Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
Theaterstück spielten sich diese Auseinandersetzungen aber meist nicht im Gebirge, sondern viel eher in der Stadt ab, wo die Mehrheit der Alpinistinnen und Alpinisten lebte und wo in der Folge auch ein Gutteil der Vereinsaktivitäten der Bergsteigerclubs stattfand.6 Verhandelt wurden denn auch weder der tatsächliche, juristische Landbesitz noch Wegrechte. Im Gegenteil: Die Frage, wem der Boden im Hochgebirge gehört, war unter Bergsteigerinnen und Bergsteigern geradezu tabu.7 Der Raum, um den sie stritten, war nicht jener, den die alpine Bevölkerung bewohnte und bewirtschaftete, sondern vielmehr eine imaginäre Landschaft, welche die Touristen, Wissenschaftler und Künstler symbolisch zu besetzen suchten; eine angeblich unberührte Wildnis, ein leerer Imaginationsraum, in den sie ihre jeweils eigenen Ideen und Werte projizieren konnten.
Da ich im Folgenden die «Nutzung» einer solchen imaginären Landschaft untersuche, kann ich die Analyse nicht auf einen abschliessenden geografischen Raum beschränken. Ich betrachte Texte von schweizerischen, deutschen, französischen, englischen, italienischen und amerikanischen Bergsteigerinnen und Bergsteigern, die in den Berner, Walliser und Bündner Alpen und im Montblanc-Massiv unterwegs waren – aber auch in aussereuropäischen Gebirgen: Bergsteigen war eine Tätigkeit, die Menschen verschiedener Nationalität miteinander verband, sei es in gemeinsamen Seilschaften, sei es im Wettlauf um dasselbe Ziel.
«WIE DIE ALPEN EROBERT WURDEN» – EINE ERFOLGSGESCHICHTE
Die Konflikte um die Definitionsmacht über diese imaginären Alpen zeigen sich allerdings erst auf den zweiten Blick. Die meiste populäre und ein Grossteil der wissenschaftlichen Literatur über das Bergsteigen wird von einer «grossen Erzählung» beherrscht, die Widersprüche ausblendet und die Geschichte des Alpinismus als das erfolgreiche und mehr oder minder geradlinige Ringen männlicher Pioniere um Fortschritt und Erkenntnis darstellt und sich auf die Wiedergabe von Namen, Daten und Höhengraden konzentriert.8 Weil diese Erzählung für den alpinistischen Diskurs so zentral ist, hier einleitend ihre wesentlichen Grundzüge:
Am Anfang waren die Alpen. Die in ihren Tälern lebenden Menschen fürchteten sich angeblich, auf die Gipfel zu steigen, weil sie glaubten, dort hausten Drachen und Dämonen. Nur vereinzelte mutige Kristallsucher, Gämsjäger oder gelegentlich ein Hirte auf der Suche nach einem verloren gegangenen Tier wagten sich in die unheimlichen Höhen. Die Dichter und Denker jener Zeiten hielten die Alpen für hässlich und gefährlich, den Bauern – so heisst es – ging jeder Sinn für Ästhetik von vornherein ab. Doch dann findet ein grundlegender Wandel statt: Das «finstere Mittelalter» ist vorbei, die europäische Geisteselite entdeckt die Alpen und rühmt ihre Schönheit und Erbaulichkeit. Der künstlerischen und philosophischen Entdeckung folgt die wissenschaftliche und sportliche Eroberung, das «goldene Zeitalter des Alpinismus» bricht an: Auftritt der britischen Bergsteigerpioniere. Ab 1850 wetteifern mutige Alpinisten darum, wer am schnellsten möglichst hohe und möglichst viele Gipfel erobern kann, und dabei bedienen sie sich der Dienste treuer einheimischer Bergführer, die zwar ungehobelte, aber edle Naturburschen sind. Mit der Matterhornbesteigung, die zum Tod von drei Bergsteigern und einem Bergführer führt, endet diese Phase 1865.
Nach diesem apokalyptischen Finale – so immer noch die Erzählung – wird es für ambitionierte Alpinisten zusehends schwieriger, Gelegenheit für herausragende «Taten» zu finden. Einerseits ist «alles schon gemacht», andererseits findet das Bergsteigen immer zahlreichere Anhänger. Auswege aus diesem Dilemma werden im Sportklettern, im Skifahren, in Winterbesteigungen und in den aussereuropäischen Bergen gesucht. Daneben organisieren sich die Bergsteiger ab 1860 in Vereinen, welche die Alpen durch so genannte «Clubarbeit» erschliessen: Wege und Hütten werden gebaut, Karten und Tourenbeschreibungen veröffentlicht, Vereinschronisten beginnen die Geschichte des Bergsteigens und ihrer Vereine festzuhalten. In den 1930er-Jahren schliesslich kommt geradezu Endzeitstimmung auf, es ist die Rede von den «letzten Problemen». Gemeint sind die Nordwände der Alpen, deren Erstbegehung als letztes noch mögliches alpinistisches Ziel betrachtet wird. Doch 1938 wird die Eigernordwand erstiegen, und damit auch dieses Problem gelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg franst die Erzählung aus, die Spur ihrer Helden verliert sich irgendwo in den Weiten des Himalaya.
Diese heftig geraffte Version der Geschichte des Alpinismus mag in ihrer Klischeehaftigkeit ironisch erscheinen, sie besteht jedoch aus Versatzstücken, die bis heute in grossen Teilen der alpinistischen Literatur gepflegt werden. Ihre Grundstruktur stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde stark von den britischen Bergsteigern geprägt. Es handelt sich dabei um einen Gründungsmythos der Alpinistengemeinschaft, in dem wichtiges Wissen über die eigene Gruppe transportiert wird: Wer sind wir, und was wollen wir? Wer gehört dazu, wer nicht? Daneben enthält die Erzählung aber auch Legitimation gegen aussen: Sie ist eine Aufzählung der eigenen Leistungen und Verdienste, die belegen soll, dass Bergsteigen eine sinnvolle Beschäftigung ist. Nicht hinein passen: gebildete Alpenbewohner, nichtbürgerliche Bergsteiger, Frauen. Stattdessen ist die Erzählung von Vereinnahmungstendenzen gegenüber allerlei berühmten Persönlichkeiten geprägt: Von Petrarca über Goethe bis hin zu Jesus führt die Liste früher «Bergsteiger».9 Ausserdem enthält sie eine Moral und einige Thesen über den Verlauf menschlicher Geschichte. Die Moral: Ideelle Ziele sind materiellen vorzuziehen – wobei selten bemerkt wird, wie elitär diese Position ist. Die Thesen: Es gibt beständigen Fortschritt hin zum Besseren, und dieser Wandel wird initiiert durch Entdeckungen, Ideen und «grosse Taten» einzelner, besonders begabter und willenskräftiger Pioniere. Anschliessend folgt dann jeweils die Popularisierung, die je nach politischer Haltung der Erzähler für gut oder schlecht befunden wird.
Ursprünglich ist diese Geschichte eine bürgerliche Männergeschichte. Varianten dazu gibt es jedoch viele, denn die Fortschrittsoptik lässt sich übertragen: Wie die Schweizer die Alpen eroberten. Wie die Arbeiter die Alpen eroberten. Wie die Ostalpen erobert wurden. Und auch Frauen haben eigene Varianten davon produziert, mit sich selbst in den Hauptrollen.10 In der Zeitschrift des Schweizer Frauen-Alpenclubs etwa finden sich zahlreiche Beispiele für den Versuch, eine eigene «Frauen-Alpinismusgeschichte» nach dem Muster dieser «grossen Erzählung» zu schreiben: Weibliche Vorbilder sollen dabei das Bestehen einer langen Traditionslinie des Frauenalpinismus belegen und das unweiblich erscheinende Tun der SFAC-Frauen legitimieren. Und genauso wie die männlichen Bergsteiger stellen sich die Frauen ungeniert eine Ahninnengalerie aus illustren Persönlichkeiten zusammen: Wagemutige Bürgerstöchter des 19. Jahrhunderts werden dabei genauso zu Pionierinnen des Frauenalpinismus wie mittelalterliche Bergliebhaberinnen, die als Hexen verbrannt, oder gar Höhlenbewohnerinnen, deren Knochen in gebirgiger Gegend gefunden worden sind.11
DURCH EIGENE LEISTUNG NACH OBEN
Ich referiere diese traditionelle Variante der Alpinismusgeschichte nicht deswegen so ausführlich, weil ich ihr nun die einzig wahre (andere) Darstellung entgegenhalten möchte, sondern weil sie so gut belegt, wie Bergsteigerinnen und Bergsteiger sich selbst inszenieren wollten: als autonome, bürgerliche Individuen und Gruppen auf dem Weg zu einem höheren Ziel.
Diese Inszenierungen sollen in der vorliegenden Arbeit etwas genauer untersucht werden, und zwar aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte. Ich werfe einen Blick hinter die Selbstverständlichkeiten dieser «grossen Erzählung(en)», auf die zahlreichen Konflikte und Widersprüche, die das Ringen um den symbolischen Raum Hochgebirge prägten. Bis heute gilt zumeist als Allgemeinwissen, dass 1.) Bergsteigen im Grunde Männersache sei, 2.) die Erstbesteigung eines Gipfels als sportlicher Sieg einer Nation über andere Länder gelten könne, und dass 3.), wer den Weg nach oben geschafft habe, zur gesellschaftlichen Elite gehöre, während die «Massen» im Tal unten bleiben sollten. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass eine an sich geschlechtsneutrale Tätigkeit als besonders männlich zu gelten begann? Weshalb sollte Bergsteigen für Männer gut, für Frauen jedoch schlecht sein? Wie konnte das Ersteigen von Bergen, die in einem bestimmten Nationalstaat liegen, als Eroberung durch Vertreter eines anderen Landes gesehen werden? Und schliesslich: Wie kommt es, dass die Alpinistinnen und Alpinisten zumeist betonten, innerhalb der Bergsteigergemeinde gebe es keine gesellschaftlichen Unterschiede, das Bergsteigen gleichzeitig aber auch als Mittel sahen, sich von den «gewöhnlichen» Menschen elitär abzugrenzen? Am Beispiel des Bergsteigens werde ich demnach im Folgenden untersuchen, wie Teile des europäischen Bürgertums in den Jahren 1840 bis 1940 individuelle und kollektive Identitäten erzeugten, festigten und durch