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Der Weg frisst das Ziel. Andi Peichl
versetzen kann. Ihn hingegen hatte heute der Präbichl schmerzlich versetzt und hatte ihm sein aktuelles Leistungsniveau, wenn man überhaupt von Leistung und Niveau sprechen konnte, aufgezeigt. Auch die ebenfalls großteils schnurgerade Abfahrt, die Höchstgeschwindigkeiten zuließ und im Normalfall für jede Menge willkommenen Adrenalinausstoß sorgte, war heute eine Qual. Wie ein begossener Pudel traf er nach der wenig erwärmenden, feuchtfröhlichen Abfahrt am ganzen Körper zitternd bei den Schwiegereltern ein.
Unterzuckerung und Kälte schüttelten seinen Körper um die Wette. Als strahlender Held wollte er vor Frau und Sohnemann bei den Schwiegereltern einreiten. Anerkennende Kommentare wie: „Du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Rad gefahren“ mit einer lässigen Handbewegung und einem siegessicheren „Es war leichter als ich dachte“ herunterspielen. Stattdessen stand er da wie ein Häuferl Elend, zusammengekrümmt wie ein altes Mutterl und zitternd wie ein überzüchteter Zwergpinscher. Am liebsten hätte er den um zwei Köpfe kleineren Schwiegervater gefragt: „Kannst du mich bitte in den zweiten Stock hinauftragen? Kann mich die Schwiegermutter heiß baden und dann trockenlegen? Gibt’s a warmes Supperl? Kann mich bitte jemand erschießen und von meinem Leid und meiner Schmach befreien?“ Er schaffte es schließlich doch selbst irgendwie die Stiegen hoch und in die Dusche, bevor er sanft auf der schwiegerelterlichen Couch entschlummerte, um sich an den angeregten Familiendiskussionen nur mehr mit dem einen oder anderen Grunz- oder Schnarchgeräusch zu beteiligen.
Doch seine Zeit mit heroischen Familien-Ankünften sollte noch kommen. Und es sollte die schlimmste, aber nicht letzte Niederlage am Präbichl gewesen sein. Der Präbichl sollte ihm bis zum heutigen Tag als heimtückischer Erzfeind erhalten bleiben. Wettertechnisch sollte der Berg Jahre später noch einen drauf setzen und ihn noch ein zweites Mal zum Absteigen zwingen. Aber das ist eine andere, nicht ganz so traurige Geschichte ...
3 Bianchi ist ein italienischer Fahrzeughersteller, der mittlerweile in schwedischem Besitz ist. Bianchi gehört zu den Pionieren der Fahrradhersteller und stellte in der Anfangszeit ausschließlich Fahrräder her.
4 Miguel Indurain ist ein ehemaliger spanischer Radrennfahrer. Er zählt mit fünf Siegen bei der Tour de France, zwei Siegen beim Giro d’Italia, je einem Olympiasieg und einer Weltmeisterschaft im Einzelzeitfahren sowie einem Stundenweltrekord zu den erfolgreichsten Radrennfahrern der Geschichte.
5 Spitzname, den die Presse Miguel Indurain aufgrund seiner Dominanz bei der Tour de France gab.
6 Der Begriff Peloton (von franz.: pelote = Knäuel) bezeichnet im Straßenradsport das geschlossene Hauptfeld der Fahrer.
7 Ein Besenwagen ist ein Fahrzeug, das bei Straßenradrennen hinter dem Fahrerfeld fährt und die Teilnehmer aufnimmt, die das Rennen aufgegeben haben. Teilnehmer, die auf Grund von Erschöpfung, Krankheit oder einer Verletzung in den Besenwagen einsteigen, müssen dabei ihre Startnummer abgeben.
8 41 Zähne am vorderen Zahnkranz, 25 am hinteren – eher ungeeignet zum Bergfahren, wenn man kein Profi ist.
Kapitel 3
Ein Schlachtross aus Stahl
Niederlagen machen einen bekanntlich stärker. Und so müsste er wohl bald saustark sein. Einige Tage nach der ersten verlorenen Schlacht am Präbichl konnte er bereits fast schon wieder schmerzfrei Treppensteigen. Und sobald er seinen Drahtesel wieder selbst aus dem Keller nach oben tragen konnte, saß er auch schon wieder drauf. Die Niederlage sorgte auch dafür, dass sich vorübergehend so etwas Ähnliches wie Vernunft bei ihm einstellte. Mit kurzen regelmäßigen Ausfahrten gewöhnte er seinen ziemlich eingerosteten Körper und vor allem sein breit und schlaff gewordenes Hinterteil wieder ans Rennradfahren. Langsam aber stetig steigerte er die Länge der Ausfahrten und begann, nachdem er sich halbwegs eingerollt hatte, kleine Bergwertungen einzubauen. Und bereits zwei Monate später stand wieder der Präbichl auf dem „Speiseplan“. Von locker-flockig war er beim Gipfelsieg zwar noch weit entfernt, aber er knackte mit seinem alten Stahlross den Schicksalsberg, ohne absteigen zu müssen.
Seine Gattin bemerkte wohlwollend, dass er zunehmend fitter und auch schlanker wurde, was für sie unverständlicher Weise mit einem gleichzeitigen Anstieg seines Nahrungsmittelverbrauches einherging. Obwohl er zu essen begann wie ein Scheunendrescher, radelte er sich bis zum Winter von T-Shirt Größe XXL auf L hinunter. Dafür wollte er sich mit einem neuen Rennrad belohnen. Bei einem kurzen Preis-Check musste er mit Schrecken feststellen, dass sich die Preise für Rennräder in absoluten Zahlen in den letzten 20 Jahren nicht geändert hatten. Geändert hatte sich nur die Währung. Somit kam ein neues Rennrad vorerst nicht in Frage. Also begab er sich im Winter im Internet auf die Jagd nach günstigen, gebrauchten Komponenten, aus denen er sich einen neuen Drahtesel aufbaute. Zwar wieder mit einem klassischen Stahlrahmen, aber um einiges leichter als das alte und vor allem bereits mit modernen Bremsschalthebeln anstatt der Rahmenschaltung und einem neuner Zahnkranz hinten samt bergtauglicher Übersetzung. Die Frage vorne 2-fach- oder 3-fach-Kurbel stellte sich definitiv nicht. Das Rennrad über einen Berg schieben zu müssen ist zwar peinlich, gegen den Einsatz einer Dreifachkurbel auf einem Rennrad aber noch immer eine Heldentat.
Und es musste ein Heimtrainer her, auf dem auch ein wenig trainiert wurde in den Wintermonaten. Wobei das Strampeln am Heimtrainer bzw. auf der Walze bis heute nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt. „Tausche sechs Stunden Radausfahrt im Freien samt Sommergewitter gegen eine Stunde auf der Walze im Keller. Jederzeit und immer gerne.“ Er trat dem örtlichen Rennradverein bei, was ihm kostengünstig neue Radbekleidung und unzählige Fachgespräche mit Gleichgesinnten einbrachte. „Zach heute. Vui zach!“9. Und er begann sich über Trainingsmethoden & Co. zu informieren, vorwiegend im Internet.
Dort stieß er immer wieder auf das ihm bis dato unbekannte Modewort: Grundlagentraining. Im Bummeltempo mit angezogener Handbremse durch die Gegend rollen, sollte der Schlüssel zum Erfolg sein? Er war doch kein Sonntagsradler, kein Pensionist. Aber wo er auch nachlas, überall schworen – von wem auch immer ernannte – Experten auf dieses, schon beim Lesen äußerst langweilig klingende Grundlagentraining. Es musste eine Verschwörung sein, gegen das wirkliche Sportcredo jedes echten Mannes: Es gibt nur ein Gas, Vollgas! Oder die fast schon wissenschaftliche Variante davon: Wer schneller werden will, muss sich auf Schmerzen gefasst machen.
Nachdem auch die neuen Kollegen des Rad-Klubs, ausgefuchste Profis mit Nebenjobs, ständig von GA110 und GA211 sprachen, beschloss er, diesem neumodernen Zeug im kommenden Frühjahr eine Chance zu geben. Und so versuchte er sich von März bis Ende April als Edelroller. Kurbelte auch im Flachen auf der kleinen Scheibe dahin, brauchte schon bei leichten Steigungen hinten das große Rettungsanker-Ritzel. So lebte er im Training in der ständigen Angst, von einem alten Mutterl mit Damenrad samt Einkaufskörberl überholt zu werden. Am liebsten hätte er ein T-Shirt mit: „Ich fahre bereits seit sechs Stunden im Grundlagentempo durch die Gegend“ getragen sowie: „Ich bin nicht langsam, ich bin überlegen!“ Echte Berge mied er wie der Teufel das Weihwasser. Die ersten 1000 Kilometer rollte er brav mit einem Durchschnittspuls von 120 durch die Gegend. Ach ja, das Christkind hatte ihm eine Pulsuhr gebracht, die schnell zu seinem ständigen Begleiter, gar zu seinem neuen Gewissen wurde.
Jedes Jahr am 1. Mai lud der Rad-Klub zu einem gnadenlosen Ausscheidungsrennen. Offiziell getarnt war das erste Kräftemessen nach dem langen Winter als „Anradeln“, das der Geselligkeit im Verein dienen sollte, in der Form einer lockeren Ausfahrt. Die Ausfahrt war auch über weite Strecken locker. Wobei man sich allerdings von Anfang an belauerte. Wer war schon wie gut in Form? Wer hatte noch zu viel Winterspeck auf den Rippen? Wer hatte materialtechnisch aufgerüstet? Lediglich nach circa der Hälfte der sonst topografisch gemütlichen Runde gab es eine nicht besonders lange, aber doch halbwegs giftige Bergwertung. Und bereits bei der moderat steigenden Anfahrt zu dem Berg der Entscheidung verwandelte sich die eben noch gemütliche gemeinsame Ausfahrt, bei der man locker plaudernd neben einander herfuhr, in einen beinharten Kampf: Mensch gegen Maschine. Mann gegen Mann. Vereinskollegen wurden schlagartig zu Erzfeinden, als der Berg nahte.
Natürlich begann schon am gemeinsamen Treffpunkt der Kampf: Maschine gegen Maschine. Denn er war nicht der einzige, der ein neues Rad hatte. Allerdings der einzige mit einem selbst