Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
– zärtliche Gefühle der Verbundenheit mit Heimat und Familie, und er war froh, dass seine Angehörigen nicht mehr um ihn besorgt sein mussten und er die Aussicht geniessen konnte.140 Leider habe ein leichter Nebel die französischen und lombardischen Ebenen verdeckt, doch dies schmälere die Möglichkeiten des Überblicks kaum:
«Ce que je venois voir, et ce que je vis avec la plus grande clarté, c’est l’ensemble de toutes les hautes cimes dont je désirois depuis si long-temps de connoître l’organisation. Je n’en croyois pas mes yeux, il me sembloit que c’étoit un rêve, lorsque je voyois sous mes pieds ces cimes majestueuses, ces redoutables Aiguilles, le Midi, l’Argentière, le Géant, dont les nases mêmes avoient été pour moi d’un accès si difficile et si dangereux. Je saisissois leurs rapports, leur liaison, leur structure, et un seul regard levoit des doutes que des années de travail n’avoient pu éclaircir.»141
Vom privilegierten Standpunkt auf dem Gipfel gewann Saussure also angeblich in einem einzigen Blick sämtliche Erkenntnis, die er zuvor lange gesucht hatte: Der Berggipfel wurde so auch für diese Forschungsreise zum magischen, sakralen Ort, Wissenschaft wurde mithin zum quasireligiösen Erlebnis, das ganzheitlichumfassende Visionen versprach. Dass Saussures Erkenntnisgewinn sich in Wirklichkeit langwieriger Kleinarbeit verdankte, stand in diesem Zusammenhang nicht zur Debatte, denn es handelt sich hier um eine ritualisierte Darstellung des «Gipfelerlebnisses», der es eher um die bildhaft einleuchtende Illustration des Ergebnisses dieser Pilgerfahrt zum Tempel des Wissens als um die realitätsgetreue Abbildung des Weges dorthin ging.142
Das Zitat stammt aus einem Text, den Saussure gleich anschliessend an seine Tour publiziert hatte und in den «Voyages» wiedergab. Andernorts im selben Buch findet sich eine zweite, ausführlichere Beschreibung, die weniger begeistert tönt: Dort meinte Saussure, der letzte Schritt auf den Gipfel sei kein derartiger «coup de théâtre» gewesen, wie die Leser es sich vielleicht vorstellten, denn er habe die Aussicht beim Aufstieg ja ohnehin schon die längste Zeit genossen. Sein stärkstes Gefühl bei der Ankunft sei denn auch nicht Freude gewesen, sondern eher eine Art «colère», und das starke Verlangen danach, die Mühen des Aufstieges endlich hinter sich zu wissen. Allerdings, so fügte er bei, sei es ihm ja auch nicht bloss darum gegangen, den höchsten Punkt zu erreichen, sondern das Wichtigste seien die Experimente gewesen.143 Der Unterschied zwischen den beiden Berichten ist dennoch ziemlich gross: Während er im ersten noch schrieb, ein einziger Blick habe ihm quasi die gesamte Ordnung des Universums präsentiert, so berichtete er im zweiten, was ihm als Erstes ins Auge gefallen sei, sei das unordentliche Durcheinander der Berge und Bergketten gewesen.144
5 Horace-Bénédict de Saussure mit Trägern und Führern beim Aufstieg zum Montblanc, 1787.
Viereinhalb Stunden verweilte Saussure auf dem Gipfel und machte mit Hilfe seiner Gefährten die geplanten Experimente und zahlreiche Messungen. Unter anderem wurde die Kochtemperatur von Wasser auf dieser Höhe bestimmt, mit dem Barometer die Höhe des Berges ermittelt und mit Hilfe des «Cyanometers», eines Sets von 16 verschieden blauen Papierstreifen, die Bläue des Himmels gemessen.145 Anschliessend kehrte die Expedition nach Chamonix zurück, wo Saussure begeistert empfangen wurde. Schon Paccards und Balmats Besteigung des Berges hatte grosses Aufsehen erregt, doch sie wurde von Saussures Expedition völlig in den Schatten gestellt. Sowohl die schweizerische als auch die deutsche, französische und englische Presse beschäftigten sich ausführlich mit dem Ereignis, und Saussure wurde mit Gedichten geehrt. Sein 1787 publizierter, erster Bericht wurde sogleich ins Italienische und Englische übersetzt und erschien später auch in illustrierter Form.
6 Die «Eroberung» des Grossvenedigers 1841.
Die Bilder von der Expedition trugen das ihre dazu bei, Saussures Ruhm zu verbreiten. Im Vergleich zu späteren Abbildungen fällt auf, dass weder die Berglandschaft dramatisiert noch die Bergsteiger heroisiert wurden, sondern dass die Expedition eher nach dem Muster eines demokratischen Alpaufzuges dargestellt ist. Nicht die körperliche Leistung oder der Kampf stehen im Vordergrund, sondern die Gruppe von erkenntnissuchenden Männern, die gemeinsam ihr Ziel anstreben und immer weiter nach oben fortschreiten. Fast noch schematischer findet sich diese Art der Darstellung auf der oben abgebildeten Lithografie von 1841: Die Eroberung des Grossvenedigers durch das «Haus Österreich». Der Aufstieg zum Licht der Aufklärung, in dessen Strahlen die monarchische Botschaft «Haus Österreich lebe hoch» erscheint, geschieht hier ebenfalls ganz unheroisch durch eine grosse Menge kleiner, überaus bürgerlich aussehender Männchen, die sich demselben Ziel verschrieben haben. Es geht stetig aufwärts: Keinerlei widersprüchliche Berg- und Talfahrten müssen sie auf sich nehmen, nur ein bisschen Nebel durchdringen.
Zur bildlichen Darstellung der Montblanc-Expedition passt, dass viele Kommentatoren hervorhoben, wie bescheiden Saussure sich selbst dargestellt habe. Im Vergleich zu späteren, sich gelegentlich beinahe vor Eigenlob überschlagenden Alpinisten wie etwa Edward Whymper mag dies durchaus zutreffen. Saussure war auch so ehrlich, die Leistung von Balmat und Paccard mehrfach zu erwähnen und zu loben.146 Dennoch wusste er sich in seinem Text sehr wohl als wahren Entdecker des Berges zu stilisieren: Nachdem er sich zum Beispiel einige Seiten lang über die Gefahren im Gebirge und die naiven Ängste seiner Begleiter vor der Kälte verbreitet hatte, schrieb er: «Mais je ne m’occupois absolument point du danger; mon parti étoit pris, j’étois décidé à aller en avant, tant que mes forces me le permettroient; je n’avois d’autre idée que celle d’affermir mes pas et d’avancer.»147 Fortschritt und Erkenntnis um jeden Preis, lautete sein Motto, zumindest bei der Beschreibung der Tour. Obwohl Saussure mitnichten allen anderen vorausgegangen war, weder auf seiner Expedition noch in Bezug auf die Besteigung des Montblanc überhaupt, machte er sich hier zumindest metaphorisch zum Anführer aller anderen.
Wie sehr er in Wirklichkeit auf seine einheimischen Gehilfen angewiesen war, belegt sein Hinweis, er habe beim Vorbeigehen an tiefen Abgründen stets je einen Führer so vor und hinter sich platziert, dass sie ihm mit einem gemeinsam gehaltenen langen Stab ein Geländer zum Festhalten anbieten konnten.148 Und nicht nur als Berggänger, auch als Wissenschaftler war Saussure auf die Hilfe der Einheimischen angewiesen, nur schon, um die umfangreichen Gerätschaften zu transportieren, die er mitführte. Allerdings verstanden seine Helfer die Intentionen des Forschers offenbar nicht immer: In seinen Tipps für Wissenschaftler empfahl Saussure, man solle die gesammelten Gesteinsproben so oft wie möglich nach Hause senden, da die Bergführer und Träger dazu neigten, sie wegen ihres Gewichts unterwegs wieder wegzuwerfen.149
Während Saussure als Erstbesteiger des Montblanc gefeiert wurde, obwohl er selbst – so, wie es Henriette d’Angeville später auch tun sollte – darauf hinwies, dass er nicht wirklich der Erste gewesen war, wurden die an der Besteigung beteiligten einheimischen Personen lange als blosse Helfer gesehen, die nur die Pläne des Gelehrten ausführten. Auch hier genügte es nicht, auf dem Berg gewesen zu sein, um als veritabler Alpenforscher gefeiert zu werden, dazu brauchte es zusätzliches, kulturelles Kapital: die Fähigkeit und Möglichkeit, als jemand aufzutreten, der wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und diese anschliessend auch auf die richtige Weise dem interessierten Publikum vorzustellen vermochte. Der Jäger und Kristallsucher Jacques Balmat erhielt innerhalb des alpinistischen Diskurses immerhin die Rolle des naturverbundenen und ortskundigen Bergführers und unentbehrlichen Helfers zugeschrieben und wurde zudem später im Zuge einer neuen Begeisterung für die einheimischen Bergführer als Erstbesteiger regelrecht «rehabilitiert».150 Der Arzt Michel Paccard hingegen wurde aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet, denn er passte als Mitglied der lokalen Elite schlecht in die im alpinistischen Diskurs übliche Dichotomie zwischen den einheimischen Bauern und den gebildeten Bergreisenden. Obwohl Paccard versuchte, dies durch einen eigenen Tourenbericht zu ändern, misslang es ihm, sich selbst eine wichtige Rolle bei der Besteigung des Montblanc zu erschreiben. Den Grund dafür sieht der französische Historiker Philippe Joutard darin, dass Paccard zwischen die sozialen