Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
Kino und Theater.25
Sowohl Turners wie Foucaults Beschreibungen treffen auf jede Reisedestination aus Sicht der Touristen zu: Obwohl dort andere Menschen ihrem alltäglichen Leben nachgehen, lassen die Reisenden am selben Ort den Alltag für eine klar begrenzte Zeit hinter sich, um eine Gegenwelt zu erfahren, die in ihrer Fantasie schon ein beträchtliches Eigenleben entwickelt hat. Der deutsche Tourismusforscher Christoph Hennig hat ebenfalls auf diesen Sachverhalt hingewiesen: Touristen reisen stets genauso in der Fantasie wie in der Wirklichkeit.26 Man kann dies als feige Flucht vor der als unbefriedigend empfundenen Realität beklagen, wie es die kritische Tourismusforschung der 1970er-Jahre getan hat, oder wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler darauf hinweisen, dass Touristen vor lauter vorgefassten Ideen die bereiste Wirklichkeit gar nicht mehr wahrnehmen können.27 Fruchtbarer scheint es mir, wie Hennig davon auszugehen, dass es sich um ein universell verbreitetes Bedürfnis nach dem Schaffen von Fantasiewelten handelt, genauso wie das Spielen oder Geschichtenerzählen.28
In dieser Perspektive lassen sich die Alpen vorzüglich als liminaler Raum oder Heterotopie deuten.29 Sie eignen sich besonders gut dazu, so genutzt zu werden, da sie zumindest in den höheren Regionen kaum besiedelt sind, ab Ende des 19. Jahrhunderts durch den Eisenbahnbau aber immer besser erreichbar wurden – eine konsumierbare Wildnis, die einen enormen Reiz auf die unternehmungslustigen Reisenden des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ausübte und sich auch gut verkaufen liess: Mehr als einmal haben einheimische Bergführer versucht, die Illusion aufrechtzuerhalten, die von ihnen Geführten seien tatsächlich die Ersten, die das angeblich unberührte Gebiet beträten.30 Zudem treffen die meisten der von Turner für die Übergangsrituale angeführten Merkmale auf die Praxis des Bergsteigens zu; Bergtouren können deshalb meiner Ansicht nach mit Gewinn als (modernes) Initiations- oder Übergangsritual analysiert werden.
Werden die Alpen als gesellschaftliches Experimentierfeld betrachtet, so wird auch klar, weshalb die Berglandschaft im alpinistischen Diskurs per definitionem als menschenleere Wildnis gilt, ganz einerlei, ob dies tatsächlich zutrifft oder nicht. Ausserdem lässt sich zeigen, wie beim Bergsteigen spielerisch mentale Dispositionen ausprobiert und eingeübt wurden. Im liminalen Raum Hochgebirge wurde gespielt, was anderswo ernst war: Britische Alpinisten inszenierten sich Ende des 19. Jahrhunderts als Eroberer der Gipfel, während anderswo britische Soldaten Kolonien eroberten. Der deutsch-österreichische Alpenverein schloss 1924 jüdische Mitglieder aus, bevor die deutschen Juden 1935 ihre Bürgerrechte verloren. Frauen erprobten in den Bergen das Erreichen von Zielen aus eigener Kraft und ohne männliche Hilfe, anderswo setzten sie sich für politische Gleichberechtigung ein und veränderten durch ihr Tun den Arbeits- und Familienalltag. Bergsteiger wetterten in ihren Schriften seit Ende des 19. Jahrhunderts gegen die «Überflutung» der Berge durch die «Massen», während der Zeit des Zweiten Weltkriegs sorgten schweizerische Politiker dafür, dass die als «Alpenfestung» bezeichneten Bunker in den Alpen für den Bundesrat und die Armee reserviert blieben, während die breite Bevölkerung einer deutschen Invasion wohl mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert gewesen wäre.31
Im liminalen Raum Alpen wurden also zentrale gesellschaftliche Werte und Normen verhandelt und ausprobiert. Die Leistungsideologie des modernen Bürgertums konnte im Bergsteigen rituell erlebt und somit bestätigt und in die Körper eingeschrieben werden, selbst – oder gerade! – wenn sie im Alltag kaum zu erfahren war, weil entgegen aller bürgerlichen Ideologie Herkunft und soziale Beziehungen eben doch weiterhin einen grosse Rolle spielten. Das Ritual Bergbesteigung war demnach eine Möglichkeit, sich als selbstbestimmtes modernes Individuum zu erfahren, es gehört zum kulturellen Kapital, mittels dessen sich Bürger und auch Bürgerinnen ihrer Klassenzugehörigkeit und ihrer sozialen Identität vergewisserten.32
Die konventionelle Alpinismusgeschichte widmet sich zumeist recht konkreten Fragen: Wer stand zu welchem Zeitpunkt auf welchem Gipfel, wer beging dazu welche Route, wie sah die Ausrüstung aus, wie die Technik? Wie ich im ersten Kapitel darlegen werde, war aber das Reden und Schreiben über Bergtouren stets mindestens ebenso wichtig wie die Expeditionen selbst. Ich bezeichne dieses Reden und Schreiben im Folgenden als «alpinistischen Diskurs», in Abgrenzung zur konkreten Bergsteigepraxis.33 Doch auch diese soll nicht zu kurz kommen, denn ich bin der Ansicht, dass auch gesellschaftliche Normen und Werte erst dann wirksam sind, wenn sie im Handeln der Menschen zum Ausdruck kommen.34 Ich werde mich dabei allerdings weniger mit alpinistischer Technik und Fragen der Routenwahl befassen als mit alltagsgeschichtlichen Fragen, beispielsweise jenen nach den körperlichen Bedürfnissen der Bergsteigenden, wie Essen, Gesundheit und Kleidung. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass die Trennung zwischen Reden und Schreiben einerseits und Handeln andererseits eine theoretische ist, denn Diskurs und Praxis sind stets aufeinander bezogen, beeinflussen sich gegenseitig und finden oft genug gleichzeitig statt.
FORSCHUNGSSTAND UND QUELLEN
Die Literatur über Bergsteigen und Tourismus in den Alpen ist umfangreich und wächst stetig weiter.35 Das meiste davon richtet sich an eine breite Leserschaft. Die Autoren – oft aktive Alpinisten – betonen die heroischen Aspekte des Bergsteigens und legen den Schwerpunkt auf Namen, Daten und Ereignisse, die oft isoliert vom übrigen gesellschaftlichen Wandel beschrieben werden. Der österreichische Bergsteiger Karl Ziak stellte 1936 in seinem Buch «Der Mensch und die Berge. Eine Weltgeschichte des Alpinismus» als einer der Ersten das Bergsteigen in einen breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang, doch er blieb bis heute unter den Autoren, die sich an ein breites Publikum richten, die Ausnahme. Repräsentativer für die populäre Literatur sind Jim Rings von der Presse hoch gelobtes Buch «How the English Made the Alps» aus dem Jahr 2000 und Fergus Flemings «Killing Dragons» von 2002. Beide nehmen eine stark nationalistische Perspektive ein und präsentieren die englischen Bergsteiger als eigentliche «Kolonisatoren» der Alpen.
Wissenschaftliche Literatur zum Alpinismus existiert vor allem im deutschen und französischen Sprachraum; zumeist handelt es sich dabei um Institutionengeschichte nationaler und lokaler Alpenclubs. Das wichtigste Resultat der deutschsprachigen Forschung: Obwohl sich die bürgerlichen Alpenclubs als unpolitisch verstanden, waren sie Orte politischen Handelns, wo nationalistische und in manchen Fällen gar faschistische Ideen entwickelt wurden.36 Die meisten Autoren sind sich einig, dass der Alpinismus eine «Erfindung» des städtischen Bürgertums war, verschiedene weisen aber darauf hin, dass die bürgerliche Kulturtechnik Bergsteigen bald auch von jenen übernommen wurde, die sich als Herausforderer der bürgerlichen Werte sahen, zum Beispiel von den sozialistischen Naturfreunden und vom so genannten Wandervogel mit seinen engen Verbindungen zur Lebensreformbewegung.37 Im deutschsprachigen Raum wurden also vor allem Institutionen und (politische) Ideen analysiert. Die französischsprachige, in der Tradition der Annales-Schule stehende Forschung hingegen untersucht mit Vorliebe die Bergsteiger als soziale Gruppe mit einer spezifischen Mentalität.38 Diesen Untersuchungen zufolge war die Haltung der französischen Alpinisten der Dritten Republik stark nationalistisch und militaristisch geprägt. Gleichzeitig verstanden sich die französischen Alpenclubs als Gelehrtengesellschaften, die wissenschaftliche Erkenntnisse popularisieren wollten. Die Geschichte der sozialen Gruppe der Bergführer allerdings bleibt noch zu schreiben: Einzig die Dissertation des Geografen Philippe Bourdeau von 1991 befasst sich mit Bergführern, und zwar den zeitgenössischen, im Gebiet um Grenoble.39
Forschungslücken zeigen sich in folgenden Bereichen: Der Schweizer Alpenclub SAC ist im Vergleich zu den Alpenvereinen anderer Länder kaum untersucht.40 Zudem fand die bisherige Forschung fast immer innerhalb nationaler Grenzen statt, obwohl Bergsteigen in ganz Westeuropa beliebt war und nicht selten Anlass zu persönlichen Kontakten über die Grenzen hinweg bot. Ebenfalls kaum untersucht ist der Geschlechteraspekt, vor allem aus Sicht der Frauen. Mit den Männern befassen sich einige englischsprachige Studien. Sie kommen einmütig zum Schluss, Bergsteigen sei im viktorianischen Grossbritannien ein Symbol für Männlichkeit und imperiale Macht geworden und habe dazu gedient, den gesunden männlichen Körper zu feiern.41 In den neueren deutschsprachigen Studien findet sich gelegentlich ein – durchaus informativer – Abschnitt zum «Sonderthema» Frauen, umfassend mit dem Geschlechteraspekt hat sich aber erst Dagmar Günther befasst: In ihrer vorbildlichen diskursanalytischen Studie