschichte wurden von dem römischen Arzt Claudius Galenus (129–199) maßgeblich beeinflusst. Er behauptete, Tinnitus werde durch Dämpfe verursacht, die vom Magen aufsteigen und das Gehör sensibilisieren.
Der griechische Arzt Alexander von Tralleis bezog im 6. Jahrhundert Ohrensausen auf eine reizbare Empfindlichkeit des Gehörsinns und auf Gehirnkrankheiten. Der persisch-christliche Arzt Johannes Me sue senior brachte im 8. Jahrhundert Ohrgeräusche mit fieberhaften Erkrankungen und Schwächezuständen in Verbindung. Um 1200 erscheint ein Lehrgedicht der Medizinschule von Salerno (Regimen Sanitas Salernitanum), dort heißt es: „Art. 5 Causae tinnitus. Motus, longa fames, vomitus, percussio, casus, ebrietas, frigus tinnitum causat in aure.“ Viele Ursachen und noch mehr obskure Therapievorschläge! Im 16. Jahrhundert behandelte Paracelsus Ohrgeräusche auch chirurgisch.
Das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde verfasste der französische Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney.
Die Aufklärung bringt die Wende: Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum). Die subjektive Wahrnehmung hat nun einen hohen Stellenwert. 1683 erscheint das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde, verfasst von dem französischen Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney (1648–1730): Traité de l‘organe de l‘ouïe, contenant la structure, les usages et les maladies de toutes les parties de l‘oreille. Die Anatomie des Ohrs wird hier akribisch in Wort und Bild abgehandelt. Er unterscheidet auch erstmals den objektiven und subjektiven Tinnitus, der demnach eine Phantomwahrnehmung ist. 1821 veröffentlicht der französische Mediziner Jean Itard (1774–1838) ein Werk über die Krankheiten des Ohres, das eine Unterscheidung von echtem (objektivem) und falschem (subjektivem) Tinnitus enthält. Besonders anfällig für Ohrgeräusche waren Itard zufolge Hypochonder!
Seelenklänge
Im 18. Jahrhundert setzt sich die aufklärerische Verinnerlichung des Tinnitus weiter fort. Nach Ansicht des Theologen Brockes gibt der Tinnitus der Seele eine Stimme: „Dass die Töne, die wir spühren. Durch die Seel‘ in unserm Ohr, und nicht auswärts, sich formiren.“ Der Philosoph Rousseau (1712–1778) gewann seinem Tinnitus sogar positive Seiten ab: „Das Klopfen und Brausen belästigte mich zwar, aber ich litt doch nicht wirklich darunter, denn es war von keiner anderen dauernden Unbequemlichkeit als der Schlaflosigkeit in den Nächten und Tag und Nacht von einer Kurzatmigkeit begleitet … Dieses Leiden, das meinen Körper hätte töten müssen, tötete nur meine Leidenschaften, und so segne ich denn noch heute täglich den Himmel für die glückliche Wirkung, die es auf meine Seele übte. Wohl kann ich sagen, ich fing erst da zu leben an, als ich mich für einen toten Menschen hielt.“ Rousseau machte seinen Tinnitus kurzerhand zum „Freund“.
Das