Der Weg frisst das Ziel. Andi Peichl

Der Weg frisst das Ziel - Andi Peichl


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auf ungarischen Landstraßen und strampelten immer rund 50 Kilometer ab. Dieses Zeitfenster wurde den beiden auch ohne Murren von den Frauen und sogar vom Feldweibl zugestanden, und so wurde der Familienurlaub überraschend schön, erholsam und harmonisch. Solange Frau Mann ein wenig Auslauf lässt, ist er den restlichen Tag zahm wie ein Schoßhündchen. Vor allem wenn sich Mann selbst einreden kann, dass er nicht im Urlaub, sondern im Trainingslager ist. Im örtlichen Radgeschäft erstand er seinen ersten Aufleger12 für nur zehn Euro und genoss zum ersten Mal das Gefühl, auf dem Rennrad-Lenker zu liegen. In dieser Aero-Position13 fühlt man sich automatisch schneller.

      In dem örtlichen Radgeschäft wurde ihnen dann auch klar, warum die Einheimischen den beiden bei ihren Ausfahrten stets so ehrfurchtsvoll nachsahen. Nagyatad war der Austragungsort des jährlich stattfindenden eXtremeMan’s, der ungarischen Ausgabe des Ironmans. Und der diesjährige Langdistanz-Triathlon (3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen) fand in wenigen Wochen statt. Daher glaubten die Einheimischen, dass es sich bei dem Schwager und dem Weißen Kenianer in Ausbildung um zwei ausländische Voll-Profis handeln müsste. Die Wahrheit war, dass sie beide schon beim Schwimmen abgesoffen wären und hätten sie doch irgendwie die 180 Kilometer auf dem Rad mit vereinten Kräften geschafft, wäre danach maximal ihre Nase gelaufen – vor Überanstrengung.

      Bauteile um zehn Euro hätte der Schwager übrigens nie an seinen schmucken Renner aus der Edelschmiede BMC gelassen. Alleine das Campagnolo14-Schaltwerk hatte deutlich mehr gekostet als das gesamte, museumsreife Rennrad des Kenianers. Der Schwager gehört vom materialtechnischen Ansatz zu einer anderen Liga.

      Grundsätzlich sind hier zwei Typen zu unterscheiden: Typ 1, der vor allem in und rund um Wien auf den Donauradwegen und auch sonst österreichweit innerstädtisch sehr verbreitet ist. Der Typ „Style“ mit dem sportlichen Lebensmotto: „Style geht vor Kondition!“ Dieser Typ zeichnet sich dadurch aus, dass er mehr Zeit für die Auswahl, den Einkauf und die Pflege seines High-Tech-Rennrades sowie sämtlicher Ausrüstungsteile verwendet als für das Rennradfahren an sich. Typ „Style“ ist auf den ersten Blick sofort daran zu erkennen, dass vom Rad über das Trikot bis zur Trinkflasche alles farblich optimal abgestimmt ist. Meistens wählt er ein Profi-Team, das die Edel-Rad-Marke seiner Wahl fährt, kauft sich den Renner – natürlich in der aktuellen Teamlackierung – und dazu passend alle Team-Accessoires, vom Teamdress über die Handschuhe, Trinkflaschen und sogar bis zu den kurzen Radsöckchen. Typ „Style“ sieht dann perfekt gestylt wie ein Profi aus, nur das kleine Wohlstandsbäuchlein unter dem etwas zu engen Trikot und die unrasierten Beine verraten ihn, wenn er zum xten Mal an der Eisdiele am Hauptplatz seines Heimatortes vorbeirollt. Natürlich trägt er modische, sauteure Marken-Sport-Sonnenbrillen – vorzugsweise mit eingebautem MP3-Player. Aber auch wenn man farbenblind ist, erkennt man Typ „Style“ spätestens, wenn man ihn mit Damencitybike samt Einkaufskorb überholt. Denn für das Training selbst bleibt bei soviel Posing kaum noch Zeit.

      Kommen wir zum Typ „funktionale Zitrone“. Er ist grundsätzlich leicht sauer, dass er sich selbst nicht ein so teures Rad samt stylishem Rundherum leisten kann oder darf. Da er es sich meist auch selbst nicht gönnt, redet er sich ständig ein, dass er den ganzen Firlefanz überhaupt nicht braucht. Er zimmert sich selbst mit gebrauchten, zum Beispiel bei ebay ersteigerten Teilen ein Rennrad zusammen und dabei stehen Funktionalität und Langlebigkeit über allem. Da das Teil eben auch möglichst lange halten soll, verzichtet er auf Gewichtsoptimierung durch Aluminium- oder gar Carbonteile. Stahl ist das Material seiner Wahl, denn er presst sein Rad aus wie eine Zitrone bis zum letzten Tropfen. Gefahren wird das Material bis es auseinanderbricht. Gepflegt wird nur, wenn es schon offensichtliche oder unüberhörbare Mängel gibt. Schmutz am Rennrad wertet er als Trophäe, als Beweis für lange, harte Ausfahrten durch Wind und Wetter. Da er jede Ausfahrt als Rennen sieht und er aus sich selbst stets alles herauspresst bis auch der letzte Muskel sauer ist, ist er dem Typ „Style“ meistens in Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer überlegen. Und es ist auch sein liebster Zeitvertreib, sich mit seinem immer leicht quietschenden Rad möglichst leise und unauffällig kurz ans Hinterrad eines „Stylers“ zu heften. Allerdings nur so lange, bis er sich von seiner wilden Aufholjagd, die er ohne Rücksicht auf Verluste startete, als er den Styler am Horizont erblickte, zu erholen. Schon bald nutzt er die nächste Steigung aus, um den Styler samt seinem 10.000 Euro teuren Equipment locker stehen zu lassen, auch wenn er sich nach der ersten Kurve, die ihn aus dem Blickfeld des Stylers bringt, übergeben muss – das war die Sache allemal wert. Denn schließlich hat er wieder einmal mit unterlegenem Material einen Rad-Snob besiegt. Da es allerdings auch gute Rennradfahrer mit Geschmack und gutem Material gibt, pflegt die Zitrone auch gerne den Satz: „Na ja, mit so einem Top-Rad wäre ich auch viel schneller.“ Der Typ „Styler“ hingegen ärgert sich nur kurz darüber, wenn er von einer Zitrone „herpaniert“15 wird. Schließlich kann der Styler auch nicht den ganzen Tag trainieren, wie diese arbeitslosen „Zitronen“, denn er muss 100 Stunden pro Woche schuften, um sich seine überteuerte Ausrüstung leisten zu können.

      Natürlich gibt es zwischen diesen beiden Stereotypen etliche Abstufungen und sogar Überschneidungen. Denn nicht selten juckt es einen Styler plötzlich wirklich, und er beginnt ernsthaft zu trainieren. Und früher oder später schlachtet fast jede „Zitrone“ schweren Herzens das Sparschwein und gönnt sich als Belohnung für sein hundertstes „Styler“-Überholmannöver endlich auch einen neuen, modernen Hightech-Carbon-Esel. Womit er zur stylishen Zitrone – einem der angesprochenen Zwischentypen – wird.

      Ein Typ gehört im Sinne des Leser-Service allerdings unbedingt noch angesprochen. Der äußerst ungute und meist in Gruppen auftretende Typ „Vereinsfahrer“. Wie der Name schon sagt, ist dieser Typ an seinem Vereinstrikot zu erkennen, was ihn vor allem in der vereinsununiformierten Gruppe sofort verrät. Der Typ „Vereinsfahrer“ ist meistens schon von Weitem an seiner hohen Trittfrequenz zu erkennen und auch daran, dass er sich immer weiter von einem entfernt, anstatt dass man auf ihn auffährt. Was aber noch immer besser ist, als wenn er einen selbst von hinten „frisst“. Besonders nervig ist, wenn er gemeinsam mit seinen Vereinskollegen in Zweierreihe locker plaudernd an einem sich einsam den Berg hochkämpfenden Hobbyradler vorbeirauscht.

      Wobei – manchmal lässt sich der Typ „Vereinsfahrer“ auch auf das Tempo von Normalsterblichen herunter und begleitet sie ein Stück des Weges, aber eigentlich nur, um zu erzählen, dass er bereits seit sechs Uhr Früh auf dem Carbon-Renner sitzt, schon drei Bergpässe und 150 Kilometer in den Beinen hat, und jetzt nur mehr die restlichen 50 Kilometer locker heimradelt. Man nickt anerkennend, während man selbst immerhin schon bei Kilometer 5 angelangt ist, alle Beine voll zu tun hat, um das Plaudertempo dieses unnötigen Halb-Affen – pardon Halb-Profis – halten zu können. Zumindest so lange, bis man sich mit einem freundlichen: „Hat mich sehr gefreut, ich muss aber leider schon abbiegen. Man sieht sich,“ in irgendeine, völlig unbekannte Seitengasse rettet, wo man sich wenig später fluchend bei einem der unzähligen Schlaglöcher der verfluchten Schotterstraße ins Nirgendwo einen Platten einhandelt.

      Es gibt eigentlich nur ein Rezept gegen den Typ „Vereinsfahrer“ und zwar sich so schnell wie möglich einen Verein zu suchen, um ab sofort mit einem kostengünstigen Vereinsdress bei den gemeinsamen Vereinsausfahrten das System von innen heraus zu bekämpfen, während man locker plaudernd an bemitleidenswerten Einzelkämpfern vorbeiradelt.

      Jedenfalls war der Schwager der Prototyp eines „Stylers“ und dabei noch nicht einmal am Gipfel seines Schaffens, denn schon bald sollte er im kompletten Outfit des Teams Astana in leuchtendem Türkis seine Umgebung erfreuen. Und er selbst war eindeutig eine „funktionale Zitrone“, wobei er von der Form, die man braucht, um „Styler“ locker stehen zu lassen, noch weit entfernt war. Allerdings sollte sich seine Form ebenso schnell weiter entwickeln wie sein aufkeimender Wunsch nach Carbon & Co.

      Viel bemerkenswerter war, dass sich die zwei Typen aus so unterschiedlichen Radler-Lagern bei ihren gemeinsamen Ausfahrten und auch sonst bestens verstanden. Mit dem Feldweibl hatte man ein gemeinsames Feindbild und über die Frauen konnte man während der Ausfahrten auch wunderbar ablästern: zwei Punkte, die seit Jahrtausenden verfeindete Erzrivalen zusammenschweißen. Nichts verbindet schließlich mehr als gemeinsame Feinde. Jedenfalls machten der Schwager und er täglich die ungarischen Landstraßen unsicher.


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