Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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zudem dazu, dass Alpinisten in der Folge endlos darüber jammern konnten, dass die realen Bergbewohner diesem auf sie projizierten Ideal nicht entsprachen.

      Ein Spezialfall war dabei stets die Figur des Bergführers. Während in den Bemerkungen über die Einheimischen die abwertenden Urteile in der Regel überwiegen, galten die Bergführer meist als die Letzten, die sich die angebliche alpine «Ursprünglichkeit» bewahrt hatten.203 So wurden sie in den Tourenberichten städtischer Bergsteiger zu naturhaften, mythischen Helfern bei der Reise durch den liminalen Raum Hochgebirge. Diese Konstruktion einer grundsätzlichen Differenz zwischen Bergsteiger und Bergführer diente gleichzeitig dazu, die Einheimischen als mögliche Konkurrenten um den «Gipfelsieg» auszuschliessen.

      DAS SCHREIBEN VON TOURENBERICHTEN

      Dass Bergsteigen nicht nur aus Klettern, sondern auch aus Schreiben besteht, zeigen die von Angeville erwähnten Aktivitäten auf dem Gipfel: Kaum oben, schrieb sie ihr Motto in den Schnee und verfasste Briefe.204 Während meines ganzen Untersuchungszeitraums war die Publikation eines Berichtes eine zentrale Anforderung an alle, die zur Diskursgemeinschaft der gebildeten Alpenreisenden gehören wollten. Deshalb folgen nun im dritten Teil dieses ersten Kapitels einige Gedanken zum Schreiben von Tourenberichten. Dazu werde ich neben Angevilles Schriften Texte einer weiteren frühen Bergsteigerin, Dora d’Istria, und die Fahrtenbücher zweier schweizerischer Bergsteiger beiziehen.

      Welches war die erste Frau, die bergsteigen ging? Diese Frage wird gerne als Kernstück einer Geschlechtergeschichte des Alpinismus gesehen. Und auch Angevilles Bemühungen, Marie Paradis als Erstbesteigerin des Montblanc abzuwerten, belegen, dass das Ziel, «Erste» oder «Erster» zu sein, für die symbolische Praxis Bergsteigen zentral ist: Der erste Mensch auf dem Piz Sowieso, die erste Frau auf dem XY-Horn, die erste Winterbesteigung, die erste reine Frauenseilschaft, der erste Führerlose, der erste Sauerstofflose: So geht das ohne Ende.205 Unter modernen Alpinisten gilt es als Allgemeinplatz, dass das höchste aller Ziele ist, als Erster auf einem möglichst hohen oder schwierig zu ersteigenden Gipfel zu stehen und darüber einen Text zu publizieren.

      Doch die Vorstellung, es sei von besonderem Wert, als Erste oder Erster einen Gipfel zu betreten oder eine Route zu begehen, ist eine moderne Erfindung. Petrarca etwa legte 1336 keinerlei Wert darauf, als Erster auf dem Mont Ventoux gewesen zu sein. Erst im Zeitalter der grossen «Entdeckungs-» beziehungsweise Eroberungsfahrten der europäischen Nationen wurde diese Idee populär. Bezeichnenderweise datiert denn auch eines der frühesten Beispiele einer solchen Erstbesteigung – die Besteigung des bei Grenoble gelegenen Mont Inaccessible durch den Kammerherrn des französischen Königs – von 1492, dem Jahr der «Entdeckung» Amerikas.206

      Wie bereits dargelegt, distanzierte sich Angeville von Paradis, indem sie das Klischee der einem anderen Stand angehörenden «naturhaften» Berglerin nutzte. Das wichtigste Argument, mit dem sie die Einheimische als Erstbesteigerin des Montblanc glaubte ausschliessen zu können, war aber die Erklärung, bisher sei noch keine Frau auf dem Berg gewesen, um von ihren Eindrücken zu berichten. Paradis sei wohl auf dem Gipfel gestanden, habe aber im dichten Nebel nichts gesehen.207 Und wer nichts sieht, kann nichts beschreiben und ist folglich auch gar nicht wirklich da gewesen, lautete die implizite Gleichung. Angeville hingegen verfügte über die kulturelle und soziale Kompetenz, einen schriftlichen Bericht über ihre Tour zu verfassen und zu publizieren.

      Die Idee, dass Berge erst bestiegen und «erobert» waren, wenn darüber auch schriftlich berichtet worden war, ist ein Standardtopos des alpinistischen Diskurses. Besonders prägnant vertrat diesen Standpunkt einige Jahrzehnte später der amerikanische Alpinist W. A. B. Coolidge. Als Redaktor der Zeitschrift des britischen Alpine Clubs machte er sich Gedanken über die alpinistische Geschichtsschreibung und verfasste 1893 für eine österreichische Bergsteigerzeitschrift einen Artikel zur Frage «Was ist eine ‹Erste Besteigung›?» Darin schrieb er in Lehrsatzmanier, die «alpine Geschichte» beginne «erst mit denjenigen, welche nachgewiesenermassen zuerst die Besteigung ausführten, daher die Wichtigkeit der ersten, notificierten Ersteigung vom historischen Standpunkte aus», und schlug vor, Erstbesteigungen, über welche die Betreffenden nichts publiziert hatten, als nicht durchgeführt zu betrachten, denn seiner Ansicht nach verstiess es gegen den alpinistischen Ehrenkodex, so etwas geheim zu halten.208

      Coolidge betrachtete also alle als Alpinisten, die es schafften, einen Tourenbericht zu publizieren. Andere Kriterien wie etwa die soziale Herkunft oder die Absichten des Erstbesteigers sollten demgegenüber keine Rolle spielen. Das war nicht selbstverständlich: Andere waren der Ansicht, nur wer ohne materielle Interessen auf Berge steige, sei ein Alpinist, und schlossen damit alle aus, die dafür Bezahlung erhielten, wie etwa Bergführer oder auch Balmat und Paccard, welche die von Saussure ausgesetzte Geldprämie in Anspruch nahmen.209 Doch auch Coolidges Definition wirkte marginalisierend, indem sie alle jene vom «wahren» Alpinistentum und von der damit verbundenen gesellschaftlichen Anerkennung ausschloss, die nicht über das nötige kulturelle Kapital verfügten, einen Bericht zu publizieren.

      Coolidge wollte verhindern, dass er und andere Chronisten des Alpinismus den falschen Personen die Ehre erwiesen, für ihre Leistung gerühmt zu werden. Leistung war dabei nicht im Sinn körperlicher Leistung gemeint – diese wäre ja bei jeder weiteren Besteigung gleich gross –, sondern im Sinn von Entdeckungsleistung. In seinem Text vermengte Coolidge Wissenschaft und Imperialismus, Bergsteigen war für ihn eine Art Eroberungsfeldzug, bei dem es darum ging, als Erster unbekanntes Terrain zu betreten, um es in den eigenen Besitz zu bringen – zumindest symbolisch. Das zeigt sich auch in seiner Wortwahl: Er verglich die «Erstürmung der grossen Gipfel unserer Alpen» mit einem Kampf, in dem die Berge mit Steinen und Lawinen «bewaffnet» und in dem einzelne Touren «Schlachten» oder «Scharmützel» sind.210 Wer die Sache so betrachtete, fand es logischerweise ärgerlich, im Nachhinein schlimmstenfalls feststellen zu müssen, dass der «eroberte» Gipfel schon einem anderen Sieger «gehörte».

      Coolidges Kriterien datieren zwar erst rund sechzig Jahre nach Angevilles Montblanc-Expedition, doch galt das meiste davon schon damals. Die Bergsteigerin fasste ihren Bericht dementsprechend ab; dies zeigt ein Vergleich zwischen ihren Tagebuchaufzeichnungen und dem Tourenbericht, in dem Angeville ihre Taten unter Verwendung der passenden Bilder beschrieb und die in der oralen Tradition lebende Marie Paradis ausschloss. Ihre unterwegs gemachten Aufzeichnungen sind vergleichsweise nüchtern: Den Aufstieg beschrieb sie knapp und sachlich, fast ohne Hinweis auf persönliche Erfahrungen, nur die am Schluss erlittene Höhenkrankheit erwähnte sie etwas ausführlicher. Im nachträglichen Bericht hingegen hüpft Angeville dank ihrem überragenden Willen in solcher Leichtigkeit bergan, dass sich ihre Führer in ihrer Männlichkeit bedroht fühlen. Und auch was auf dem Gipfel oben geschah, liest sich im späteren Bericht einiges heroischer als im Tagebuch: Privat notierte Angeville, dass sie weniger sah als erwartet, und am wichtigsten war ihr, ihren Freunden Briefe zu schreiben und Zeichen zu senden, wohl um ihrem unmittelbaren Bekanntenkreis zu beweisen, dass sie es geschafft hatte. Publizieren wollte sie hingegen, dass sie auf dem Gipfel die geforderte ganzheitliche Vision hatte, «wie ein Soldat» ihren Stock aufpflanzte und ein edles Motto ins ewige Eis schrieb. Im Tagebuch schrieb Angeville von Küssen, Umarmungen, sozialen Kontakten zu Freunden und Familie. Im Bericht hingegen merzte sie dies alles aus, zu Gunsten hoher Ideale wie Patriotismus und wissenschaftlicher Erkenntnis – kurz: zu Gunsten einer heroischeren Selbstdarstellung, wie sie besser in den alpinistischen Diskurs passte. Sie hatte damit den gewünschten Erfolg: Es wurde von niemandem angezweifelt, dass Angeville auf dem Montblanc gewesen war. Wie noch zu zeigen sein wird, war dies keine Selbstverständlichkeit für eine Bergsteigerin.

      Henriette d’Angeville musste also einen schriftlichen Bericht über ihre Tour verfassen und wenn möglich publizieren, um als Montblanc-Besteigerin ernst genommen zu werden. Das war nicht nur ihr klar: Sie berichtete, man habe sie allseits beschworen, über ihre Expedition zu schreiben.211 Angeville war alles andere als abgeneigt, hielt es aber für eine schwierige Aufgabe, vor allem für eine Frau – denn eine


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