Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
– allerdings erfolglos.38 Hallers arkadische Utopie einer aus karger Landschaft «gewachsenen» Idealgesellschaft erhielt mit diesen Theorien eine «naturwissenschaftliche» Begründung.
Im 19. Jahrhundert erklärte somit eine intellektuelle Elite die Schweiz zum Alpenland, die Schweizer zu einem Volk der Hirten und Bergsteiger. Diese Vorstellung war so erfolgreich, dass Schweizer begannen, Berge als notwendige Voraussetzung zu sehen, um sich an einem Ort heimisch zu fühlen, auch wenn sie selbst aus dem Mittelland und der Stadt stammten. Dies zeigt etwa der Reisebericht, den der Zürcher Handelsschullehrer Carl Täuber 1926 verfasste. Täuber war SAC-Mitglied und bereiste zwischen 1923 und 1925 in halboffiziellem Auftrag Südamerika, um dort die wirtschaftlichen Möglichkeiten für schweizerische Auswanderer abzuklären.39 In Argentinien, Paraguay, Uruguay, Chile, Peru und Brasilien besuchte er zahlreiche ausgewanderte Schweizer und kam zum Schluss, diesen gehe es zum Teil sehr schlecht; das Heimatland solle sie besser unterstützen, etwa durch Stellenvermittlung und vermehrte vorgängige Aufklärung über das Auswanderungsland. Selbst wusste er jedoch über die fremde Kultur ausser Anekdoten über dreckige Hotelzimmer herzlich wenig zu berichten, und in der Kolonisation sah er eine Chance zum Fortschritt für die betreffenden, seiner Ansicht nach rückständigen Länder. In Buenos Aires besuchte Täuber auch wohlhabende Schweizer, deren Landgüter er bewunderte. Allerdings beklagten sie sich, Buenos Aires biete ihnen nichts. Täuber schrieb, sie sehnten sich «b».40
Die Berge und das Bergsteigen waren für Täuber ein Thema, das ihm Kontakte zu anderen Schweizern in Südamerika erleichterte: Man hatte gemeinsamen Gesprächsstoff und eine gemeinsame Vorstellungswelt. So wähnte er sich beispielsweise in einer «Clubhütte», als er zusammen mit anderen auf einem Ausflug vor dem Regen Zuflucht unter einer Zeltplane suchen musste, wo schliesslich ausführlich «über die Schweizerberge» geplaudert wurde.41 Ausserdem empfahl Täuber jene Orte, die Berge aufzuweisen hatten, wie etwa Puerto Varas und Puerto Mont, als besonders geeignete Auswanderungsziele: «Diese Orte besitzen den grossen Vorzug, dass sie auch dem europäischen Gemüt etwas bieten, nämlich den Anblick einiger Vulkanberge, die den Stolz der ‹Suiza sudamericana› bilden.»42 Lobend erwähnte er, dass schon frühzeitig an die «Erschliessung dieser idyllischen Stätten für Freunde der Naturschönheiten gedacht» worden sei. Im Weiteren beschrieb er einige Bergtouren, die er unternommen hatte, und verglich die dabei gesehenen Landschaften beständig mit den Alpen, nach dem Motto: Je ähnlicher, desto schöner.43 So versuchte Täuber, das Fremde begreif- und bewohnbar zu machen, indem er es mit vertrauten Kategorien zu fassen suchte. Gleichzeitig lieferte er ein Rezept, wie sich aus fremden Umgebungen Heimat machen lässt: durch die Aneignung per Bergtour und den Blick von oben auf die Landschaft. Was schon für die Nation Schweiz funktioniert hatte, sollte auch für schweizerische Auswandererkolonien in Übersee anwendbar sein.
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