Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
davon, wer man sei, verdankt sich grösstenteils der Zugehörigkeit zu einer oder mehreren sozialen Gruppen, wobei zahlreiche Überschneidungen und fliessende Übergänge vorkommen.13 Darüber hinaus ist «Identität» (von idem, «dasselbe») im Wortsinn eigentlich eine Täuschung: Gemeint ist, unter verschiedensten Umständen im Grunde gleich zu bleiben, auch wenn, wie zahlreiche Autoren gezeigt haben, für individuelle Biografien der Wandel die Regel ist.14 Dennoch ist es für die Einzelnen unabdingbar, zumindest den Eindruck zu haben, ihr ganzes Leben lang im Prinzip die- oder derselbe zu bleiben.15 Deshalb muss diese sich wandelnde Identität immer wieder als eigene bestätigt werden, und dies geschieht unter anderem durch Selbstdarstellung mittels symbolischer Praktiken. Und genau eine solche ist auch der Alpinismus. Besser noch als die Geschichte vom Tellerwäscher, der Millionär wird, bestätigt die Aktivität Bergsteigen die Leistungsideologie, die für die moderne bürgerliche Gesellschaft so zentral ist. Denn eine Bergtour ermöglicht den Einzelnen, das Credo «durch eigene Leistung, Selbstüberwindung und starken Willen nach oben» selbst in Szene zu setzen und konkret zu erleben – ganz egal, ob es für ihr restliches Leben tatsächlich zutrifft. Obwohl die meisten Bergsteigerinnen und Bergsteiger nur während eines verschwindend kurzen Teils ihres Lebens Gipfel erkletterten, definierten und definieren sich viele von ihnen über diese Tätigkeit. Und nach wie vor erzählen zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens gern, wie sie in ihrer Freizeit Berge erklimmen: Das Alpinistenimage ist für Politiker, Wirtschaftsführer, Chefärzte und Wissenschaftler gleichermassen geeignet, sich als erfolgreiches, willensstarkes und autonomes modernes Individuum zu charakterisieren.16
THEORETISCHER UND METHODISCHER HINTERGRUND
Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive fördert Geschichten von Frauen zu Tage. Auf meiner Tour durch die Archive begegnete ich unzähligen Gipfelstürmerinnen, die sich entgegen gängiger Rollenvorstellungen in die Berge wagten, trotzdem aber weitgehend unbekannt geblieben sind. Ihre Spuren habe ich hier zusammengetragen. Die vorliegende Arbeit bietet somit eine Ergänzung zur bestehenden Literatur über die Geschichte des Bergsteigens, die den Frauen – wenn überhaupt – bloss einen kleinen Platz zugesteht. Mit der Analyse dieser Geschichten von Frauen ziele ich allerdings über diese ergänzende Funktion hinaus auf das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Frauen und Männern, auf dvie Geschlechterordnung. Die Bergsteigerinnen überschritten bei ihrer Tätigkeit die Grenzen der gängigen Frauenrolle und lösten dadurch Verunsicherung aus, sowohl auf weiblicher wie auf männlicher Seite. Wenn Alpinistinnen und Alpinisten in der Folge darüber diskutierten, ob und wie Frauen bergsteigen sollten, thematisierten sie – zumindest implizit – stets auch die grundsätzlichen Vorannahmen, welche die bürgerliche Geschlechterordnung bestimm(t)en.17 Ausserdem kann aus diesen Debatten auch auf die Vorstellungen über Männer geschlossen werden, denn die Behauptung, Frauen seien zum Bergsteigen ungeeignet, sagt auch einiges aus über die herrschenden Ideen von Männlichkeit.
Dabei soll nicht vergessen gehen, dass weder Frauen noch Männer durch ihr Geschlecht vollständig in ihrer Identität definiert sind. Andere Merkmale, wie etwa Klassenzugehörigkeit oder regionale Herkunft, spielen genauso eine Rolle. Theoretikerinnen und Theoretiker der Identitätsdebatte streiten sich bis heute, welche dieser Identitätsmerkmale die wichtigsten seien und welche bisher zu wenig beachtet wurden: In den 1970er-Jahren zum Beispiel ging es um die Frage, ob die Menschen eher von ihrer Klassenoder von ihrer Geschlechtszugehörigkeit bestimmt seien, und ein Jahrzehnt später wiesen afroamerikanische Feministinnen vehement darauf hin, dass Frauen in ihren Erfahrungen durch die unterschiedlichen Hautfarben viel zu stark beeinflusst würden, als dass es «die Frauen» als einheitliche Gruppe geben könnte.18 Ich will solche Fragen hier nicht abschliessend diskutieren, sondern habe für meine Arbeit die mir aufgrund der Quellen relevant erscheinenden Kategorien Geschlecht, Klasse und Herkunft beziehungsweise Nationalität gewählt.19
EIN SPIELPLATZ DER IDENTITÄTEN
Neben der Geschlechtergeschichte hat die historische (Kultur-)Anthropologie meine Arbeit massgeblich beeinflusst.20 Besonders wichtige theoretische Impulse stammen von Pierre Bourdieu, Victor Turner, Michel Foucault, Mary Douglas und Jan Assmann. Wie in der historischen Anthropologie üblich, versuche ich, bei der Untersuchung des alpinistischen Diskurses und der alpinistischen Praxis einen ethnologisch-distanzierten Blick auf die eigene Kultur zu werfen, und analysiere Bergtouren als Übergangsrituale.
1871 bezeichnete der englische Bergsteiger Leslie Stephen die Alpen als «Playground of Europe». Tatsächlich nutzen Alpinistinnen und Alpinisten das Hochgebirge als eine Art «Spielplatz» im Sinn einer Schaubühne oder eines Experimentierfeldes für das Aushandeln von und Experimentieren mit Identitäten und den zugehörigen Rollenmustern und Handlungsmöglichkeiten. Räume, die auf diese Weise genutzt werden, bezeichnet der englische Kulturanthropologe Victor Turner als «liminale Räume» oder «Schwellenräume» (limen=Schwelle).21
Ursprünglich stammt der Begriff der Liminalität vom französischen Ethnologen Arnold van Gennep. 1909 beschrieb er die so genannten Übergangsrituale (rites de passage), mittels deren Individuen und Gruppen von einer gesellschaftlichen Rolle in eine andere wechseln; etwa von jener des Knaben in die eines erwachsenen Mannes. Dabei stellte er drei Phasen fest: Zuerst werden die Ritualteilnehmer aus der Gesellschaft herausgelöst, dann befinden sie sich ausserhalb, in der Liminalität, wo der Übergang stattfindet, und schliesslich werden sie wieder eingegliedert. Das Übergangsritual dient gemäss van Gennep dazu, das mit individuellen Veränderungen der Identität einhergehende Chaos in geordnete Bahnen zu lenken, sodass die allgemeine gesellschaftliche Ordnung nicht davon tangiert wird.22
Turner interessierte sich nun speziell für diese liminale Übergangsphase. Als wichtigste Merkmale nennt er: Das Übergangsritual findet ausserhalb der Gesellschaft und des Alltags statt, oft an Orten, die im Vergleich zum bewohnten Gebiet als Wildnis gesehen werden, in der man sich normalerweise nicht aufhält. Dieser liminale Raum gilt als sakral, als näher bei den Göttern, in ihm herrscht eine andere Zeit oder gar die totale Zeitlosigkeit. Häufig heisst es, er sei von Monstern und Drachen bevölkert, von Wesen also, die jeder bekannten Ordnung spotten und dadurch geradezu dazu auffordern, über die geltenden Regeln nachzudenken. Die Ritualteilnehmer gelten als unsichtbar, ausgestossen oder gar tot. Ihr Zustand ist zwiespältig und paradox; sie haben keinen sozialen Status mehr, müssen die Zeichen ihrer gesellschaftlichen Stellung – etwa Namen oder Kleidung – ablegen oder durch andere ersetzen. Sie gelten als einander völlig gleiche, oft sogar geschlechtslose Kameraden, familiäre Bande und Herkunft gelten nichts mehr. Der Übergang selbst wird als symbolischer Tod mit Wiedergeburt inszeniert. Meist gehört dazu, dass die Ritualteilnehmer sich kosmologisches Wissen aneignen müssen, also nicht etwa praktische Fertigkeiten oder Faktenwissen, sondern eine Art heilige Weisheit oder Erkenntnis darüber, «was die Welt zusammenhält». Die Passage ist somit eine Phase der Reflexion über sich selbst, über die bestehende Gesellschaft und über den eigenen alten und neuen Platz darin.23 Anders als van Gennep betont Turner aber, dass während des Übergangs ein kreatives Experimentieren mit den Rollen möglich ist, welches über das Ritual hinaus wirksam ist und die gesellschaftliche Ordnung verändern kann. Diese Kreativität sei letztlich für jede Gesellschaft notwendig, will sie nicht am Wandel zerbrechen, insbesondere aber für die moderne Gesellschaft, die vergleichsweise viele Turbulenzen aushalten muss. Turner hat deswegen vorgeschlagen, das Phänomen der Liminalität gerade auch in modernen Industriegesellschaften zu untersuchen, und nicht nur, wie Gennep, in traditionalen Kulturen.24
DIE ALPEN ALS PROJEKTIONSFLÄCHE UND EXPERIMENTIERFELD
Unabhängig von Turner hat auch der französische Historiker Michel Foucault die besonderen Qualitäten liminaler Räume beschrieben. Er nannte sie allerdings «Heterotopien», eine Wortneuschöpfung, die sich vom Begriff der Utopie – einem nur in der Fantasie vorhandenen Ort – ableitet. Unter Heterotopien versteht Foucault Orte, die zwar tatsächlich existieren, aus der Perspektive jener, die sie als Heterotopie nutzen, aber ausserhalb des Alltags liegen und als Projektionsflächen für ihre Fantasien dienen. Foucaults Ansicht nach ist es ein universelles menschliches Bedürfnis, reale Orte auf diese Weise mit eigenen Traumwelten zu überlagern und zu Heterotopien zu machen, in denen die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben sind. Als Beispiele nennt