Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz
es 1786 als Erstem gelungen war, eine begehbare Route auf den Berg zu finden.7 Im Sommer 1808 stand Paradis auf dem Montblanc-Gipfel und wurde zur lokalen Berühmtheit. Wie sie vorher ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, ist ungewiss; vermutlich hatte sie als Dienstmädchen oder Magd gearbeitet. Die Bergtour verhalf ihr zu einem neuen Einkommen: Sie führte fortan eine Teestube in Les Pèlerins, in der sie den Touristen gegen ein Trinkgeld ihre Erlebnisse erzählte. Die Gegend um Chamonix war damals zum Treffpunkt der High Society Europas geworden, Alpenreisen galten als chic: 1810 besuchte die französische Kaiserin Joséphine den nahen Montenvers, und das Mer de Glace, der grösste Gletscher Frankreichs, war zu einer Sehenswürdigkeit geworden, die einfach gesehen haben musste, wer als gebildeter Reisender etwas auf sich hielt.8 All diesen Bergbegeisterten mag es gefallen haben, sich von Marie Paradis bei einer Tasse Tee von noch grösseren alpinen Abenteuern erzählen zu lassen, ohne selbst den Weg unter die Füsse nehmen zu müssen.9
Schriftlich überliefert ist Paradis’ Unternehmung allerdings nur deshalb, weil dreissig Jahre später Henriette d’Angeville nach Chamonix kam, mit der Absicht, als erste Frau den Montblanc zu besteigen. Sie stammte aus einem völlig anderen sozialen Milieu als die Einheimische: Die Angevilles waren eine adlige Familie mit Familiensitz auf dem rund 50 Kilometer westlich von Genf gelegenen Château des Lompnes in Hauteville. Die kleine Henriette war mitten in die Revolutionswirren hineingeboren worden, ihr Grossvater wurde als Staatsbeamter in Paris 1793 guillotiniert, ihr Vater festgenommen. Die Familie floh in der Folge von Hauteville nach Genf.10 1802 kehrten die Angevilles nach Lompnes zurück, wo Henriette ihre Jugend und jungen Erwachsenenjahre verbrachte. Sie blieb ledig und zog 1831 in der Folge von Erbstreitigkeiten mit ihren Brüdern nach Ferney bei Genf.11
Zu jener Zeit bewegte der Montblanc die Öffentlichkeit: 1786 war die Besteigung des Berges erstmals geglückt, und zwar dem soeben erwähnten Jacques Balmat, zusammen mit dem Chamonixer Arzt Michel Paccard. Im Jahr darauf folgte die grosse Expedition des Genfer Geologen Horace-Bénédict de Saussure, die lange Zeit fälschlicherweise als eigentliche Erstbesteigung galt. Und 1820 erregte die Expedition des russischen Naturforschers Joseph Hamel viel Aufsehen, denn sie endete mit einer Katastrophe: Bevor der Russe und seine Begleiter den Gipfel erreichten, gerieten sie in ein Schneebrett; drei Führer starben in diesem ersten dokumentierten Bergunglück. Es folgte eine gerichtliche Untersuchung, ob Hamel Schuld am Tod dieser Männer trage und ob solche Unternehmungen moralisch haltbar seien.12 1823 wurde als Reaktion auf dieses Unglück in Chamonix einer der ersten Bergführerverbände gegründet, um Rechte und Pflichten der Bergführer zu definieren.13 In den Jahren 1823 bis 1837 folgten weitere Besteigungen, die von der Presse alle stark beachtet wurden.14
Vor diesem Hintergrund entstanden Henriette d’Angevilles Montblanc-Pläne. Sie selbst erwähnte diese anderen Expeditionen in ihren Schriften allerdings kaum, sondern schrieb, der Anblick des Berges von Genf aus habe in ihr den Wunsch nach der Besteigung geweckt. Und zwar so sehr, dass sie geradezu «liebeskrank» geworden sei und kaum mehr habe essen und schlafen können.15 Daneben begründete sie ihr Vorhaben aber auch mit dem Wunsch, an Orte reisen zu wollen, die noch von niemandem besucht und beschrieben worden waren. Obwohl der Montblanc schon mehrfach bestiegen worden war, war er für sie diesbezüglich ein erstrebenswertes Ziel, denn sie war der Ansicht, dass Frauen und Männer die Welt unterschiedlich wahrnahmen, dass also immer noch neue Erkenntnisse zu erwarten waren, wenn es auch einer Frau gelingen sollte, diese Erfahrung zu machen und vor allem zu beschreiben.16
FIEBERHAFTE VORBEREITUNGEN
Angeville wollte also auf den höchsten Berg Europas, und zwar möglichst bald. Trotz ihrer Eile plante sie die Tour sorgfältig. Sie informierte alle Bekannten über ihre Pläne und setzte für den schlimmsten Fall ihr Testament auf. Diese dramatische Massnahme verfehlte ihre Wirkung nicht: Freunde und Familie versuchten aufs Heftigste, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Man erinnerte an Hamels Unglück und erzählte von Comte de Tilly, der 1834 am Montblanc schlimme Erfrierungen an den Füssen davongetragen hatte, man warnte vor der Höhenkrankheit.17 Manche hielten ihr Projekt für blosse weibliche Eitelkeit, und nur wenige ermutigten sie.18 Und schliesslich liess Angeville ihren Gesundheitszustand vom Arzt untersuchen. Der verordnete zur Vorbereitung nicht etwa Training, sondern viel Ruhe.19 Sie antwortete jedoch, auszuruhen gelinge ihr nur schlecht: «Les sermons des bons amis, les prédictions maladroites et impatientantes des gens qui veulent absolument donner leur avis, lorsqu’on ne le leur demande pas», dies alles trage dazu bei, dass stattdessen «fieberhafte Aktivität» sie am Schlafen hindere.20 Seit einigen Tagen verbringe sie ihre Nächte mit Träumereien vom Montblanc. Da sie fürchtete, vorzeitig erschöpft zu sein, bat sie den Arzt um ein Schlafmittel und empfing bis zu ihrem Aufbruch keine kritischen Besucher mehr.21
Ausserdem liess Angeville sich ein speziell auf die Anforderungen einer Hochgebirgstour zugeschnittenes Reisekostüm schneidern, denn auf früheren Wanderungen hatte sie festgestellt, dass Röcke zum Klettern unpraktisch waren. Sie beschloss, Hosen zu tragen: «[…] en conséquence je me suis fait faire un vêtement complet qui réunit la solidité, la chaleur, l’aisance des mouvements et la décence […]».22 Rechtfertigend schrieb sie: «On ne va pas à la cour du Roi des Alpes en robe de soie et en bonnet de gaze, cette visite exige un costume plus sévère.»23 In ihrem Bericht beschrieb sie das Kostüm detailliert und illustrierte ihre Ausführungen mit dem nebenstehenden Bild.24 Es handelte sich dabei um eine eigenwillige Mischung aus damaliger Damen- und Herrenbekleidung: Mit seiner ausgeprägten Sanduhrsilhouette, dem kreisrunden Hut, dem langen Schal, dem gemusterten Stoff und vor allem den aufgeblähten Ärmeln war Angevilles Kostüm ein typisches Biedermeier-Damenkleid. Ungewöhnlich war, dass dank erhöhtem Rocksaum die Schuhe sichtbar waren und noch dazu ein Paar (Männer-) Hosen. Ihr Kleid konnte dadurch auch als verweiblichte Variante des damals üblichen Männerfrackes gedeutet werden.25 All dies hielt Angeville jedoch keiner besonderen Erklärung für nötig – ganz anders als spätere Bergsteigerinnen, die nicht müde wurden, darauf hinzuweisen, dass sie trotz der damit verbundenen Mühsal der Schicklichkeit halber in Frauenkleidern kletterten, oder wie sie entgegen allen Konventionen wagten, zur Hose zu greifen.26 Bloss ästhetisch schien Angeville dieses «wenig kokette Kostüm», wie sie es nannte, etwas unvorteilhaft, und sie beschloss, es erst unterwegs anzulegen und Chamonix in einem betont femininen Kleid zu verlassen.27
3 Die Montblanc-Besteigerin Henriette d’Angeville.
Auch die übrige Ausrüstung listete sie akribisch auf: Kölnischwasser, einen Fächer und einen Schuhlöffel, aber auch Messgeräte wie Thermometer und Fernglas und schliesslich einen Spiegel, ein Gerät, das die Bergsteigerin sehr empfahl, um die Haut auf Sonnenbrand hin zu kontrollieren, damit rechtzeitig Gurkencreme zur Kühlung aufgetragen werden konnte. In ihr Tagebuch notierte Angeville dazu: «Il faut bien qu’il y ait quelque chose de féminin dans le bagage d’une femme, même pour un voyage au Mont Blanc.»28 Im später verfassten Tourenbericht hingegen verwahrte sie sich dagegen, den Spiegel, dieses «meuble féminin par excellence», aus Eitelkeit mitgenommen zu haben, und kommentierte ironisch, im Hochgebirge gerate die Gesichtshaut ohnehin in einen derart fürchterlichen Zustand, dass es die Eitelkeit eher gebieten würde, keinen Spiegel mitzunehmen.29 Offenbar erschien es ihr notwendig, öffentlich keinerlei weibliche Vorlieben zu zeigen, die als Schwächen ausgelegt werden konnten.
Auch der mitgenommene Proviant wurde genau beschrieben. Für die Führer und Träger wurden auf Wunsch des Chefführers Joseph Couttet eingekauft: 2 Lammkeulen, 2 Ochsenzungen, 2 Dutzend Brathähnchen, 6 Brote von 3 bis 4 Pfund, 18 Flaschen guten Weins, 1 Kiste minderen Weins, je 1 Flasche Cognac, Essig und Sirup, 12 Zitronen und schliesslich je 3 Pfund Zucker, Schokolade und Pflaumen. Für sich selbst sah Angeville spezielle Nahrungsmittel vor: 1 Topf Hühnerbrühe, etwas Limonade und einen Mandelpudding, süsse und verfeinerte Speisen, die sie offenbar für eine Dame für angemessener hielt als Fleisch und Brot.30 In späteren Berichten über Angeville wurde diese grosse Menge Proviant immer wieder als besondere Kuriosität hervorgehoben und als Beweis, wie extravagant manche Frauen