Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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der Freiheit der Rumänen.»237

      Die Gräfin war zu ihrer Zeit also eine renommierte Publizistin gewesen, und so erstaunt es doch etwas, dass sie im alpinistischen Diskurs später lediglich als extravagante Hochstaplerin präsentiert wurde. Wie konnte es dazu kommen? Den unter schweizerischen Alpinisten geltenden Wissensstand fasst der Historiker Quirinus Reichen zusammen, indem er schreibt, ihre Bergführer hätten die Gräfin, entgegen ihrem Wunsch und ohne dass sie es realisierte, auf einen unbedeutenden Nebengipfel des Mönchs geführt, um die hartnäckige Dame loszuwerden.238

      Dora d’Istrias eigener Bericht ist nach allen Regeln der Kunst verfasst und erinnert in vielem an Angevilles Text. Allerdings ist zu Beginn völlig unklar, um welchen Berg es eigentlich geht. Erst wer weiterliest, erfährt, dass die Gräfin eigentlich eine Tour auf die Jungfrau plante.239 Ähnlich wie Angeville berichtete Dora d’Istria, ihre Bekannten seien entsetzt gewesen und man habe ihr Vorhaben für gefährlich und für eine blosse «Laune» gehalten.240 Sogar die Natur schien sich gegen sie verschworen zu haben: Am Abend vor der Tour habe es sintflutartig zu regnen begonnen. Ein Fingerzeig des Himmels? Jedenfalls schrieb Dora d’Istria: «Ich erhob meine Seele zu Gott. In diesem Augenblick brach das Gewitter in seiner ganzen Macht aus; die Lawinen wiederhallten in den Bergen, und das Echo wiederholte tausendfach das Brausen des Falles. Die Sterne erbleichten am Himmel, als ich mein Fenster öffnete.»241 Die Schreckensgeschichten, mit denen man sie abzuhalten versuchte, weckten jedoch ihre Neugierde – und die der Leser – erwartungsgemäss erst recht. Ihre Bergführer seien zuerst wenig begeistert gewesen über den Auftrag, hätten wegen des schlechten Wetters von der Tour abgeraten und zweifelten an der Motivation ihrer Kundin: «Sie suchten in meinen Augen zu lesen, ob meine Festigkeit auch wahr sei. Endlich sagte Johannes Jaun […]: ‹Ich glaube, dass bei dem Mut dieser Dame die Reise unternommen werden kann. Ich habe viele Männer bei solchen Gelegenheiten viel stärker zittern sehen als sie.›»242 Und schliesslich hätten sich die vier nicht weniger mutig zeigen wollen als die fremde Dame.243

      Wie Angeville thematisierte auch Dora d’Istria die Kleider, die sie für die Bergtour wählte: schwarzweiss gestreifte Tuchhosen, eine bis zu den Knien reichende Jacke, ein runder Filzhut nach Art der Bergbewohner, ein Paar weite, grobe Stiefel, eine gefärbte Brille zum Schutz vor der Sonne, anders als ihre Bergführer aber kein Schleier.244 Sie beschrieb ihre Garderobe als Männerkleidung, die sie aber nicht unschicklich, sondern bloss ungewohnt kratzig fand. Am Abend vor der Tour übte sie das Gehen darin, denn: «[…] ich fürchtete, es möchten die Führer an mir verzweifeln, wenn sie mich bei jedem Schritt stolpern sähen. Ich war ziemlich gedemütigt. Nur triftige Gründe konnten mich verhindern, meine Frauenkleider wieder anzuziehen. Doch fiel mir ein Ausfluchtsmittel ein. Ich packte meinen Rock und meine Stiefelchen ein und gab sie einem Träger, um mich ihrer zu bedienen für den Fall, dass ich von diesen verdammten Kleidern, die ich so unbequem fand, in meinen Bewegungen allzu sehr gehindert würde.»245

      SIGHTSEEING IM REICH DES TODES

      Am Sonntag, dem 10. Juni 1855, ging es los, mit vier Bergführern und vier Trägern, die Proviant, Leitern, Stricke und Haken transportierten. Dass es ausgerechnet an einem Sonntag sein musste, noch dazu bei nicht idealem Wetter, mag ebenfalls mit der politischen Haltung der Gräfin zusammenhängen: die Bergtour als weiterer Beweis dafür, dass die katholische Kirche den Fortschritt zur Aufklärung hin nicht aufhalten konnte. Den ersten Teil des Weges legte Dora d’Istria im Tragsessel zurück, weniger aus Bequemlichkeit denn als Zeichen ihres Standes und weil sie sich in der von ihr getragenen Männerkleidung unpräsentabel fühlte.246 Ihre weitere Tourenbeschreibung liest sich wie das Absolvieren eines vorgegebenen Rituals, das Abhaken einer Liste obligatorischer Sehenswürdigkeiten: Ein Gletscher wird bestaunt, «Volkslieder» werden gesungen, beim Anblick eines Jägers wird Schiller zitiert, eine Fahne der Walachei soll auf dem Gipfel gehisst werden, und im Biwak lässt sich die Gräfin von ihren Führern umsorgen, die Idealbilder edler Wilder sind.247

      Die Tour ist jedoch auch eine Prüfung: «Man hatte mich meiner eigenen Kraft überlassen, vermutlich um meine Gewandtheit beurteilen zu können. Ich hatte mich an meine Kleider gewöhnt und ging auf dem Schnee sicheren Schrittes vorwärts, indem ich über die Spalten setzte, welche die verschiedenen Eislager trennen.»248 Die Führer freuen sich über ihre Trittfestigkeit und meinen gar, «dass sie mir wegen meines Selbstvertrauens die Leitung des Unternehmens überlassen könnten», so ihre Worte.249 Doch die Gruppe entfernt sich immer weiter aus dem gewohnten menschlichen Alltag, die Schwierigkeiten nehmen zu. Die Gräfin berichtete, sie habe sich in eine «andere Welt» versetzt geglaubt, «in der nichts dem ähnlich war, was ich bis dahin gesehen hatte. […] Wir befanden uns mitten in einer unermesslichen Wüste, im Angesicht des Himmels und der Naturwunder. […] Der Weg wurde immer mühsamer. Wir kletterten auf allen Vieren, wie Katzen rutschend, oder wie Eichhörnchen von einem Felsen zum andern springend.»250 Zudem machten sich erste Anzeichen von Höhenkrankheit bemerkbar, und die Gruppe musste mit Leitern Abgründe überqueren. Dies nutzte die Gräfin allerdings sofort, um den von ihr gesammelten Sehenswürdigkeiten das Erlebnis des erhabenen Gruselns anzufügen: Mit «unbeschreiblichem Entzücken» habe sie «die gähnenden Schluchten» betrachtet, erzählte sie.251 Am zweiten Tag gelangten sie im dichten Nebel um zehn Uhr vormittags auf eine Fläche am Fuss des Mönchs. Dort musste Dora d’Istria eine längere Pause einlegen. Ihre Erzählung folgt mithin dem klassischen dramaturgischen Schema: Kurz vor dem erfolgreichen Schluss kommt die Krise.

      Dora d’Istria schrieb: «Wir hatten im vollen Sinne des Wortes unsere Kräfte erschöpft. Der Atem ging uns aus und seit einigen Augenblicken warf ich Blut aus. Dennoch bereute ich weder die Anstrengung noch den Entschluss, der mich bis dahin gebracht hatte. Ich fürchtete nichts, als dass ich vielleicht nicht weiter gehen könnte. Selbst die Luft, die mir so wehe tat, war mir wegen ihrer ausserordentlichen Reinheit ein Gegenstand interessanter Beobachtungen.»252

      Während die Gräfin auf diese Weise versuchte, durch eine distanzierende, wissenschaftlich-objektive Betrachtungsweise die Kontrolle zu behalten, beschlossen ihre Führer, das angestrebte Ziel Jungfrau aufzugeben: «Ich bemerkte hierauf, dass man einige Schritte von mir entfernt zusammentrat, um leise zu beratschlagen. Die Wächter [ihre Bergführer] waren voll Besorgnis. […] Ich gab ihnen innerlich Recht, aber es schmerzte mich, dass ich das Ziel, das so nahe zu liegen schien, nicht erreichen sollte.»253 Ein letztes Mal versuchte sie, ihre Begleiter umzustimmen, doch Johann Almer habe gedroht, sie zu verlassen, da er die Fortsetzung der Tour nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Schliesslich – so der Bericht der Gräfin – kam ihr die rettende Idee: Ob nicht stattdessen der näher gelegene Mönch bestiegen werden könnte? Man habe ihr erstaunt mitgeteilt, dieser sei noch unbestiegen. «‹Desto besser›, rief ich aus, ‹so wollen wir ihn taufen!› und indem ich meine Müdigkeit auf einen Augenblick vergass, begann ich festen Schritts vorwärts zu gehen. Da Peter Jaun und Peter Bohren mich so entschlossen sahen, ergriffen sie die Fahne, gingen voraus und pflanzten sie auf den höchsten Spitzen des Mönchs auf, ehe wir selbst dahin gekommen waren.»254 Eine aufklärerische Tat im Namen des geliebten Heimatlandes: Kaum war die Fahne gehisst, habe das Wetter umgeschlagen und der Mönch sei als einziger Berg in der Sonne gestanden. Auf dem Gipfel habe sie denn auch die passenden erhaben-religiösen Gefühle verspürt:

      «Das Bild des Unendlichen trat in seiner ganzen furchtbaren Grösse vor meinen Geist. […] Es durchdrang mich eine so mächtige Vorstellung von Gott, dass mein Herz bis dahin nicht Raum gehabt haben konnte, sie zu fassen. Ich gehörte ihm ganz an. Von diesem Augenblick an versenkte sich meine Seele in den Gedanken an seine unbegreifliche Macht.»255

      Der Rückweg ging vergleichsweise leicht und lustig vonstatten, und zurück in Grindelwald seien sie bestaunt worden, als seien sie Geister. Aus dem Reich des Todes kehrte Dora d’Istria ihren Worten zufolge geläutert und um eine visionäre Erfahrung reicher zurück; zum Beweis der Tat stellten ihr die Bergführer ein Diplom aus, das sie in ihrem Buch abdrucken liess.256

      Es scheint allerdings, dass die Führer ihre Unterschrift entweder unter ein lügnerisches Dokument gesetzt hatten – oder dass sie die gut bezahlte Erstbesteigung des markanten Viertausenders ein zweites


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