Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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Zürcher Naturforscher und Stadtarzt Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine umfassende Beschreibung der Alpen zu erstellen, und bereiste sie dazu 20 Jahre lang. Seine Ergebnisse publizierte er von 1705 bis 1707 in Form einer Wochenzeitschrift; 1716 erschienen die gesammelten Texte als «Natur-Geschichte des Schweitzerlandes», ein für die neuzeitliche Naturgeschichte und Volkskunde grundlegendes Werk, das unter anderem die erste gedruckte Karte des Glarnerlandes enthielt und eine wichtige Quelle für Schillers «Wilhelm Tell» gewesen sein soll. Scheuchzer wollte mit seinen Schriften sowohl Fremden wie Einheimischen die Schweiz näher bringen und ihnen Informationen für eigene Reisen liefern. Er propagierte die gesundheitsfördernde Wirkung des Wanderns und wandte sich explizit gegen die verbreitete Meinung, Bergreisen seien mühsam und unnütz.111 Unter «Bergreisen» verstand Scheuchzer allerdings Reisen in der Schweiz überhaupt; Berge und Schweiz waren ihm ein und dasselbe. Das zeigt sich auch in seiner Theorie über die Entstehung des bei Schweizern angeblich so häufig auftretenden Heimwehs: Scheuchzers Ansicht nach litten die Schweizer im Ausland deswegen so sehr unter Heimweh, weil sie als Bergler dünnere Luft gewohnt waren. Der Arzt empfahl, die Kranken deshalb auf hohe Türme zu bringen, wenn es nicht möglich sei, sie nach Hause gehen zu lassen.112

      SCHEUCHZERS DRACHEN

      Im alpinistischen Diskurs wird Scheuchzers Werk gerne als Beleg für die abergläubische Furcht der Einheimischen vor den Bergen herangezogen; Scheuchzer wird damit – zu Unrecht, wie ich meine – zum Vertreter eines angeblich «finsteren» Mittelalters gemacht, als dessen Überwinder sich spätere Alpinisten gerne sahen. Genüsslich wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich in Scheuchzers Werk eine nach Kantonen unterteilte Klassifikation der in der Schweiz angeblich lebenden Drachen findet, die der Naturforscher aufgrund einer schriftlichen Umfrage erstellt hatte.113 Nach vertiefter Lektüre der «Natur-Geschichte» scheint mir die immer wiederkehrende Charakterisierung Scheuchzers als naiver Abergläubling allerdings primär ein Baustein des Gründungsmythos des englischen Alpine Club zu sein. Englische Bergsteiger konnten sich dadurch als aufgeklärte Alpenentdecker profilieren, die sich jenseits bereits begangener Pfade bewegten und darüber hinaus eine erzieherische Mission gegenüber den abergläubischen Einheimischen verfolgten. Ein heutiges Beispiel für diese Haltung findet sich beim englischen Schriftsteller Fergus Fleming, dem es in seiner 2002 erschienenen populären Alpinismusgeschichte mit dem bezeichnenden Titel «Killing Dragons» ein grosses Anliegen ist, zu betonen, Scheuchzer sei kein wirklicher «Bergsteiger» gewesen, ja, er habe die Gipfel geradezu gemieden. Zudem habe der Naturforscher durch seine naive Drachenforschung dafür gesorgt, dass sich «für mehrere Jahre respektvolles Schweigen über die Alpen» gesenkt habe.114 Erst der Auftritt zweier Briten setzte laut Fleming das Rad der Geschichte wieder in Bewegung: «Die Stille wurde 1741 von zwei Briten, den Herren Pococke und Windham, durchbrochen [die unter anderem Chamonix bereisten, TW ].»115

      Scheuchzers Schriften stützen diese Version der Geschichte nicht. Sie bezeugen vielmehr, mit welcher Akribie der Forscher alles sammelte, was irgendwie als bislang unerklärliches Naturphänomen gelten konnte. Sein Ziel war ganz offensichtlich, diese Phänomene naturwissenschaftlich zu ergründen – mit Vorliebe durch physikalische Erklärungen. Beim Sammeln dieser «Naturwunder» machte er auch Umfragen und verliess sich auf Zeugenberichte und ältere, nicht naturwissenschaftliche Literatur. So hielt er etwa unter genauester Angabe der Literaturquellen fest: «An. 1651 den 7. Jan. nach Mitternacht zwischen 1 und 2 Uhren sahe man einen Feurigen Drachen von Wädischweil (am Zürich-See) gegen Mänidorff überfliegen und hörte zugleich ein Getöss gleich einem anhaltenden Canonschuss.»116 Scheuchzers Vorgehen ist aus Sicht der modernen Naturwissenschaften methodisch falsch, doch sollte nicht vergessen werden, dass sein Werk an den Anfängen der modernen Wissenschaft steht und somit auch auf ältere Formen des Erkenntnisgewinns baute.

      Die modernen naturwissenschaftlichen Methoden des Beobachtens und Experimentierens waren dem Stadtarzt allerdings durchaus bekannt: Wenn irgend möglich, studierte er die Phänomene vor Ort, so zum Beispiel die so genannten «Wetterlöcher». Ein in diese, meist im Berggebiet gelegenen Löcher geworfener Stein erzeugte angeblich ein Unwetter. Auf dem Rigi, wo ein solches Wetterloch den unseligen Geist von Pontius Pilatus beherbergen sollte, probierte Scheuchzer den Steinwurf selbst aus und fand, dass die These nicht stimmte. Trotzdem hielt er mündliche Tradition und Zeugenberichte weiterhin für eine glaubhafte Wissensquelle, die nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte. Erst die späteren, modernen Naturwissenschaftler stuften mündliche Tradition a priori als nichts sagend ein und machten so die eigenen Methoden und die eigene Gruppe zur einzigen Autorität. Scheuchzer hingegen ging trotz eigenen Experimenten weiterhin von der Möglichkeit aus, dass die allgemein bekannten Erscheinungen existierten, und suchte nach physikalischen Erklärungen: Dämpfe, Hebelwirkungen, Hitze, Kälte, elektrische Phänomene, solcherart waren die neuen Wahrheiten, die Pontius Pilatus im Wetterloch ersetzen sollten. Vielleicht interessierte sich der tief religiöse Scheuchzer auch deswegen so sehr für die rationale Erklärung von «Wundern», weil es für ihn und seine Zeitgenossen eine wichtige Frage war, wie Religion und Naturforschung zusammenhingen beziehungsweise sich voneinander unterschieden und welche «Disziplin» für welche Sachverhalte zuständig sein sollte.

      

      4 Der Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer. Zeitgenössischer Stich.

      Bei den Drachen fiel es naturgemäss schwer, die Aussagen anhand eigener Beobachtungen zu prüfen. Scheuchzer versuchte deshalb, mit allen ihm zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln, die jeder neuzeitlichen Ordnung spottenden Märchenviecher unter Kontrolle zu bekommen. Eine probate Methode, Lebewesen in eine Ordnung einzufügen, ist die Klassifikation: Wenn schon unklar war, ob die Tiere mittels heisser Dämpfe flogen oder sonst irgendwie, so war es doch immerhin ein Anfang, wenn man sie wenigstens nach Kantonen sortiert hatte. Wenn ich Scheuchzer lese, komme ich also zu einem ganz anderen Schluss als die Chronisten der englischen Bergsteigerei: Scheuchzer war kein Bewahrer vormoderner Weltvorstellungen, sondern versuchte, die alte Welt in die Moderne hinüber zu erklären. Punkto Drachen war er übrigens skeptischer, als es der alpinistische Diskurs glauben machen will. Er schrieb: «Ich selbs, ob ich gleich in dieser Materi sehr ungläubig bin, habe alle Schweizerische Drachen-Historien mit grossem Fleiss zusammengetragen, und nach deren Beschreibung abmahlen lassen, werde [sie] aber […] nicht dargeben vor wahrhafft, sondern vor sehr zweifelhafft, und die meisten vor erdichtet.»117

      Die hier abgebildete zeitgenössische Darstellung zeigt Scheuchzer denn auch als Vertreter der Aufklärung und der rationalen Vernunft, der in den Bergen das Licht der Erkenntnis gefunden hat. Dass von ihm nur eine Büste auf einem Sockel zu sehen ist, belegt einerseits, wie sehr er zum «Denkmal» geworden war, zu einem berühmten und zu ehrenden Vorbild, andererseits aber auch, dass seine Tätigkeit in den Bergen als etwas zutiefst Unkörperliches gesehen wurde: Nur das Beobachten, Sehen und Denken zählte, Arme, Rumpf und Beine galten nicht als darstellenswert. Im Vordergrund finden sich dafür einige Symbole seiner Forschungstätigkeit: Das Leben in den Häusern und Alphütten interessierte ihn genauso wie das Sammeln, Kategorisieren und Einordnen von Naturgegenständen. Während die Fossilien für das Interesse an der Naturgeschichte stehen dürften, ist der Bergkristall ein Symbol für absolute Ordnung und für das Licht, das Scheuchzer in die Köpfe seiner Mitmenschen bringen wollte. Im alpinistischen Diskurs hingegen gab Scheuchzer immer wieder die Negativfolie ab, vor der Bergsteiger sich als Kinder der Moderne inszenieren konnten.

      DIE ALPEN ALS «LABOR DER NATUR»

      Einer der bekanntesten Vertreter der wissenschaftlichen Bergreise ist wohl der Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799). Er gilt als einer der Gründerväter der modernen Geologie, wurde seinerzeit als «Erstbesteiger» des Montblanc gefeiert und später machten ihn die britischen Alpinisten zu einem ihrer «Ahnen».118 1787 bestieg er den Berg, der vorteilhafterweise so nahe bei Genf lag, einem der damaligen Zentren der modernen Wissenschaft. Dabei stellte er fest, dass es sich um den höchsten Gipfel der Alpen und damit Europas handelt. Die Ergebnisse dieser und vieler weiterer geologischer Expeditionen publizierte er anschliessend bis 1796 in seinem vierbändigen


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