Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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ist ausserdem, dass der englische Journalist Albert Smith in einem Bericht über eine Montblanc-Besteigung 1851 dieselben Mengen der genau gleichen Nahrungsmittel aufführte, wenn auch umgerechnet auf eine grössere Gruppe von Führern und Trägern. Der einzige Unterschied war, dass er für sich selbst keine speziellen Speisen vorsah.32 Warum die beiden dieselbe Standardliste verwendeten, kann nur vermutet werden: Entweder orientierte sich Smith an Angeville, obwohl er sie in seinen Texten nur sehr kurz erwähnte, oder sie hatten ein gemeinsames Vorbild. Möglicherweise handelt es sich um Vorgaben, die von den Chamonixer Bergführern gemacht wurden. Jedenfalls ist die Liste ein ungeeigneter Beleg dafür, dass sich Angeville exzentrischer aufgeführt hätte als andere Bergsteiger.

      DIE EXPEDITION

      Im September 1838 reiste die 44-jährige Aristokratin zusammen mit ihrer Kammerzofe nach Chamonix und engagierte je sechs Bergführer und Träger. Auch in Chamonix zweifelte man daran, dass sie es schaffen würde; es wurden sogar Wetten darüber abgeschlossen. Angeville wäre am liebsten sofort losmarschiert, doch die Führer weigerten sich, da es Sonntag war und sie die Messe nicht verpassen wollten. Man teilte ihr mit, Bergbesteigungen am Sonntag brächten Unglück, und verwies auf Hamel, der dies nicht beachtet hatte.33 Am 3. September 1838 schliesslich zog Angeville mit ihren Begleitern los. Sie waren nicht die Einzigen: Gleichzeitig bestiegen der Deutsche Ferdinand Eisenkrämer und der polnische Baron Karol von Stoppen mit Führern und Trägern den Montblanc. Angeville störte dies nicht. Im Gegenteil: Sie fand es von Vorteil, da man sich im Notfall gegenseitig hätte helfen können. Allerdings wollte sie sich mit keiner der anderen Gruppen zusammenschliessen und wies auch weitere Einheimische, die sich ihr anschliessen wollten, ab, denn sie hielt auf Moral: Eine allein reisende Frau solle sich nie mit Fremden zusammentun, schrieb sie.34 Die von ihr engagierten und bezahlten Bergführer betrachtete Angeville offenbar nicht als Fremde, sondern als ihre Domestiken.35 Doch auch diese waren ihr schon mehr als genug. In ihrem Tagebuch hielt sie fest: «C’est bien assez de témoins des changements de toilette et autres nécessités humaines sans appeler autour de moi ceux qui me gêneraient sans me servir.»36

      Den ersten Teil des Wegs legte sie wie die meisten damaligen Touristinnen auf dem Rücken eines Maultiers zurück, doch schon bald ging es nur noch zu Fuss weiter. Wie Angeville in ihrem Tourenbericht schrieb, fiel ihr dies leicht, auch als es zu klettern galt und Seile, Alpenstöcke und Leitern zum Einsatz kamen; ja, es habe sie geradezu verwundert, wie einfach es sei, den Montblanc zu besteigen.37 Von den Führern sei sie wegen ihres Mutes und ihrer Gewandtheit gerühmt worden, schrieb sie, schwächte das Lob aber sogleich wieder ab, indem sie meinte, wegen ihrer Jugendjahre im Jura eine im Gehen geübte «Montagnarde» zu sein.38 Während ihre Begleiter mit zunehmender Höhe unter Migräne, Krämpfen und Benommenheit zu leiden begannen, sei es ihr immer noch gut gegangen, schrieb Angeville. Diese Leichtigkeit irritierte ihre Führer offenbar beträchtlich: «Tout en s’en réjouissant pour moi, ils étaient presque scandalisés d’une pareille irrévérence envers sa Majesté le Roi des Alpes […].»39 Kurz vor dem Gipfel begann aber auch Angeville unter der Höhe zu leiden: Unwiderstehliche Müdigkeit erforderte eine kurze Schlafpause, und schliesslich fühlte sie sich so schlecht, dass sie glaubte, ihr Körper versage den Dienst. In ihrem Expeditionsbericht schrieb sie, dass sie dieser Prüfung ihres Willens jedoch durchaus etwas entgegenzusetzen wusste: Sie habe die Führer gebeten, gegebenenfalls ihre Leiche auf den Gipfel zu tragen und dort liegen zu lassen.40

      Eine derart dramatische Selbstinszenierung wurde glücklicherweise nicht notwendig, denn schliesslich war der Aufstieg geschafft, und sofort fühlte Angeville sich wieder bestens – zumindest stellte sie es in der Rückschau so dar. Kaum oben angelangt, sei sie geradezu euphorisch geworden. Ihr Gefühlstaumel galt aber weder ihrer eigenen Leistungsfähigkeit noch dem Berg, sondern der Nation. Die Expedition, die sie bis dahin als Prüfung ihres (weiblichen) Willens dargestellt hatte, wurde zur militärischen Eroberung, zumindest symbolisch: «Comme un soldat» habe sie ihren eisenbeschlagenen Bergstock auf den Gipfel gepflanzt und glühende Schwüre auf den Ruhm und das Glück Frankreichs ausgestossen.41 Dass sie als Adelige, die mit Revolutionen keine guten Erfahrungen gemacht hatte, damit die Monarchie meinte und nicht etwa das zeitgenössische, bürgerlich dominierte Frankreich der Juli-Revolution von 1830, geht aus ihrem Bericht nicht hervor, wohl aber aus einem Brief an eine Freundin. Entsprechend bemerkte Angeville dazu: «Gardez ceci pour vous, il me serait plus que désagréable de voir les journeaux s’en emparer et le reproduire.»42

      Ob möglicherweise kurz zuvor der junge Eisenkrämer den Montblanc für den Ruhm Deutschlands oder der Baron von Stoppen für Polen in Anspruch genommen hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls kamen die beiden anderen Gruppen Angevilles patriotischem Überschwang nicht in die Quere, denn sie waren bereits wieder am Abstieg; die Bergsteigerin hatte den Gipfel für sich allein.43 Während die Führer und Träger sich um ihr körperliches Wohl kümmerten und sich am Proviant stärkten, wandte sich Angeville den ideellen Zielen ihrer Tour zu und schrieb noch vor Ort erste Briefe an Freunde und Verwandte, um sie mit einer eigens mitgebrachten Brieftaube ins Tal zu schicken. In diesem erhabenen Moment habe sie nicht an so etwas Profanes wie Essen denken können, notierte sie. Auch auf dem Berg hinterliess Angeville Spuren: Bevor die Gruppe den Gipfel verliess, kratzte sie ihr Motto in den Schnee: «Vouloir c’est pouvoir».44

      VON SICH REDEN MACHEN

      Die Expedition brachte Henriette d’Angeville den gewünschten Ruhm. Im Tal wurde sie mit Böllerschüssen begrüsst, und der Chamonixer Bürgermeister Simond beglückwünschte sie persönlich zu ihrer Tat – wohl nicht zuletzt, weil solche Gipfelstürmereien eloquenter Eliteangehöriger gute Werbung für seine Heimat waren. Das ganze Dorf sei auf den Beinen gewesen, berichtete Angeville, und habe sie als «Königin der Alpen» gefeiert.45 Bedauerlicherweise seien jedoch nur Fremde zu ihrer Begrüssung da gewesen und keine ihrer Verwandten und Bekannten: «Il y avait beaucoup pour l’amour-propre, rien pour le cœur dans cette espèce d’ovation.»46 habe zudem wohl nur deshalb so viel Freude gezeigt, weil sie erfolgreich zurückgekehrt sei. Hätte sie ein Unglück erlitten, meinte sie selbstkritisch, hätte es wohl eher geheissen: «Cette folle a payé bien cher l’envie de faire parler d’elle!»47 Und gesprochen wurde in der Tat von ihr: Das Pariser «Journal des Débats», damals eine der wichtigsten Tageszeitungen Frankreichs, berichtete:

      «Das ganze Tal ist in grösster Erregung; seit der Besteigung von de Saussure hat kein Ereignis eine solche Sensation erregt wie dasjenige, von dem wir eben Zeugen gewesen sind. Eine Frau hat den Mut gehabt, den Montblanc zu besteigen. Es ist eine Französin, Mademoiselle d’Angeville. Die Führer können den Mut und die Energie, mit der sie die Gefahren und Schwierigkeiten der Besteigung überwunden hat, nicht genug rühmen. Als sie zurückkam, herrschte ein Enthusiasmus, der sich kaum beschreiben lässt; man löste Kanonenschüsse, die Bewohner des ganzen Tales kamen, um die Heldin zu sehen, und der Name d’Angeville ist für immer eingegraben neben jenen von Jacques Balmat und de Saussure.»48

      Zurück in Genf, wurde sie auch von ihren Bekannten als Heldin gefeiert, sogar von jenen, die ihren Plan vorher für verrückt gehalten hatten, so Angeville.49 Unzählige Glückwunschschreiben, Einladungen und Autogrammbitten habe sie erhalten, Besuche von Fremden und von Journalisten.50 Eine Woche nach der Expedition beschrieb Angeville einer Freundin, wie sie es empfand, so gefeiert zu werden:

      «Pendant les trois jours que j’ai encore passés à Chamonix, il n’aurait tenu qu’à moi de me croire reine; je croyais rêver toute éveillée en me trouvant tout à coup célèbre pour avoir eu deux bonnes grosses jambes de montagnarde et la forte volonté de m’en servir, pour aller à quinze mille pieds de hauteur. Le rêve de Chamonix continue à Genève; on se m’arrache et comme je ne suis pas insensible à la gloriette, tout cela me chatouille agréablement, je l’avoue, ce côté un peu faible qu’on nomme l’amour-propre.»51

      Angevilles Erfolg sprengte die Grenzen der gesellschaftlich vorgegebenen Stellung einer Frau – sehr zu ihrem Vergnügen, wie sie bereitwillig zugab: «Qu’il est doux le succès!», schrieb sie in ihr Tagebuch.52 Gänzlich foutieren um die Erwartungen ihres Publikums an eine Dame konnte sie sich allerdings nicht, und so stand sie


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