Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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des 19. Jahrhunderts als Möglichkeit entdeckt, um aus Jugendlichen Patrioten zu machen – dies zeige ich am Beispiel der Jugendgruppen der Alpenclubs.

      Im dritten Kapitel wird erläutert, wie der SAC Ende des 19. Jahrhunderts Bergsteigen zum Männlichkeitsritual machte – ein sechster, den Alpinismus prägender Reisestil –, und wie der Club 1907 schliesslich zum reinen Männerbund wurde. Nach einem Exkurs zu weiteren alpinistischen Ausschlusstendenzen der Jahre 1900 bis 1930 zeige ich, wie Schweizer Bergsteigerinnen diesem Ausschluss 1918 ihren eigenen Club entgegensetzten, und vergleiche diesen mit seinem englischen Pendant, dem Ladies’ Alpine Club. Dieses Kapitel basiert grösstenteils auf Quellen, die bisher nirgends wissenschaftlich ausgewertet worden sind.

      Im vierten Kapitel geht es um die Frage, wie sich Bergsteigerinnen im zum «Männerraum» erklärten Hochgebirge bewegten. Eine Reihe von berühmten aber auch unbekannten Bergsteigerinnen wird vorgestellt und ich untersuche verschiedene Aspekte ihrer Tätigkeit, unter anderem die Frage, ob diese Frauen den Alpinismus als Mittel zur Emanzipation betrachteten und inwiefern die «Bergkameradschaft» zwischen Frauen und Männern die Geschlechterordnung tangierte. Zudem zeige ich am Beispiel einiger Extremkletterinnen der 1930er-Jahre, wie sich Bergsteigerinnen nun auch als reine Frauenseilschaften ohne Bergführer versuchten.

      Die Themen des fünften Kapitels sind der (weibliche) Körper und die Bekleidung der Bergsteigerin: Die richtigen Kleider, das richtige Aussehen der Frauen galten als Garant für die Ordnung der Geschlechter und Klassen. Bergsteigerinnen durchbrachen diese mit ihren Ausflügen ins Hochgebirge. Sowohl die Frauen selbst wie auch eine umfangreiche Ratgeberliteratur machten sich deshalb Gedanken über Körper, Kleider, Kraft und Konkurrenz. Anhand zahlreicher erstmals ausgewerteter Quellenbeispiele zeige ich, wie diese zumeist männlichen Ratgeber vor allem um die Geschlechterordnung fürchteten und die neue Bewegungsfreude der Frauen in geordnete Bahnen zu lenken suchten, während sich die Bergsteigerinnen selbst hauptsächlich darum sorgten, wie sie bei der ungewöhnlichen Tätigkeit ihren sozialen Status wahren konnten.

      Im sechsten und letzten Kapitel schliesslich wird ausgeführt, wie in der Zwischenkriegszeit Teile des alpinistischen Diskurses Eingang in den öffentlichen Diskurs fanden. Anhand einer Auswahl der damals populären Bergsteigerromane und am Beispiel der Diskussionen um das militärische Réduit und der Zeitungsberichterstattung zur Eigernordwandbesteigung zeige ich, wie Bergsteigen in den 1920er- und 1930er-Jahren zur allgemein verständlichen und breit verwendeten Metapher für Selbstermächtigung und Leistung wurde, über welche die Alpinisten keine alleinige Definitionsmacht mehr beanspruchen konnten und die sich bis heute grosser Beliebtheit erfreut. Vorgestellt wird dabei zudem ein siebter alpinistischer Reisestil: die Bergtour als Selbsterfahrungstrip.

      BERGSTEIGEN ALS SYMBOLISCHE PRAXIS

      2 Henriette d’Angeville besteigt den Montblanc. Zeitgenössische Lithografie von Frédéric Margueron, Genf.

      An einem Septembermorgen im Jahr 1838 machte sich die 44-jährige französische Adlige Henriette d’Angeville (1794–1871) zusammen mit zwölf Bergführern und Trägern und einem Hund auf, den höchsten Berg Europas, den Montblanc, zu besteigen. Sie schaffte es, den 1786 erstmals bestiegenen Gipfel zu erreichen, und verfasste einen umfangreichen Bericht über ihre Expedition. An ihrem Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, wie Bergsteigen als symbolische Praxis genutzt wurde, um sich als Teil der gesellschaftlichen Elite zu inszenieren. Die Inszenierung fand dabei nicht erst im nachträglich verfassten Tourenbericht statt, sondern durchaus schon unterwegs.

      Darauf weist auch die kanadische Soziologin Judith Adler in ihrem Aufsatz «Travel as Performed Art» hin. Sie deutet Reisen als eine symbolische Praxis, die viel mit darstellender Kunst gemeinsam hat: Adlers Ansicht nach erzeugt nicht erst der Bericht über eine Reise, sondern schon die Reisetätigkeit wie eine Art Theater oder Performance zahlreiche Bedeutungen: Reisende machen dabei durch die Art der Inszenierung ihrer Reise (gewollt oder ungewollt) Aussagen über sich selbst und über die Welt. Sie setzen Zeichen durch die Wahl ihres Reiseziels, ihrer Bekleidung und der Unterkunftsorte, durch die Art der sozialen Kontakte, die sie unterwegs pflegen, die Verwendung bestimmter Transportmittel und durch die Wahl der Motive, die sie als Grund für ihre Reise angeben. Bei ihrer Performance orientieren sie sich an Reisen, die andere vor ihnen gemacht haben, und bedienen sich aus dem Fundus gängiger Erzählmuster: Die eine Reise ist als Eroberung neuen Territoriums angelegt, eine andere als Suche nach dem Paradies auf Erden. Manche Reisende sehen die bereiste Welt als eine Art Buch, das es zu studieren gilt, andere wiederum glauben, an entlegenen Orten und bei weniger «zivilisierten» Menschen ihre eigene Vergangenheit und Herkunft besichtigen zu können. Adler spricht in diesem Zusammenhang von «Reisestilen».1 Diesen Ausdruck übernehme ich im Folgenden.

      Wer als «richtiger» Bergsteiger, als «richtige» Bergsteigerin anerkannt werden wollte, musste sowohl unterwegs auf grosser Fahrt wie auch im anschliessend darüber verfassten Bericht den richtigen Stil wahren – denjenigen, den die Diskursgemeinschaft der Alpinisten jeweils für richtig hielt. Um das alpinistische Stilrepertoire der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es in den beiden ersten Teilen dieses Kapitels. Henriette d’Angevilles Beispiel belegt, dass Bergsteigen schon damals eine von zahlreichen Normen geprägte Tätigkeit war. Angevilles Expedition fand in den Anfängen der touristischen Erschliessung der Alpen statt. Sie selbst sah sich als Pionierin und wird heute noch oft als erste Bergsteigerin überhaupt genannt. Gleichwohl war ihre Expedition keine völlig autonome Angelegenheit, sondern bezog sich auf zahlreiche bereits bestehende Vorstellungen über das «richtige» Reisen in den Alpen.

      Anhand ihrer Aufzeichnungen und einer Reihe aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammender klassischer Texte versuche ich, den wichtigsten Topoi des alpinistischen Reisens und Schreibens auf die Spur zu kommen. Ich stelle vier Reisestile vor, welche die Anfänge des modernen Alpinismus besonders geprägt haben: 1.) die Pilgerreise, 2.) das ästhetische Landschaftserlebnis, 3.) die wissenschaftliche Expedition und schliesslich 4.) die Suche nach einem «goldenen Zeitalter» in den Alpen. Wie Adler gehe ich davon aus, dass die von mir untersuchten Bergsteigerinnen und Bergsteiger ihre Erfahrungen schon unterwegs nach kulturell vorgegebenen Schemata strukturiert und sich dazu eines ihnen bereits bekannten Stilrepertoires bedient haben.2 Abgeschlossen ist eine Reiseperformance aber erst dann, wenn auch darüber berichtet wird, sei es nun mündlich oder schriftlich, im privaten oder öffentlichen Rahmen.3 Zur «richtigen» Beherrschung der symbolischen Praxis einer Bergtour gehörte daher stets auch das Schreiben eines Tourenberichts, der bestimmten Konventionen genügen musste und im Idealfall publiziert wurde. Auf dieses Schreiben und die für Frauen damit verbundenen Probleme komme ich im dritten Teil dieses ersten Kapitels zurück.

      HENRIETTE D’ANGEVILLES MONTBLANC-EXPEDITION VON 1838

      Von Henriette d’Angeville4 erzählen die Chronisten des Alpinismus, sie habe als erste Frau den höchsten Gipfel Europas bestiegen und sei somit die erste «Alpinistin» überhaupt.5 In fast allen Berichten über sie wird paradoxerweise jedoch eine weitere Frau erwähnt, die dreissig Jahre vor ihr dieselbe Bergtour gemacht hatte. Das Beispiel der beiden Frauen zeigt exemplarisch, dass auf Berge steigen und Bergsteigen nicht dasselbe sind. Es lässt darauf schliessen, wie eine einflussreiche und wortmächtige Elite die Tätigkeit Bergsteigen ab 1800 so definierte, dass sie zu ihrer Weltvorstellung passte. Ich untersuche Angeville also nicht hauptsächlich als Pionierin des Frauenbergsteigens; vielmehr ist sie ein dank ihren eigenen ausführlichen Schriften besonders gut dokumentiertes Beispiel einer Alpinistin, die nach allen Regeln der Kunst an der symbolischen Praxis Bergsteigen teilzunehmen suchte. Die Tatsache, dass eine Bergexpedition damals für eine Frau noch ungewöhnlicher war als für einen Mann, führte ausserdem dazu, dass Angeville ihre Tätigkeit stark reflektierte. Besonders interessant sind dabei die Unterschiede zwischen ihren privaten Tagebucheinträgen und dem für die Publikation gedachten Tourenbericht.6

      Doch der Reihe nach. Bevor Henriette d’Angeville auftritt, soll für einmal zuerst ihre Vorgängerin die Ehre haben: die junge Marie Paradis (1778–1839) aus Bourgeat bei Chamonix. Sie sei,


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