Der Weg frisst das Ziel. Andi Peichl

Der Weg frisst das Ziel - Andi Peichl


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somit ein einziges 24-Stunden-langes-Überholmanöver liefen. Man hatte den Eindruck, sie hätten ihren Schlusssprint schon beim Startschuss begonnen und zogen ihn jetzt einfach durch, um sich keine Blöße zu geben. Aber auch sie wurden dann letztendlich erlöst.

      Unter den „Überlebenden“ befanden sich auffällig viele Damen, die bewiesen, dass das vermeintlich schwache Geschlecht aus sehr zähem Holz geschnitzt ist, wenn es bei sportlichen Höchstleistungen nicht gerade auf Schnelligkeit oder rohe Gewalt ankommt. So waren bei den Mega-Staffeln sechs mixed Teams unter den Top 10.

      Exakt um 14 Uhr ertönte die erlösende Schlusssirene, die gleichzeitig eine völlige Massen-Hysterie auslöste. Egal, ob Läufer oder Zuschauer – alle waren aus dem Häuschen. Für die Top-Läufer hieß die Sirene: sofortiger Lauf-Stopp! Sie blieben wie angewurzelt stehen, denn schließlich galt es für die Offiziellen nachzumessen, wie viele Meter noch zu den vollständig absolvierten Runden fehlten. Für Sohnemann Nummer eins bedeutete die Schlusssirene, dass er endlich das so verlockende verbotene Land – die Laufstrecke – betreten durfte. Was er auch sofort tat. Er lief – gegen die Laufrichtung – ein Stück vom Grabler-Lager weg und sprintete dann an den zahlreichen weiblichen Fans vorbei. Diese brachen natürlich sofort in große Entzückung aus, machten für den Kleinen die Welle und bejubelten ihn mit klatschenden Händen und Muttergefühlen. Soviel Begeisterung spornte Sohnemann Nummer 1 natürlich erst recht an, er wiederholte das Spielchen noch zig Male und seine Fans am Wegesrand wurden nicht müde, ihn anzufeuern.

      Als besondere Draufgabe für ein ohnehin schon perfektes Vater-Sohn-Kumpel-Sportwochenende wollte es der Zufall, dass der Sieger im Einzelwettbewerb, der Ungar Blaho Akos, genau vor dem Zelt der Neuberger zu stehen kam. Sofort eilten offizielle Helfer aus dem Organisations-Team zum diesjährigen „König von Wörschach“ und fragten ihn, ob sie ihm irgendetwas bringen könnten. Und was antwortete der Ultraläufer aus Budapest, nachdem er in 24 Stunden fast ohne Pause 245,21 Kilometer gelaufen war? „Just a cold beer please!“ Das ließen sich die Grabler – die daneben standen – natürlich nicht zweimal sagen und in Nullkommanichts hatte der gute Mann ein kühles „Puntigamer“ in den Händen.

      Die Grabler schafften übrigens stolze 324,24825 Kilometer, eine für Hobbysportler eigentlich unglaubliche Leistung. Den einen oder anderen fehlenden Trainingskilometer hatten sie mit Teamgeist und guter Stimmung locker wettgemacht. Sie absolvierten 139 Runden und belegten bei den Mega-Staffeln den ausgezeichneten zwölften Gesamtrang von 79 Staffeln. Bei den reinen Männerstaffeln reichte es sogar für Rang 5.

      Schwer fasziniert von der gesamten Veranstaltung und vor allem von der Massen-Euphorie in der letzten Wettbewerbsstunde grub er bereits am nächsten Tag zu Hause seine alten Hofer Turnschuhe powered by Österreichisches Bundesheer aus und pilgerte zur alten Aschenbahn in seiner Heimatstadt. Der Plan denkbar einfach: Fünf Runden à 400 Meter in zwölf Minuten laufen. Das Ergebnis undenkbar niederschmetternd: gute 15 Minuten! Was heißt gute 15 Minuten? Nach einer endlos langen, qualvollen Viertelstunde hetzte er (aus der Innensicht) bzw. schlich er (aus der Außensicht) noch immer mit hochrotem Kopf über die Aschenbahn. Am liebsten wäre er selbst zu Staub zerfallen, als er nach 16 und ein paar zerquetschten Minuten endlich die Stoppuhr nach zwei Kilometern abdrücken konnte. Eine Pulsuhr hielt er damals Gott sei Dank noch für ein unerschwingliches Hightech-Gerät von der Krankenkasse für Herzinfarktpatienten. Schade, denn er hätte sicher den Pulsweltrekord gesprengt oder zumindest eine gesundheitlich sehr bedenklich hohe Schlagzahl erreicht. Kurz zum Rennverlauf selbst: Er sprintete völlig übermotiviert los und war bereits nach der ersten Hälfte der ersten Runde völlig am Anschlag. Die restlichen viereinhalb Runden standen dann unter dem Motto: „Stirb langsam!“ Und das tat er auch. Übrigens eine Renntaktik, die ihn noch lange begleiten sollte – und die er genau genommen bis zum heutigen Tag noch nicht abgelegt hat.

      Unendlich langsam zogen die wohl längsten 16 Minuten seines Sportlerlebens an ihm vorüber. 16 Minuten – ein Schnitt von acht Minuten pro Kilometer. Hätte er schon damals gewusst, wie unglaublich mies diese Zeit selbst für 90-Jährige übergewichtige Kettenraucher mit fingerdicken Krampfadern ist, hätte er einen hysterischen Weinkrampf bekommen – so weinte er nur still vor sich hin und schlich mit gesenktem Kopf sowie vor Schmerz brennenden Beinen und glasigen Augen heimwärts.

      Zu Hause hatte er mit seinem ersten After-Ausdauer-sport-Fress-Flash wenigstens eine nennenswerte sportliche Höchstleistung an diesem sonst so traurigen Tag. Aber nachdem er den Kühlschrank auf ex leergefuttert hatte – was übrigens schon bald zu seiner Standard-After-Trainings-Einheit werden sollte – beschloss er, die Flinte nicht ins Korn bzw. die Laufschuhe in den Biomüll zu werfen, sondern vielmehr so schnell wie möglich wieder der sportliche Typ zu werden, der er noch immer zu sein geglaubt hatte.

      Noch sollte es ein weiter Weg werden bis er zum Weißen Kenianer mutieren würde. Noch sollte er viele Irrwege beschreiten und befahren müssen. Aber die ersten schmerzvollen Schritte waren getan, und es würden noch viele folgen. Schritte und Schmerzen!

      1 Sportstadien älteren Semesters haben rund um das Fußball-Feld noch eine Aschenbahn, auf der die Laufwettbewerbe abgehalten werden. Moderne Stadien haben meist eine Tartanbahn.

      2 Bei Wettkämpfen gibt es oft Staffeln mit 3, 4 oder 10 Startern, die sich abwechseln dürfen. Bei einer Mega-Staffel sind es 10 Starter, die sich z. B. bei einem Ultralauf-wettbewerb die Distanz unter einander aufteilen.

       Kapitel 2

       Präbichl – Schicksalsberg und Erzfeind

      Nach dem läuferischen Begräbnis auf der Aschenbahn sank die Lust auf weiteres Gerenne gegen Null. Auf stundenlanges Training zwischen Michelin-Männchen in Clownhosen und Muscleshirts samt Monsterakne auf ihren kleiderschrankbreiten Rücken oder in nach Schweiß und Testosteron riechenden Fitnesscentern verspürte er ebenfalls keine Lust. Da war seine Motivation schon vor der ersten Einheit auf dem Nullpunkt. Seine Bodybuilding-Zeit hatte er mit dem Ende der Pubertät (falls es bei Männern so etwas überhaupt gibt) beziehungsweise mit der Matura quasi abgeschlossen. Außerdem war es schließlich der Ausdauersport, der ihn in Wörschach in seinen Bann gezogen hatte. Also besann er sich auf die Zeit, als er früher – also „söm“ – mit dem Rennrad die Gegend unsicher gemacht hatte.

      In der Siedlung, in der er aufgewachsen war, hatten zwei seiner Jugendfreunde Rennräder bekommen. Das hatte in der Clique einen regelrechten Boom ausgelöst, bei dem er natürlich auch mit dabei sein musste. Sein Vater kaufte ihm seinen ersten Renner im typischen Bianchi3-Türkis. Mit diesem Renner, der noch immer als Heimtrainer im Fitnessraum seines Vaters gute Dienste leistet, zog er fast täglich nach der Schule seine Runden – und schon bald feierte er bei cliqueninternen Ortstafelsprints erste Erfolge. Bei einer Trainingsausfahrt wurde er sogar vom Obmann des örtlichen Rennrad-Klubs entdeckt. Das hatte dazu geführt, dass er in der Jugend-Klasse sogar eine Saison lang Rad-Rennen bestritt, ehe er dann beschloss, dass er den exquisiten Genuss, sein Frühstücks-Müsli bei jedem hartem Anstieg im Rennen ein zweites Mal essen zu müssen, nicht länger brauchte. Kleine Anmerkung: Rückwärts schmeckt übrigens jedes Müsli gleich, egal ob Bircher oder Hofer. Aber nun fiel ihm ein, dass im Keller noch das alte Rennrad seines Vaters irgendwo rumstehen müsste. Ein Stahlrenner, ein wahrer Klassiker mit Schalthebeln direkt am Rahmen. Er hatte zwar schon davon gehört, dass es mittlerweile neue Werkstoffe wie Aluminium und sogar Carbon geben sollte, aber aus der Nähe hatte er solche neumodernen Hightech-Räder noch nicht gesehen. Auch sagte ihm der weise Spruch seines späteren Stammeshäuptlings „Am Material darf es nicht scheitern!“ noch nichts. Ein Mantra, das ein paar Jahre später zu seinem täglichen Abendgebet werden sollte ...

      Nachdem er in den Untiefen seines Kleiderschrankes gewühlt hatte, wurde er unter einem nicht mehr ganz modischen Spencer-Sakko samt lila Bauchbinde fündig. Da lagen gut vergraben noch einige Relikte leicht verwaschener Sportbekleidung, die wohl auch nicht mehr unbedingt „state of the art“ waren. Also schnell die Motten aus den Teilen geschüttelt und rein in die Zeitreise-Teile. Na bitte: Die alte Radler-Hose passte sogar noch und das Trikot war jetzt endlich zum ersten Mal auch wirklich so eng anliegend, wie es in Sachen Aerodynamik schon vor 15 Jahren hätte sein sollen! Die Tatsache, dass zu seiner Rennradzeit


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