Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
forderte Kritik heraus. In ihrem Bericht behauptete Angeville deshalb, den Text primär für den engsten Familien- und Freundeskreis geschrieben zu haben. Dies war jedoch bloss eine rhetorische Bescheidenheitsgeste.212 In ihrem Tagebuch stellte Angeville Überlegungen zur Suche nach einem Verleger an und berichtete, eine Freundin habe bei englischen Buchhändlern erste Abklärungen getroffen. Ausserdem beauftragte sie acht namhafte Künstler, insgesamt 54 Illustrationen anzufertigen, und 1839 reiste sie auf der Suche nach einem Verleger nach Paris – allerdings vergeblich.213
1900 publizierte eine französische Bergsteigerzeitschrift Angevilles Tagebuchnotizen, das Manuskript des Tourenberichtes hingegen war lange Zeit verschollen. Es wurde erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und 1987 neu publiziert. Der Herausgeber nahm Angevilles Bescheidenheitsbeteuerungen wörtlich und schrieb im Vorwort, der Text sei nie zur Publikation gedacht gewesen.214 Ein Missverständnis, das auch daraus entstanden sein mag, dass Angeville es nicht auf eine Öffentlichkeit im modernen Sinne abgesehen hatte: Sie wandte sich mit ihrem Werk an das gebildete Publikum der Salons, das sich idealerweise persönlich kannte. Als Autorin und Frau orientierte sie sich in ihrem Verhalten primär an den Normen dieser adeligen Gesellschaft und nicht an der Geschlechterordnung des Bürgertums. In der anonymen Öffentlichkeit der Presse fand Angevilles Expedition zwar ebenfalls grosse Beachtung, doch es scheint, dass ihr daran wesentlich weniger gelegen war als an der Anerkennung ihrer Taten und Schriften im exklusiven Kreis der Salons, ja, sie äusserte ein gewisses Unbehagen gegenüber diesen schlecht kontrollierbaren Publikationen, obwohl gerade Zeitungsartikel sie auch in Paris bekannt gemacht hatten.215 1839 wurde sie am Hof empfangen und zu zahlreichen Soirées eingeladen. Emile Gaillard, der 1947 eine Biografie über sie verfasst hat, zitiert eine Dame der guten Pariser Gesellschaft, die über die Bergsteigerin schrieb:
«Le lion du monde fashionable et intelligent est en ce moment la célèbre Mademoiselle d’Angeville, cette voyageuse intrépide qui, l’année dernière, a gravi le sommet du Mont Blanc, la première, la seule femme qui eut accompli ce dangereux pèlerinage. Chacun veut la voir; on l’entoure, on l’interroge, et Mademoiselle d’Angeville répond, aux nombreuses questions dont on l’accable, avec beaucoup de bonne grâce et d’esprit.»216
Obwohl ihr illustriertes Album in diesen Kreisen Anklang fand, fand Angeville keinen Verleger.217 Berühmt wurde sie jedoch, und sie genoss es, obwohl das Vergnügen ein getrübtes war, da Stolz und Eitelkeit bei einer Frau als besonders schlimme Charaktermängel galten. Das Suchen und Geniessen von Ruhm war für Angeville deshalb ein ständiges Thema.218 Nicht, dass männliche Bergsteiger nicht genauso viel dafür getan hätten, bewundert zu werden – nur reflektierten sie dies selten. Es schien ihnen selbstverständlich, für ihre Leistungen anerkannt werden zu dürfen, weshalb sie es gar nicht erst problematisieren mussten.
Anders Angeville. Ihr Bericht ist von einer seltsamen Mischung aus Bescheidenheit und selbstbewusstem Auftreten geprägt, die auf den schwierigen Status schreibender Frauen in der frühen bürgerlichen Gesellschaft hinweist. Sie beschrieb sich als heroische Alpinistin, wies aber beständig darauf hin, dass ihr der Status als Heldin nicht so recht behage. Und einleitend versteckte sie sich gleichsam hinter einem Schleier weiblicher Bescheidenheit, indem sie notierte, sie könne unmöglich über sich selbst schreiben, denn «je conserve le sentiment délicat des bienséances qui interdit à une femme d’être elle-même l’auteur de son portrait».219 Frauen durften sich demnach also nicht selbst beschreiben, sondern mussten auf die Beurteilung durch andere warten, um etwas über sich zu erfahren. Umso mehr musste sie sich dadurch positionieren, dass sie sich in ihrer Erzählung von anderen bejubeln liess oder auch absetzte – mit ein Grund, weshalb sie Marie Paradis in ihrem Bericht einen wichtigen Platz einräumte: als Negativfolie, vor der sie selbst als Beispiel eines erstrebenswerten, selbstbestimmten Frauenbildes posieren konnte. Denn dass die Beschreibung durch andere nicht immer zufriedenstellend ausfiel, wusste sie nur zu gut: In ihrem Bericht dankte sie ironisch verschiedenen Zeitschriften für ihre «Galanterie», hatten sie sie doch als «jeune Française» und als Frau, die auf die 40 zugehe, bezeichnet. Sie sei in Wirklichkeit älter – nämlich 44 –, verkündete sie kraft der sich selbst zugeschriebenen «qualité d’historien véridique», und wolle sich keines ihrer Jahre «stehlen» lassen.220
Dass Angeville trotz aller gesellschaftlicher Vorurteile einen publikationsreifen Text hinterlassen hat, hängt vermutlich mit ihrem Selbstverständnis und ihrer sozialen Stellung als Aristokratin zusammen. Späteren Bergsteigerinnen fiel es schwerer, mit Berichten über ihre Touren in die Öffentlichkeit zu treten, und manche davon publizierten anonym, unter dem Namen eines männlichen Verwandten, oder blieben gar stumm. Erst die Zeitschriften der im 20. Jahrhundert gegründeten Frauenalpenclubs boten eine geschützte Halböffentlichkeit, die es Bergsteigerinnen ermöglichte, Tourenberichte zu publizieren, ohne in Widerspruch zum gesellschaftlich geforderten Weiblichkeitsideal zu geraten.
DIE «BRAUT DES MONTBLANC»
Mit ihrem Bericht hatte Henriette d’Angeville allen Normen zum Trotz die Definitionsmacht über sich selbst gesucht. Sie behielt sie jedoch nicht lange. Im alpinistischen Diskurs wurde sie immer wieder erwähnt, allerdings unter recht unterschiedlichen Vorzeichen: Während manche sie als Wegbereiterin des Frauenalpinismus priesen, wie 1894 etwa die französische Bergsteigerin Mary Paillon, machten vor allem Männer sie zum blossen Kuriosum. So etwa 1933 der österreichische Alpinist Karl Ziak: «Der Auszug des vierundvierzigjährigen kühnen Jüngferleins erregte natürlich in Chamonix beträchtliches Aufsehen. Das Fräulein stak in einer bis auf die Knöchel reichenden Pumphose, die aber bis zu den Knien durch eine Bluse schamhaft verdeckt war. Ein zeitgenössisches Bild zeigt die Dame sogar in einem Reifrock über eine riesige Gletscherspalte steigend.»221 Von Scham ist bei Angeville selbst nichts zu lesen. Ihr spezielles Kostüm war eine selbstbewusste Eigenkreation. Dabei eine Hose zu wählen, bereitete ihr keinerlei Bedenken; die Vorstellung, Hosen seien für kletternde Frauen zwar praktischer, aber eigentlich unmoralisch und daher zu verstecken, kam, wie bereits erwähnt, erst später auf.
Gerade in Bezug auf die Geschlechterordnung irritierte Angeville Ziak aber offenbar ziemlich: Er meinte, Angevilles Entschluss, den Montblanc zu besteigen, zeuge von «männlichem Wesen», um sogleich klarzustellen, dass sie trotzdem eine Frau war. Er schrieb: «Wie eine Königin sass sie auf dem Gipfel. […] ‹Wollen ist Können› schrieb sie mit ihrem zierlichen Bergstock ins ewige Eis. Und sie stieg noch über den Montblanc hinaus, nämlich auf die Schultern ihrer Begleiter. Anderthalb Meter höher als alle Männer, das war ihr besonderer Triumph, und dafür gab sie den Führern gern einen Kuss.»222 Ziaks Text enthält zahlreiche, teils erotisch aufgeladene Spekulationen über Angevilles Wesen. Zuerst einmal verniedlichte er sie zum «Jüngferlein» und beschrieb ihre Ausrüstung als «zierlich»; gleichzeitig wies er ihr eine moralisch zweifelhafte Rolle zu, indem er behauptete, sie habe die zusätzliche Dienstleistung der Führer freimütig mit Küssen «bezahlt». In dem für die Publikation gedachten Manuskript Angevilles ist nirgends von solchen schwierig einzuordnenden Küssen die Rede. Im Tagebuch hielt sie die entsprechende Episode fest – nur tönt sie bei ihr etwas anders: Die Bergführer hätten in aller Höflichkeit darum gebeten, sie küssen zu dürfen; also eher so, wie man es einer Respektsperson höheren Standes, einem Fürsten oder kirchlichen Würdenträger gegenüber getan haben mochte.223 Zudem ist da nirgends die Rede davon, dass sie auf den Schultern der Männer gesessen hätte, sondern sie schrieb, die Führer hätten sie auf eigenen Wunsch hin und aus «männlichem Stolz» mit verschränkten Händen hochgehoben, damit ihre Kundin höher hinaufgelange als alle anderen Montblanc-Besucher.224 Offenbar hielt Angeville zumindest die Kussepisode aber auch für unpassend für eine «richtige» Bergsteigerin und liess sie im Bericht weg.
Das von Ziak so intensiv behandelte Moralproblem war für Angeville vergleichsweise unwichtig, denn wie bereits erwähnt, zählten die Führer punkto guter Sitten für sie kaum. Als Diener gehörten sie für Angeville praktisch einer anderen Kaste an und stellten – da sie als Partner ohnehin nicht in Frage kamen – keine Bedrohung ihrer Ehre dar. Nicht dass Angeville die Wahrung gesellschaftlicher Formen gleichgültig gewesen wäre, ganz im Gegenteil: Dem polnischen Baron gewährte sie während des Biwaks bei Grands Mulets die gewünschte Visite erst, nachdem dieser sie ganz formell