Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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das heute noch Europens Hälfte trägt».172 Und schliesslich gibt es einen «muntern Alten, der die Natur erforscht, und ihre Schönheit kennt; der Kräuter Wunder-Kraft und ändernde Gestalten hat längst sein Witz durchsucht, und jedes Moos benennt», er weiss, wo Gold zu finden ist und wo es Schwefelquellen gibt: «Er kennt sein Vaterland», das sich dadurch auszeichne, dass dort auf kleinem Raum besonders viele, andernorts seltene Naturerscheinungen vereint seien.173 Frauen kommen in dieser alpinen Idealgesellschaft praktisch keine vor.

      Obwohl Haller von der wirtschaftlichen Not im Berner Oberland schockiert war, stellte er also das Leben der Bergbewohner als erstrebenswertes Gegenbild zur städtischen Gesellschaft dar, die er für korrupt, servil und falsch hielt. Seine Älpler waren edle Wilde, die trotz Armut frei und gleichberechtigt waren und über nützliche Naturerzeugnisse und Bodenschätze verfügten. Das Gedicht hatte durchschlagenden Erfolg, was darauf schliessen lässt, dass das Bedürfnis nach einem Paradies der Vorzeigedemokraten, einer Projektionsfläche für neue politische Ideen, damals gross war.

      DIE ALPEN ALS GEGENWELT

      Haller war nicht der Einzige, der in den Alpen politische Leitbilder suchte: Viele Aufklärer glaubten, in den schweizerischen Bergen den Geburtsort der Demokratie gefunden zu haben. Ein anderer Autor, der viel zur Verbreitung des Topos vom edlen Wilden aus den Alpen beigetragen hat, ist der Genfer Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Während Haller nicht müde wurde, auf die Entwicklungsmöglichkeiten im Berggebiet hinzuweisen, hielt Rousseau wenig vom Fortschritt; er hätte die vermeintlichen Naturkinder der Alpen lieber weiterhin ausserhalb des Einflusses der modernen Welt gesehen.

      In seinem 1761 erschienenen Briefroman «Julie ou la Nouvelle Héloïse», der die unmögliche Liebe zwischen dem bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux und der adligen Julie d’Étanges zum Thema hat, pries auch er die Berge als heile Gegenwelt zum moralzersetzenden Stadtleben. Über die Bewohner des Oberwallis schrieb er, sie seien einfach, ruhig, glücklich und ohne jegliches Geschäftsinteresse. Überhaupt sei Geld dort rar, was aber für die Moral nur gut sei. Rousseau mutmasste, die Bergler hätten die Abschottung von der modernen Geldwirtschaft in ihrer grossen Weisheit selbst gewählt, indem sie verboten, nach dem angeblich vorhandenen Gold zu schürfen.174 Immer wieder wird der Protagonist des Romans, der in den Bergen reisende Hauslehrer Saint-Preux, von den Einheimischen zum Essen, Trinken und Übernachten eingeladen, ohne dass dafür eine Bezahlung erwartet oder angenommen wurde.175 Dieser Topos der grosszügigen und nicht auf Gewinn bedachten Einheimischen machte Rousseaus Leserschaft offenbar grossen Eindruck: Spätere Touristen waren manchmal recht kläglich enttäuscht, wenn sie nicht einfach überall umsonst fordern und nehmen konnten, was ihnen gerade beliebte; empörte Bemerkungen über die Geschäftstüchtigkeit und Geldgier der einheimischen Gastgeber gehören zum stehenden Repertoire des alpinistischen Diskurses.

      Rousseau hob bei seinen alpinen Beobachtungen vor allem das hervor, was gut zu seiner Vision eines ausseralltäglichen Raumes passte, wo Geld, Besitz und Statushierarchien keine Rolle spielen. Im selben Text finden sich allerdings auch einige detaillierte Beobachtungen, die dem Klischee der weltfremden und gleichberechtigten edlen Wilden widersprechen: So berichtete Rousseau, im Oberwallis gebe es fahrende Händler, denen sich die Einheimischen zwar überlegen fühlten, mit denen sie aber dennoch Geschäfte trieben – völlig bedeutungslos waren Geld und Handel also doch nicht.176 Ausserdem belegte Rousseau die unter den Berglern angeblich herrschende Gleichheit mit einem recht paradoxen Beispiel, indem er erzählt, in den Bergen ässen die Bediensteten zusammen mit ihren Herren am selben Tisch. Weshalb es bei völliger Gleichheit aber überhaupt noch Herren und Knechte geben sollte, fragte er sich jedoch nicht.177 Nur die Tatsache, dass die Frauen so ungalant behandelt wurden und die Männer bedienen mussten, statt zusammen mit ihnen und dem Gast zu essen, erstaunte ihn.178

      In Rousseaus Darstellung der Einheimischen findet sich also mancher Widerspruch. Wichtiger aber als seine moralischen Betrachtungen über die Vorzüge der Bergbewohner war ihm ohnehin die Frage, welche Wandlung Saint-Preux durch den Genuss dieser Umgebung durchlebte. Die Bergbewohner blieben im Grunde Statisten in einem paradiesischen Raum, den es zu erleben galt, und zwar nicht bloss durch das Anschauen der Landschaft, sondern ganzheitlicher: Der wandernde Intellektuelle geniesst nicht nur den Anblick der Berge, sondern sein ganzer Körper wird gleichsam von der reinen Bergluft durchdrungen, er nutzt das Gebirge als liminalen Raum, in dem er Heilung von seinem Liebeskummer sucht. Typisch dafür ist die Aufhebung von Zeit und Raum der Alltagswelt, und Rousseau ist denn auch der Ansicht, in den Bergen kämen alle Jahreszeiten und Klimazonen der Welt gleichzeitig vor – ebenfalls ein beliebter Topos des alpinistischen Diskurses.

      Die Wandlung vom liebeskranken Hauslehrer zum gesunden Menschen gelingt: Die Reise habe Saint-Preux ruhiger werden lassen, die reine und «subtile» Luft erleichtere ihm die Atmung und führe zu einem gelockerten Körper und einem ernsthafteren Geist; Körper und Seele gesundeten zugleich. Rousseau beschrieb den neuen Zustand seines Protagonisten als einen der Mässigung: In den hohen Bergen seien «les plaisirs moins ardents, les passions plus modérées» und «les méditations y prennent je ne sais quel caractère grand et sublime», ganz angepasst an die zu bestaunende Umgebung. Das Gebirge war für Rousseau eine «ätherische Region», in der Sinnlichkeit und «niedere» weltliche Gefühle keine Rolle mehr spielten, ein Ort, so weit ausserhalb der menschlichen Gesellschaft, dass Saint-Preux für seine Erfahrung kaum mehr Worte findet: Ein aussergewöhnliches, magisches und übernatürliches «Spektakel» sei es, das von unerklärlichen, unfassbaren Mächten geleitet werde. Gebirgsreisen, meinte Rousseau mit einem Petrarca-Zitat, brächten Sterbliche dem Himmel näher und seien aufs wärmste zu empfehlen.179

      DIE BESICHTIGUNG DER DEMOKRATIE

      Es verwundert kaum, dass Rousseaus Buch als Werbeschrift für Ferien- und Erholungsreisen in die Alpen gelesen werden konnte – und vielfach auch wurde. Grossen Einfluss hatte es beispielsweise auf das 1793 von Johann Gottfried Ebel (1764–1830) publizierte Reisehandbuch «Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen». Ebel war der Ansicht, Reisen durch die Schweiz vermittelten moralische Erkenntnisse über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und empfahl die Besichtigung von Landsgemeinden als einer «Urform» der Demokratie.180 Den Anhängern der Aufklärung ermöglichte diese Vorstellung, ihre Ideen durch Tradition zu legitimieren: Wenn es ein Land gab, in dem schon seit immer Demokratie geherrscht hatte, wieso sollte diese Staatsform nicht auch anderswo eingeführt werden können?

      Diesbezüglich als besonders nachhaltig erwies sich Friedrich Schillers 1804 erstmals aufgeführtes Theaterstück «Wilhelm Tell», das aus dem Kampf der Eidgenossen gegen die Herrschaft der Reichsvögte ein Gleichnis für den Kampf eines unterdrückten, aber freiheitsliebenden Volkes für die Demokratie machte. Dass die Schweiz 1798 von Napoleon zur Helvetischen Republik umgeformt worden war, störte damals neben Schiller viele in Europa; sein Stück muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Schweiz war dabei allerdings lediglich ein Symbol. Schiller selbst war nie in den Alpen gewesen, er hatte die Bergszenerie aufgrund von Reiseführern und Chroniken zur Schweizer Geschichte nachempfunden.181 Dass dabei manches Bild etwas schief geriet, war wohl unumgänglich – beispielsweise die Behauptung, Gämsen stellten Wachposten auf, die das Nahen eines Jägers wie Murmeltiere mit einem Warnpfiff ankündigten.182 Dem lang anhaltenden Erfolg des Stückes war dies nicht abträglich, und es wurde schliesslich zum festen Bestandteil der schweizerischen Festspielkultur. Dies führte zur gängigen These, das Selbstbild der Schweiz stamme aus dem Ausland: der Alpenmythos als Produkt von deutschen Dichtern und Denkern und englischen Touristen. Dabei geht vergessen, dass der Diskurs über die Berge und ihre Bewohnerinnen und Bewohner weder je ein rein schweizerischer noch ein völlig ausländischer gewesen war, sondern stets von einer breiten, europäischen Diskursgemeinschaft geprägt war.

      Jedenfalls wurde es im 18. Jahrhundert zu einem Stereotyp des Reiseberichtes, im Gebirge einen besonders vorbildlichen Menschenschlag, wenn nicht gar einen Idealstaat zu suchen. Auch ein Naturforscher wie Saussure schrieb einige Abschnitte über die in den Alpen lebenden Menschen und ihre Sitten, und auch ihm schienen die Bergler besonders tugendhaft:

      «Si l’on peut espérer de trouver quelque part en Europe, des hommes assez civilisés pour n’être


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