Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
Roman «Antwort aus der Stille» (1937), auf den ich im sechsten Kapitel noch zurückkommen werde.
LANDSCHAFT ALS ÄSTHETISCHES ERLEBNIS: IMMANUEL KANT UND DIE ERHABENHEIT DER ALPEN
Die Suche nach dem Anblick schöner Landschaften ist ein weiterer, unter Bergsteigern gängiger Reisestil. Wer heute auf einem Berg steht und kaum anders kann, als die Aussicht schön zu finden, vermag sich vielleicht nur schlecht vorzustellen, dass dies nicht eine universal-menschliche, biologisch verankerte Reaktion auf Bergszenerien ist, sondern eine kulturell vermittelte Vorliebe.80 Und doch sind die Berge nicht schon immer nach dem Kriterium der Schönheit beurteilt worden. Der englische Historiker Keith Thomas hat gezeigt, dass die äussere Natur im vormodernen Europa nach ihrer Nützlichkeit und nicht nach ihrer Schönheit beurteilt wurde. Präferiert wurde von Menschen kontrolliertes, fruchtbares Land. Das Hochgebirge galt wegen seiner wirtschaftlichen Nutzlosigkeit nicht als hässlich, sondern als uninteressant und überflüssig. Die Frage danach, welche Landschaften schön oder hässlich seien, und die Vorstellung, ihre Betrachtung sei von spirituellem Nutzen, kamen erst mit Beginn der Moderne auf.81
In den philosophischen Debatten unter den Gelehrten des 17. Jahrhunderts findet sich ein allmählicher Übergang vom Denken in Kategorien der Nützlichkeit zu einem ästhetischen Urteil. In der neu aufkommenden Schönheitsskala wurden die Berge allerdings zuerst einmal als besonders hässlich eingestuft: «Warzen» auf der Erdoberfläche, ein wegen des Sündenfalls entstandenes Übel seien sie, schrieb beispielsweise der englische Bischof Godfrey Goodman (1583–1656) im Jahr 1616, und auch der englische Kleriker Thomas Burnet (1635–1715) fragte sich, weshalb Gott etwas so Überflüssiges überhaupt erschaffen habe. In seinem Buch «The Sacred Theory of the Earth», einem der populärsten geologischen Werke jener Zeit, vermutete er 1681, bis zur Sintflut sei die Erdoberfläche ganz eben gewesen, die Berge mithin eine Strafe Gottes.82 Vermehrt hiess es jedoch, nichts, was Gott erschaffen habe, könne schlecht und sinnlos sein, folglich müssten auch unwirtliche Gegenden irgendwie ihr Gutes haben. Dieses philosophische Programm – auch unter dem Begriff «Physiktheologie» bekannt – versöhnte die entstehenden modernen Naturwissenschaften mit den traditionellen christlichen Anschauungen und wurde bis zum 18. Jahrhundert zum herrschenden Paradigma.83
Nun wurden also auch unregelmässige, nicht von Menschen geformte Dinge – und damit auch die «wilde», nicht oder zumindest nicht sichtbar bewirtschaftete Landschaft – als wertvoll und schön bezeichnet. Parallel zu diesen philosophischen Debatten wurde die Landschaft auch in der Kunst zunehmend als eigenständiges Sujet gewählt, zuerst in der flämischen und italienischen Landschaftsmalerei des 15. Jahrhunderts. Ihre Vertreter hatten zudem den Anspruch, durch die neue Darstellungstechnik der Linearperspektive besonders objektive, «wahre» Abbildungen der Wirklichkeit zu liefern.84 Wohl kaum ein Zufall, dass diese neue Art der Landschaftsdarstellung aus der Perspektive eines ausserhalb stehenden Betrachters gut zum Wunsch nach Kontrolle von Raum und Natur durch lenkende, analysierende oder gar erobernde europäische Experten passte.85
Die Wahl des Bildmotivs Landschaft scheint aber nicht ganz so eigenständig gewesen zu sein, wie gemeinhin angenommen. Obwohl die hiesige Ideengeschichte die «Entdeckung» der Landschaft gerne als originäre Errungenschaft der westlichen Moderne preist, handelte es sich dabei vermutlich mindestens zum Teil um einen Kulturtransfer: Das Wirken europäischer Missionare in Fernost und der damals aufblühende Handel mit Ostasien weckten grosses Interesse an fernöstlicher Kunst.86 Die chinesische Kunst schätzte nun aber schon viel länger als die europäische, nämlich seit etwa 1000 v. Chr., solche naturalistischen Landschaftsdarstellungen, die europäischen Künstler dürften also durchaus Vorbilder gekannt haben.87 Jedenfalls verbreitete sich zunehmend die Ansicht, Berglandschaften seien schön; dies anders zu empfinden, wird seither als Zeichen schlechten Geschmackes gewertet.88 Dieses Werturteil trifft insofern zu, als Geschmack die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe bezeugt, im Fall der Vorliebe für den touristischen Blick auf die Berge die Zugehörigkeit zum langsam entstehenden Bildungsbürgertum.
WER HAT ANGST VOR DEN ALPEN?
Vor allem im 18. Jahrhundert entstanden viele Theorien zur Ästhetik in der Natur. Verschiedene «Unterarten» das Schönen wie etwa «das Pittoreske» oder «das Erhabene» wurden diskutiert und voneinander abgegrenzt, wobei in der Regel die gezähmte, regulierte Natur als pittoresk, die wilde, unberührte Natur als erhaben galt.89 So fand das Problem, ob die Berge nun schön oder hässlich seien, seine dialektische Auflösung in der Theorie, dass sie weder das eine noch das andere, sondern eben «erhaben» seien: Wohl seien sie in ihrer Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit schrecklich, doch gerade die Empfindung dieses Schreckens sei für die Betrachtenden besonders erbaulich. Eine der im deutschen Sprachraum bekanntesten Theorien des Erhabenen stammt vom deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). In seinem Werk «Die Kritik der Urteilskraft» beschrieb er 1790 eine Technik des Schauens, bei der ein ästhetisches Erlebnis zu höherer moralischer Erkenntnis führen sollte. Dabei spielte eine spezielle Art von Furcht vor dem so genannt «Dynamisch-Erhabenen in der Natur» eine wichtige Rolle. Obwohl er selbst nie in die Berge gereist war, nannte Kant als Beispiele für dieses Erhabene jene natürlichen Sehenswürdigkeiten, die die Alpenreisenden und Geologen begeisterten: «kühne überhängende, gleichsam drohende Felsen», Sturm, Gewitter, Vulkane und hohe Wasserfälle. Diese Phänomene würden den Beobachtenden aufzeigen, dass sie selbst vergleichsweise klein und schwach und der Natur im Grunde genommen ausgeliefert seien. Gleichzeitig eröffne die Betrachtung dieser Gegenstände aus sicherer Entfernung den Menschen, dass sie über eine besondere «Seelenstärke» verfügten, die es ihnen ermögliche, die Schrecknisse der Natur unabhängig zu beurteilen und somit ein Gefühl der Überlegenheit über die Natur zu entwickeln.90 Erhabenheit war nach Kant nicht eine Eigenschaft der Naturphänomene, sondern eine der Emotionen der Betrachtenden: Es ist das Überlegenheitsgefühl nicht involvierter Beobachter gegenüber potenziell gefährlichen Naturphänomenen.91
Um diese Art der «Selbstüberschätzung», wie Kant es nannte, zu erleben, sei es allerdings wichtig, nicht wirklich Furcht vor unmittelbar drohender Gefahr zu empfinden, sondern sich diese Gefahr bloss vorzustellen, sich also nur zu gruseln. Wer hingegen in wirklicher Gefahr sei, könne nicht nüchtern urteilen und damit auch keine ästhetische Erfahrung machen.92 Damit sprach Kant all jenen, die existenziell von der Natur abhingen, von vornherein jede Fähigkeit zum ästhetischen Naturerlebnis ab, nur ein völlig autonomes Individuum, das sich von der Natur distanzieren konnte und wollte, vermochte ästhetisch und damit auch moralisch zu urteilen. Alle anderen lebten Kants Ansicht nach in Furcht und Schrecken, wie etwa jene einheimischen Bauern, von denen er in Horace-Bénédict de Saussures Bericht gelesen hatte, sie würden – anders als der berühmte Naturforscher – das Eisgebirge nicht schön finden, sondern fürchten.93 Etwas hässlich zu finden und es zu fürchten, war für Kant also einerlei.
Es ist ein weiterer Allgemeinplatz des alpinistischen Diskurses, die Bergbewohner seien punkto ästhetischer Wahrnehmung auf dem Stand der philosophischen Debatten des 16. Jahrhunderts – für die modernen Alpinisten tiefstes Mittelalter – stecken geblieben und hielten die Berge für angsteinflössende Hässlichkeiten, statt sie nur als wirtschaftlich nutzlos und mühsam zu betrachten oder gar ebenfalls an den neuen Ideen über die Schönheit der Natur interessiert zu sein. Naturforscher und Bergsteiger wiederholten diesen Punkt immer wieder, und so fragt sich, ob diese Behauptung nicht vor allem für sie eine wichtige Funktion erfüllte, indem sie ihnen ermöglichte, die fremde Berggegend als Aufklärer mit einer Mission zu bereisen und die Einheimischen über die «richtige» Weltvorstellung zu belehren. In Saussures «Voyages» findet sich übrigens eine Stelle, welche die unter Alpinisten gängige Vorstellung der furchtsamen Einheimischen etwas relativiert: Als er nach Chamonix gekommen sei, so berichtete der Naturforscher, hätten sich die Einheimischen immer noch an die Herren Richard Pocock und William Windham erinnert – die ersten englischen Reisenden, die 1741 nach Chamonix gelangt waren – und darüber gelacht, welche Ängste diese gehegt und wie viele überflüssige Vorsichtsmassnahmen sie für ihre Gletschererkundungen vorgenommen hatten.94 Ob die Angst vor den «montagnes maudites», wie das Montblanc-Massiv auch genannt wurde, wohl eher die Angst der Reisenden vor Wegelagerern war als die Furcht