Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
wie es dazu kam, dass er den Montblanc besteigen wollte: Bereits mit 18 sei er erstmals nach Chamonix gewandert, um die Gletscher zu besichtigen. Die Naturgeschichte der Erde wollte er erforschen, und dazu unternahm er später jedes Jahr grosse Touren: 14 Mal habe er die Alpenkette via acht verschiedene Passagen traversiert, im Jura und in den Vogesen sei er gewesen, in den schweizerischen Bergen, in deutschem Gebiet, in Italien, wo ihn vor allem die Vulkane faszinierten, ja sogar in England habe er Berge bestiegen. Alle seine Reisen habe er mit dem Geologenhammer in der Hand gemacht, betonte er und unterstrich somit, wie sehr er die unmittelbare Erfahrung im Feld dem Bücherwissen vorzog.119
Ebenfalls in der Einleitung beschrieb Saussure die Ziele seiner Forschung. Er wandte sich gegen frühere Dogmen der Erkenntnissuche und propagierte die neue, naturwissenschaftliche Methode, die darauf abzielte, durch genaues Naturstudium auf Naturgesetze zu schliessen. Diese brauche zwar mehr Geduld als blosses Literaturstudium, sei aber das einzig richtige Vorgehen.120 Wie für Scheuchzer war auch für Saussure das unermüdliche Faktensammeln die Grundlage aller Erkenntnis. Und zur riesigen Datensammlung konnten laut ihm nicht nur professionelle Naturforscher beitragen, sondern im Prinzip jeder Reisende, indem er Neuigkeiten aus noch unbekannten Gegenden mit nach Hause brachte und dort im Rahmen einer einschlägigen Zeitschrift oder eines Vortrags vor einer naturforschenden Gesellschaft der interessierten Öffentlichkeit vorstellte.121 Saussure publizierte zu diesem Zweck in den «Voyages» eine veritable Forschungsagenda für Alpenreisende, als Anregung für das Sammeln nützlicher Fakten.122 Unzählige Alpinisten folgten diesem Ruf und betrieben auf ihren Bergtouren mehr oder weniger professionelle Feldforschung.
Saussure war der Ansicht, für Naturforscher seien die Berge ein bevorzugtes Gebiet, da sie ungleich vielfältiger seien als ebene Landschaften.123 Bis heute ist dies ein – zumindest in der Schweiz – gerne wiederholter, aber selten belegter Allgemeinplatz: dass die Berge mehr als alle anderen Gebiete von Bio- oder auch Kulturdiversität erfüllt seien, wie die aktuellen Schlagworte zurzeit heissen, und damit auch mehr und Wichtigeres zu erforschen bieten würden.124 Ein «Labor der Natur» seien die Alpen, jubelte Saussure, ein Observatorium, in dem sich die Naturphänomene in exemplarischer Weise dem Betrachter darböten: «Tous les phénomènes de la Physique générale s’y présentent avec une grandeur et une majesté, dont les habitants des plaines n’ont aucune idée.»125 Der Wind und die Elektrizität der Luft seien ganz besonders kräftig, Wolken bildeten sich unmittelbar vor den Augen des Beobachters, und auf einem Berggipfel stehend, könne man die Entstehung von Stürmen mitverfolgen. Saussure rühmte die grosse Abwechslung, die dieses Lehrtheater bot, und nutzte dazu die Metaphorik der ästhetischen Reise: «De grands spectacles de tout genre varient à chaque instant la scène […].»126 Wasserfälle und mehrfache Regenbögen entzückten das Auge, Lawinen würden blitzesschnell niedergehen und die stärksten Bäume mit fürchterlichem Donnern fällen, das ewige Eis gleiche einem gefrorenen Meer, und zwischen all diesen Spektakeln der Natur böten sich dem Betrachter «des réduits délicieux, des prairies riantes», die den Duft von Tausenden von Blumen verströmten, die ebenso schön wie selten seien.127
Allerdings genügte Saussure reines Faktensammeln allein nicht. Er klagte sogar, die meisten Reisenden verlören beim Detailsammeln den Blick fürs Ganze, obwohl das Studium der Einzelheiten doch nur im Hinblick auf umfassende Theorien von Belang sei.128 Und um dieses grosse Ganze erfassen zu können, riet Saussure den Forschenden zu Gipfelbesteigungen, die diesbezüglich besonders nützlich seien. Und diese Passage liest sich nun fast wie ein Werbeprospekt für Abenteuerreisen:
«[…] pour observer ces ensembles […] il faut quitter les routes battues et gravier sur des sommités élevées d’où l’œil puisse embrasser à la fois une multitude d’objets. Ces excursions sont pénibles, je l’avoue; il faut renoncer aux voitures, aux chevaux mêmes, supporter de grandes fatigues, et s’exposer quelquefois à d’assez grands dangers. Souvent le naturaliste, tout près de parvenir à une sommité qu’il désire vivement d’atteindre, doute encore si ses forces épuisées lui suffiront pour y arriver, ou s’il pourra franchir les précipices qui lui en défendent l’accès: mais l’air vif et frais qu’il respire fait couler dans ses veines un baume qui le restaure, et l’espérance du grand spectacle dont il va jouir, et des vérités nouvelles qui en seront les fruit, ranime ses forces et son courage. Il arrive: ses yeux éblouïs et attirés également de tous côtés, ne savent d’abord où se fixer; peu-à-peu il s’accoutume à cette grande lumière; il fait un choix des objets qui doivent principalement l’occuper, et il détermine l’ordre qu’il doit suivre en les observant.»129
Mehr Überblick, mehr Licht: Die Berggipfel boten dem aufgeklärten Naturforscher den idealen Standpunkt, von wo aus er seine Erkenntnisse gewinnen konnte. Dazu passt, dass Saussure als wichtigsten Punkt seiner eigenen Forschung die Besteigung des Montblanc-Gipfels herausstellte. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass ihm zum Zeitpunkt der Niederschrift vermutlich schon bewusst gewesen war, dass ihn vor allem seine Montblanc-Besteigung über die engeren Fachkreise hinaus berühmt machen würde: Möglicherweise wollte er so das Interesse seiner Leser wecken; jedenfalls war es gute Werbung in eigener Sache.
EIN FORSCHER ZWISCHEN HÖHENKRANKHEIT UND VISION
Schon vor Saussure hatte es zahlreiche Versuche gegeben, den Montblanc, dieses Wunderland der Naturphänomene, zu ersteigen, Saussure selbst schrieb, er habe sich seit 1760 danach gesehnt, den Berg zu besteigen, ja, dieses Begehren sei geradezu zu einer Art Krankheit geworden.130 Zusammen mit dem Genfer Landschaftsmaler und Sänger Marc-Théodore Bourrit unternahm er 1785 den ersten Versuch, doch Neuschnee zwang die beiden zur Umkehr.131 Der wohlhabende Saussure setzte umfangreiche finanzielle Mittel ein, um sein Projekt durchführen zu können: Er bot demjenigen, der eine mögliche Route auf den Gipfel ausfindig machen würde, eine beträchtliche Geldprämie und liess unterwegs einen Unterstand bauen.132 1786 gelang es dem bereits erwähnten Jacques Balmat, den grössten Teil einer möglichen Route zu erkunden, und im selben Jahr führte er Michel Paccard bis auf den Gipfel des Montblanc.133 Die Öffentlichkeit erfuhr davon aus einem Bericht, den Paccard zusammen mit Bourrit verfasste.134
Die grosse Expedition Saussures startete am 1. August 1787. Ausser dem Geologen waren mit von der Partie: sein Diener und 18 Führer, darunter wiederum Balmat. Die vielen Helfer trugen die zahlreichen Messgeräte, Proviant und ein Zelt für den Naturforscher. Unterwegs wurde biwakiert, doch die Führer fürchteten, nachts in der Kälte umzukommen. Um sie vom Umkehren abzuhalten, musste Saussure seine Gefährten schliesslich bei sich im Zelt übernachten lassen, eng zusammengepfercht und eingegraben in den isolierenden Schnee.135 Nicht nur die Kälte wurde zum Problem, sondern auch die grosse Höhe. Saussure berichtete, er habe genauso wie seine Führer unter der Höhenkrankheit gelitten, obwohl er die Bergluft doch so gewohnt gewesen sei.136 Ausführlich beschrieb er die Symptome: Schwindel, Müdigkeit, Herzschmerzen, Appetitlosigkeit, kurz: Er begann sich allmählich zu sorgen, wie er in dieser Verfassung den langen Abstieg hinter sich bringen sollte. Die Tatsache, dass sich sein Zustand beim Abstieg jedoch alsbald verbesserte, liess ihn folgern, die Krankheit werde durch die in der Höhe dünnere Luft verursacht.137
Diese ehrliche Darstellung seiner körperlichen Grenzen wurde Saussure später gelegentlich zur Last gelegt, als Beweis, doch kein ganz «richtiger» Alpinist gewesen zu sein. Beispielsweise behauptete dies der Disentiser Benediktinerpater Placidus Spescha (1752–1833), der die Erforschung der Alpen ebenfalls zum wichtigsten Lebensinhalt gemacht hatte und sich möglicherweise im Vergleich zum gefeierten Saussure als Wissenschaftler verkannt fühlte.138 Und spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte es für lange Zeit zu den Stereotypien des alpinistischen Diskurses, dass «richtige» Bergsteiger nicht höhenkrank werden und die Symptome ausschliesslich mangelndem Training und ungenügender Leistungsbereitschaft zuzuschreiben seien.139 Auch Angeville war möglicherweise schon diesem Deutungsmuster verpflichtet, indem sie die Symptome der Höhenkrankheit nur bei den Einheimischen beschreibt, nicht aber bei sich selbst. Vielleicht war sie aber auch tatsächlich eine sehr robuste Dame.
Trotz Höhenkrankheit erreichte Saussure zusammen mit seiner Expeditionskolonne schliesslich den Gipfel. Er schrieb, als Erstes habe er Richtung Chamonix