Der Weg frisst das Ziel. Andi Peichl

Der Weg frisst das Ziel - Andi Peichl


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kenianischer Krieger ein paar Jahre später das Gegenteil behaupten würde – aber dazu später, viel später ...

      So ging die Urlaubwoche wunderbar dahin, Laune und Grundkondition stiegen, und der Schwager wurde sogar leicht übermütig. Als Ziel des inoffiziellen Trainingslagers wollte er einmal 100 Kilometer am Stück fahren, was er noch nie gemacht hatte. Bei ihm war es auch schon einige Zeit her, aber er war natürlich sofort begeistert von der Idee. Also erbaten sich die beiden Athleten für den vorletzten Urlaubstag ein doppelt so großes Zeitfenster, und da die beiden Herzdamen ohnehin einen Schönheitstag mit Maniküre, Friseur & Co. geplant hatten, willigten sie gnadenhalber ein. Die Schwiegereltern ihrerseits mussten sehen, wie sie mit vier Kindern zu Recht kamen. So hatte jeder für diesen Tag die passende Herausforderung – die individuelle Urlaubs-Challenge jeweils dem Rang, Alter und Geschlecht angepasst.

      Also machten sich der Schwager und er für einen Urlaubstag relativ früh morgens auf, um 100 Kilometer runterzustrampeln. Die Rollen für dieses Vorhaben waren klar verteilt. Er – als Rennradälterer und besser trainierter Sportler – hatte die Aufgabe, den Schwager „durchzubringen“, ihm möglichst viel Windschatten zu spenden und ihn moralisch aufzubauen.

      Gut gelaunt kurbelten sie einfach drauf los. Die Streckenauswahl war dank fehlendem Navi am Rad und internetfreier Zone im Ferienhaus ziemlich einfallslos. Der Plan lautete, immer geradeaus in eine Richtung zu radeln, bis der Tacho 50 km vermeldete und dann das Gleiche retour. Bei Kaiserwetter ging es dahin. Die 50 km waren schneller und leichter abgespult als erwartet. Exakt bei der Wendemarke stand ein Spar-Markt mit dazugehörigem Café mitten in der Botanik. Ein Stück Heimat inmitten der ungarischen Ödnis – eine perfekte „Auftankstation“ für die beiden. Auch beim Einkauf der „gscheiten Jausen“ zeigte sich, dass der Schwager und er unterschiedliche Zugangsweisen zum Thema Sport und im speziellen zum Thema Sportnahrung hatten. Er kaufte sich zwei Bananen, ein Isogetränk und als „kleine Sünde“ einen Kornspitz mit Käse, der Schwager trippelte auf den Radschuhen mit einem Pizzaeck, Cola und reichlich Red Bull aus dem Supermarkt.

      Im Gastgarten des Cafés machten sie Rast. Der Schwager trank zuerst einmal einen großen „Schwarzen“. Danach schluckte er ein Red Bull auf ex. Zwei weitere Dosen füllte er in die Radflasche um. Schon kurz darauf wunderte er sich, warum seine Pulsuhr schon vor dem Losfahren 160 Herzschläge pro Minute anzeigte. 160 Schläge sind übrigens exakt der Pulswert, den Miguel Indurain unter Volllast beim Tour-Einzelzeitfahren über knapp 60 Kilometer mit über 50 Stundenkilometer Durchschnittsgeschwindigkeit fuhr.

      Ganz so locker flockig waren die ersten 50 km dann doch nicht gewesen, wie sich beim Wiederaufstieg auf die Räder zeigte. Eine lange Pause bei einer langen Radausfahrt ist alles andere als zu empfehlen und ist deshalb ein ziemliches Eigentor – das wussten sie damals allerdings noch nicht. Wenn man sich dann wieder in den Sattel schwingt, rebelliert zuerst das geschundene Hinterteil, dessen Schmerz-Nervenpunkte während der Pause wieder aus der Bewusstlosigkeit, in die sie nach der jeweils ersten Stunde im Sattel fallen, erwacht waren.

      Jeder Rennradfahrer, der in einer Region mit kalten und verschneiten Wintern wohnt, kennt dieses Phänomen im Frühjahr. Die ersten 500 bis 1000 Kilometer braucht es, um die Schmerzempfindlichkeit des im Winter verwöhnten Hinterteils wieder gegen Null zu senken. Und man glaubt gar nicht, wie steif die vorher noch so geschmeidigen Beine während so einer Pause werden können – als würde das Blut nach dem Absteigen sofort „aussulzen“ und dickflüssig werden – und das alles ohne Epo.

      Aber noch unbedarft ob der fehlenden Erfahrung stieg man noch frohen Mutes wieder auf und ließ seine beleidigten vier Buchstaben ganz, ganz langsam und sanft wieder auf den beinharten Rennsattel sinken. Gott sei Dank fielen die Gesäßnerven relativ schnell wieder ins Koma und das wohlig warme, taube Gefühl stellte sich wieder ein. Dieses taube Gefühl hatte sich leider auch ihrer für den Antrieb so wichtigen Gliedmaßen bemächtigt, die sie erst wieder wach rütteln und geschmeidig machen mussten – doch auch das klappte nach einigen Kilometern.

      Wenn wir schon beim Thema Gliedmaßen sind. Auch wenn es ein heikles und vielleicht nicht ganz jugendfreies Thema ist – ja auch am männlichen Glied geht so eine lange Radausfahrt nicht spurlos vorüber und – aber keine Sorge – Radfahren macht nicht impotent! Also ziemlich sicher nicht. Hoffentlich! Lustfördernd ist es aber auch nicht unbedingt. So manches Glied soll schon versucht haben, sich ins eigene „Schneckenhaus“ zurückzuziehen auf der Flucht vor den permanent auf- und abstampfenden Oberschenkeln, die denkbar knapp an ihm vorbeirauschen. Auch im wohl empfindlichsten männlichen Organ stellt sich bei langen Ausfahrten ein gewisses, taubes Gefühl ein – oder eher gesagt, fühlt man eigentlich gar nichts mehr. Es sei denn, man kommt in den besonderen Genuss, dass der zusammengeschrumpelte Piepmatz einfach leise, still und heimlich entschlummert. Jeder der schon einmal seinen Sattel nicht exakt waagrecht vorne, sondern etwas nach oben gestellt hat, weiß, dass das kein Scherz ist. Der Piepmatz kann tatsächlich einschlafen, wie man es sonst nur von anderen Gliedmaßen kennt. Das Schlafen an sich macht sich freilich – wie bekannt – nicht bemerkbar, dagegen das Aufwachen aus dem Teilzeit-Koma umso mehr. Es beginnt zuerst mit einem leisen Kribbeln, das sich dann zu einer ausgewachsenen Ameiseninvasion auswächst. Alles in allem kein wirklich schönes Gefühl – aber gewisse Opfer muss man für den Sport schon bringen. Wie die Profi-Piepmatze nach einer dreiwöchigen Tour de France aussehen, möchte man sich lieber nicht vorstellen ... Mist – zu spät! Wie bringt man dieses Bild jetzt wieder aus dem Kopf?

      Nach einigen wenigen Kilometern hatten sich also die beiden Hinterteile wieder beruhigt, die Beine verrichteten auch wieder halbwegs flüssig ihre Dienste und der Puls des Schwagers hatte sich auf beruhigende 180 eingependelt. Der Rest auf die magische Dreistelligkeit der Tageskilometeranzeige des Radcomputers gestaltete sich relativ unspektakulär. Natürlich nicht ganz ohne Gejammer des Schwagers. Und auch die eigenen Beine, das Gesäß und der Nacken lagen dem Schmerzzentrum im Gehirn mittlerweile schon ständig in den Ohren. Aber nach rund vier Stunden Fahrzeit rollten die beiden Helden der ungarischen Landstraßen unter tosendem Jubel der Familie – also zumindest die Kinder freuten sich, dass ihre Papas wieder da waren – in den idyllischen Ferienhaushaufen ein. Alles andere als elegant kletterten beide vom Rennrad, um breitbeinig Richtung Toilette, Kühlschrank und Dusche zu wanken. Ein romantischer After-Riding-100-Kilometer-Staffellauf der Grundbedürfnisse. An diesem Abend ließen sich beide – bevor sie sanft zwangsweise auf dem Bauch liegend entschlummerten – freudig grinsend von der Schwiegermutter einmal mehr die Welt erklären, und schon ein wenig dümmlich grinsend stopften sie dankbar alles in sich hinein, was ihnen die Dame des Hauses vorsetzte. Diese wiederum hatte ihre wahre Freude daran, wie brav die beiden „Buben“ doch aßen, jetzt – mit 32 Jahren – würden die beiden endlich doch noch groß und stark werden ...

      12 Eine am Lenker des Rennrades montierte Vorrichtung mit Stützpolster für die Ellenbogen und Haltegriffen für die Hände, auf die sich der Fahrer „legt“, um dem Fahrwind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Besondere Triathlonräder haben diese Aufleger im Speziallenker integriert, die Schalthebel befinden sich am Ende der Haltegriffe.

      13 Aero-Position bezeichnet die Sitzposition am Rad, die dem Fahrtwind möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Viele Profis lassen die beste Position in einem Windkanal austesten.

      14 Campagnolo ist ein italienisches Unternehmen mit Hauptsitz in Vicenza, Italien, das vorwiegend hochwertige Fahrradkomponenten und -bekleidung herstellt.

      15 steirisch für „geschlagen“.

       Kapitel 5

       Unterzuckert am Schießstand oder die große Trainingslüge – Teil 1

      Wie bereits erwähnt, muss der gemeine Hobby-Sportler schnell feststellen, dass es neben dem lästigen Beruf auch noch die Familie und das Training gibt. Zwei wichtige „Dinge“, für die er aber nur eine Freizeit hat. Also konstruiert er wahnwitzige Termin-Kombinationen, von deren Durchführbarkeit er, und zwar ausschließlich er, felsenfest überzeugt ist. Ehefrauen neigen dazu, diese Trainings-Familien-Kombis mit Recht in Frage zu stellen, denn mit ihnen verhält es sich wie mit den Innovationen vom Wochenmarkt: Beim Marktschreier funktioniert das „Wunderding“ tadellos, in der Praxis aber ...


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