Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
und Ideale vermuten konnte. Diese alpine Bilderwelt der Aufklärer nutzten die Schweizer bei der Gründung des Bundesstaates 1848 zur Legitimierung des neuen Nationalstaates.1 Durchaus erfolgreich: In den Jahren 1870 bis 1940 wurde es zum Allgemeinplatz, dass die Schweiz mit all ihren Merkmalen geradezu zwangsläufig aus der alpinen Landschaft hervorgegangen sei; Demokratie, Freiheit, Unabhängigkeit und was der schweizerischen Ideale mehr sind, waren demnach in den engen Bergtälern gleichsam gewachsen.2 Der Soziologe Oliver Zimmer bezeichnet diese Vorstellung, eine Nation sei wie eine Pflanzengattung oder Tierart gewissermassen evolutionär von ihrer natürlichen Umwelt geprägt, als «Naturalisierung der Nation», im Anschluss an Mary Douglas’ These, dass im Entstehen begriffene und daher noch fragile Institutionen – wie etwa eine neue Nation – durch die Analogie zur natürlichen Welt zusätzliche Legitimation erhalten und für selbstverständlich erklärt werden: Die Technik der Naturalisierung verdeckt, dass die betreffende Institution menschengemacht ist und schützt sie vor Veränderungswünschen und Kritik.3
Die enge Verknüpfung des schweizerischen Staates mit den Alpen ist bis heute weit verbreitet. Noch im Standardwerk «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» ist sie zu finden,4 und auch im öffentlichen Bewusstsein werden zahlreiche Geschichten tradiert, in denen die Berge als «natürliche» Geburtsstätte aller als schweizerisch gesehenen Eigenschaften und Dinge fungieren: So heisst es etwa, an manchen Frühlingsabenden sei auf der Jungfrau-Nordwand ein von Sonnenstrahlen und Schatten erzeugtes Kreuz zu sehen, und dies sei der Grund, weshalb die Schweizer Flagge von einem Kreuz geziert wird.5 Das Schweizerkreuz wird durch die Verbindung mit einer physikalischen Lichterscheinung überhöht und legitimiert, und es geht vergessen, dass Schweizerinnen und Schweizer möglicherweise besonders gerne überall Kreuze sehen und diese für bedeutungsvoll halten.
Dieser Geodeterminismus, der die Alpen zum Ursprung jeglicher schweizerischen Identität macht, hatte zur Zeit seiner Entstehung um 1848 neben der romantischen Verpackung zusätzlich einige handfeste Vorteile: Auf politischer Ebene ermöglichte diese Theorie, die im Sonderbundskrieg von 1847 unterlegenen Innerschweizer (Berg-)Kantone in die neue Nation einzubinden, indem man ihnen den Ehrenplatz der «Geburtsstätte» der Schweiz zugestand.6 Und auch aus wirtschaftlicher Sicht war es angesichts des zunehmenden Fremdenverkehrs durchaus sinnvoll, das eigene Land den touristischen Erwartungen gemäss zum Bergparadies zu stilisieren. Und schliesslich liess sich der neue Nationalstaat mittels Alpen besonders gut popularisieren, waren die Berge doch nicht bloss ein sichtbares, sondern auch ein erlebbares Symbol der Nation.
Dass die Nation für ihre Bürgerinnen und Bürger keine Selbstverständlichkeit ist, sondern bloss eine vorgestellte Gemeinschaft, eine imagined community, hat der amerikanische Politologe Benedict Anderson überzeugend dargelegt.7 Mit der Definition eines Territoriums, einer Staatsform und einer Regierung ist es nicht getan; damit eine Nation funktioniert, braucht es die Verpflichtung aller Einzelnen auf dieses Gebilde. Sie müssen sich die kollektive nationale Identität zu Eigen machen und sie beständig aktualisieren, und dies, obwohl ihre «Gemeinschaft» nicht im Alltag erfahrbar, sondern bloss imaginiert ist. Eine Nation besteht erst, wenn ihre Mitglieder an sie glauben und sich ihr emotional verbunden fühlen. Traditionellerweise hiess es auf die Frage, wie es zu solchen patriotischen Gefühlen kommt, sie seien Ausdruck davon, dass Menschen aufgrund übergreifender Gemeinsamkeiten – wie etwa Sprache, Kultur oder gar «Rasse» – Teil eines «Volkes» seien.8 In der mehrsprachigen, multikulturellen Schweiz tat man sich mit dieser Vorstellung allerdings stets schwer und verwies auf einen gemeinsamen «Willen», der zur Schweiz als «Willensnation» vernünftiger Bürger geführt habe.
Innerhalb der Nationalismusforschung wurde in jüngerer Zeit jedoch vermehrt darauf hingewiesen, dass Menschen sich ihre nationale Identität nicht durch vernunftgeleitetes Abwägen aneignen.9 Benedict Anderson etwa ist der Ansicht, die emotionale Bindung entstehe durch die konkrete Teilnahme an einem gemeinsamen Diskurs, beispielsweise bei der täglichen Zeitungslektüre.10 Andere, wie der Historiker Manfred Hettling, meinen, es brauche zusätzlich persönliche Erlebnisse, und zwar durch die Ausführung von Tätigkeiten, von denen angenommen wird, dass alle, die zur selben Nation gehören, daran partizipieren. Dabei spielen unmittelbare, sinnliche Erfahrungen wie Essen, Trinken, Lieder Singen oder körperliche Anstrengung eine wichtige Rolle, denn sie sind es, die den Menschen am stärksten in Erinnerung bleiben.11 Und wie schon weiter oben anhand der Fahrtenbücher bemerkt wurde, bedeutet etwas zu erinnern, es zur Konstruktion der eigenen Biografie, der eigenen Identität zu verwenden.12 Wer an Tätigkeiten teilgenommen hat, die allgemein als mit der Nation verknüpft angesehen werden, verbindet die eigene Identität mit der Nation – die Nation in Frage zu stellen, würde in der Folge heissen, sich selbst in Frage zu stellen.13 Hettling argumentiert, in der Schweiz sei für die Herstellung der emotionalen Bindung an die Nation insbesondere die Teilnahme an Schützenfesten, der Besuch von Landesausstellungen und das Reisen durch die Schweiz wichtig gewesen.14 Dieser These folgend, können Bergwanderungen als Besuch der imaginären Geburtsstätte der Nation betrachtet werden, wobei die Alpen nicht bloss einprägsames Symbol sind, wie Zimmer es dargelegt hat, sondern als liminaler Raum genutzt werden, in dem rituell nationale Identität gestiftet wird: Beim Wandern durch die nationale Erinnerungslandschaft schrieben sich Schweizerinnen und Schweizer die Heimat gleichsam in ihre Körper ein.
DIE ALPENLANDSCHAFT ALS STAATSPOLITISCHES LEHRMITTEL
Die Funktion der Alpen als Symbol ist eng verknüpft mit ihrer Nutzung als liminaler Raum. Dies zeigt sich in den Aussagen jener, die sich in den Anfangszeiten des Bundesstaates für den Alpenmythos stark machten. Besonders aufschlussreich sind die Schriften des Westschweizer Literaturprofessors Eugène Rambert (1830–1886), in denen er darlegt, wie die Schweiz natürlicherweise «gewachsen» sein soll und wie diese Erkenntnis zu popularisieren sei. Rambert war von 1882 bis 1884 Präsident des SAC und wurde zum Ehrenmitglied ernannt für sein von 1866 bis 1875 erschienenes sechsbändiges Werk «Les Alpes Suisses», das sämtliche alpinen Phänomene erfassen sollte; eine bunte Mischung aus wissenschaftlichen Beobachtungen, Tourenberichten, Gedichten, Geschichten und Beschreibungen von Gämsjagden und dergleichen.
1866 erklärte Rambert in einem einflussreichen Aufsatz mit dem Titel «Les Alpes et la liberté», warum die Nation Schweiz eine Notwendigkeit sei: Kein anderes Land habe so natürliche Grenzen wie die Eidgenossenschaft mit ihrem an eine Barriere gemahnenden «Alpenkranz». Dass dies eher Wunschvorstellung denn Realität war, kann leicht anhand einer Landkarte nachgeprüft werden: Das schweizerische Staatsgebiet ist keineswegs von Bergen, geschweige denn von den Alpen umrundet. Die Vorstellung, dies sei – zumindest auf einer höheren, metaphorischen Ebene – aber irgendwie doch so, ist bis heute weit verbreitet und spielte im Zusammenhang mit der Legitimation der Réduitstrategie während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle.15 Ramberts Schweiz-Modell entsprach auch in anderen Punkten nicht so ganz der Realität: Er ignorierte die Passverbindungen über die Gebirgsketten und meinte, die Alpentäler seien derart in sich geschlossen, dass sie zwangsläufig zu souveränen Staaten hätten werden müssen – den Kantonen.16 Dass längst nicht jeder schweizerische Kanton einfach ein Tal ist, störte Rambert wenig beim Imaginieren einer perfekten, von der Natur geschaffenen Nation.
Die Alpen bestimmten gemäss Rambert aber nicht nur den Grenzverlauf der Schweiz und ihre föderalistische Gliederung, sondern auch die bestehende Staatsform, und zwar dadurch, dass sie angeblich den Charakter der in ihnen lebenden Menschen prägten: Weil «der Bergler» von Natur aus trittfester und scharfsichtiger sei und durch das Bewusstsein dieser Überlegenheit ein grosses Unabhängigkeitsbedürfnis empfinde, sei gar keine andere als die demokratische Staatsform möglich. Zudem führe die Armut der Berggegenden dazu, dass alle Schweizer gleich wenig besässen, weshalb es weder Herren noch Knechte gebe. In den engen Bergtälern schliesslich habe sich diese Staatsform unbemerkt entwickeln und festigen können.17 «La nature nous a octroyé ce dangereux privilège de ne pouvoir être que si nous savons être libres.»18 Damit griff Rambert direkt auf die von Haller und Rousseau verwendeten Topoi zurück.
Obwohl die Schweiz also angeblich per Naturgesetz gezwungen war, stetig zu jener modernen Nation zu werden, die Rambert kannte und schätzte, scheint er über ihre Legitimation im Vergleich