Gipfelstürmerinnen. Tanja Wirz

Gipfelstürmerinnen - Tanja Wirz


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an, denn ich habe bis heute schon unzählige Touren unternommen, sei es mit der Schule, der Familie oder allein.»268 Es folgt eine nahezu endlose Aufzählung aller Spaziergänge, Ausflüge und Wanderungen, an die Wenzel sich noch erinnern konnte, und diese Liste nutzte er sogleich zur kritischen Reflexion seiner Leistungen. «Ich weiss schon, dass ich im Verhältnis sehr wenige Berge bestiegen habe, wenn man die Mannigfaltigkeit der Bündner Berge kennt», vermerkte er bescheiden: «Ich glaube aber, dazu noch genug Zeit zu haben in der Zukunft.»269 Wenzel folgte damit, zusammen mit vielen anderen Alpinisten, der protestantischen Tradition der Tagebuchführung: Durch die Aufzeichnung sämtlicher Leistungen und Verfehlungen sollte systematisch der eigene Gnadenstand kontrolliert werden, zum Zweck der Selbsterkenntnis und stetigen Verbesserung.270

      Die Fahrtenbücher stehen daneben allerdings auch in der Tradition der wissenschaftlichen Forschungsreise, auf der noch vor Ort möglichst präzise alle wichtigen Beobachtungen und Vorkommnisse notiert werden sollten. Anders als Montadon hielt Wenzel sich eher knapp und imitierte in seinen Texten den Stil eines Logbuches oder Forschungsjournals. So lautet sein Eintrag zu einer Tour im Juli 1920:

      «Schwarzhorn. Auf meine Anregung hin machen wir uns zu 4. am Samstag um 9 Uhr auf die Beine und sind um 12.15 am Flüela Hospiz. Teilnehmer sind Westermann, Lecrupte, Hugi und ich. Extra zu nennen ist ‹Nick›, der Hund Westermanns. Obschon wir nach Abmachung zum Sonnenaufgang hinauf wollten, bleiben wir auf dem Stroh über Nacht. Lustige Szenen mit Nick. 6 Uhr Aufstieg. Über Schnee bis zum Gipfel woselb. wir um 9 Uhr waren. Herrl. Fernsicht und überaus klares Wetter. Abgekocht. 1 Uhr Abstieg. Hugi und ich nach Grischna, die anderen nach Flüela. 6 ½ Uhr zu Hause. Besonders zu bemerken ist, dass ich nie wieder ohne Schneebrille eine Tour mache. Im übrig. hat mich das Gewaltige des Piz Kesch gereizt und der Beschluss zu dessen Besteigung ist in mir ganz gereift. Glück auf!»271

      Wenzel bediente sich einer stark typisierten Sprache und deutete Erlebnisse nur an, ohne sie wirklich zu erzählen. Offenbar ging er davon aus, dass er sich bei einer allfälligen späteren Lektüre dann schon noch würde erinnern können, wie die «lustige Szene» mit dem Hund verlaufen war oder was ihm die «herrl. Fernsicht» offenbart hatte. Andernorts hielt er über eine Tour auf den Piz Kesch im Jahr 1920 fest: «Um 3 Uhr aufstehend und typisches Hüttenleben geniessend wird die Spannung immer grösser. Um 4 Abmarsch. Der Gletscher ist fein. Endlich also seh ich ihn, den Kesch, von allernächster Nähe. Ehrfurcht und Freude am Gewaltigen Machwerk der Natur füllen mich aus. Also hinaus! Ich hätte es mir nicht so leicht vorgestellt. Herrl. Aussicht aber leider keine allzu grosse Fernsicht. Jungfrau ist nur noch verschwommen.»272 Auch hier setzte er selbstverständlich voraus, dass bekannt ist, was unter «typischem Hüttenleben» zu verstehen war. Ich meine, dass die Verwendung solcher Formeln darauf hindeutet, wie stark sich Wenzel am bereits bestehenden alpinistischen Diskurs orientierte, um seine Erlebnisse darzustellen und zu deuten. Wie schon am Beispiel Angevilles gezeigt wurde, war relativ streng vorgegeben, wie eine typische Bergtour verlief und vor allem, wie sie dargestellt werden konnte. Beides bestätigt die Ritualhaftigkeit der Aktivität Bergsteigen: Es handelt sich dabei um einen mehr oder weniger vorgegebenen Erlebnisparcours, den es zu durchlaufen galt und gemäss dem unterwegs Erfahrungen gesucht wurden: Die akribische Planung der Tour entgegen allen Warnungen, der mühselige Aufstieg allen Hindernissen zum Trotz, die Euphorie auf dem Gipfel, die siegreiche Heimkehr.

      Nicht alle unmittelbar notierten Erlebnisse taugten zur Veröffentlichung, dies zeigte bereits Angevilles Beispiel. Sie selbst bevorzugte jene Geschichten, die sie als autonome Heldin erscheinen liessen, und liess jene weg, die sie als widersprüchlichere, stärker in soziale Netze eingebundene Person zeigten. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese für «offizielle» Bergtourenberichte als unpassend erachteten Passagen für die Schreibenden unwichtig gewesen wären. Dazu nochmals ein Beispiel aus Eugen Wenzels Fahrtenbuch, in dem sich auch sehr private Erinnerungen finden: Am 6. April 1923 klagte Wenzel über seine Melancholie: «Spaziergänge. Ich kann nicht sagen, was mir fehlt. Die Energie ist mir fast abhanden gekommen. Man hat gar keinen Mut mehr, etwas Grösseres anzupacken. Noch habe ich keinen ganztägigen Ausflug gemacht. Es langt immer nur zu halbtägigen Spaziergängen in der Umgebung der Stadt.»273 Doch schon bald darauf ging es wieder aufwärts mit ihm, denn auf einer Tour auf den Gletscherducan bei Monstein lernte er seine zukünftige Frau kennen: «Ich beschliesse, auf den Gipfel zu steigen u. auf meine Frage, wer mitmacht, meldet sich ein gewisses Frl. Rösli Hofer, die ich zum 1ten Male sehe. Wir seilen uns an und gehen hinauf. Frl. Rösli geht sehr gut und macht einen feinen Eindruck auf mich.»274 Es blieb nicht dabei, sondern: «Am Samstagmorgen fasse ich urplötzlich den Entschluss, eine Winterbesteigung des Tinzenhorns zu versuchen. Leider fehlt es mir an einem Kameraden und so gehe ich am Mittag auf die Suche. Beim Guggenloch treffe ich Frl. Rösli wie durch ein Wunder u. sie will mitmachen.»275 Schon eine Woche später war aus dem «Fräulein Rösli» das «Rösli» geworden, und eine weitere Woche später konstatierte Wenzel zufrieden: «Ich habe eine Bergfreundin, eine Berglerin gefunden. Rösli. Sie geht sehr gut u. ist ein flotter Kamerad. […] Mit Rösli am Berg zu wandern ist herrlich! Sie ist mir in kurzer Zeit ein ganz unentbehrlicher Freund geworden, sodass ich meine bisherigen fast etwas vernachlässige oder wenigstens in zweite Linie stelle.»276 Hätte er solche Passagen in der SAC-Zeitschrift veröffentlicht, wäre Wenzel das Unverständnis seiner Alpinistenkollegen gewiss gewesen.

      ***

      Alle vier in diesem Kapitel vorgestellten Reisestile – die Pilgerfahrt, das ästhetische Landschaftserlebnis, die wissenschaftliche Expedition und die Suche nach der Idealgesellschaft in den Bergen – blieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wichtige Bestandteile der alpinistischen Praxis und des alpinistischen Diskurses. Durch die Verwendung dieser Stile sowohl bei der Gestaltung ihrer Bergfahrten wie auch in ihren Tourenberichten distinguierten sich Bergsteiger von Nichtbergsteigern und Einheimischen. Ein «richtiger Alpinist» war nur, wer die relevanten Stile kannte und Elemente aus dieser Palette verwendete. Seit spätestens 1800 war die Fähigkeit, die symbolische Praxis Bergsteigen «richtig» in Szene zu setzen, Teil des von der meist (bildungs)bürgerlichen Elite kontrollierten kulturellen Kapitals, das dazu genutzt werden konnte, die eigene Zugehörigkeit zu dieser herrschenden Gruppe zu bestätigen oder sie zu erlangen. Zu den vier hier vorgestellten Reisestilen kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts drei weitere hinzu, die in der Folge für das Bergsteigen mindestens ebenso wichtig wurden: das Bergsteigen als (symbolische) Eroberung von Territorium, als Schule der Männlichkeit und schliesslich zur Ertüchtigung von individuellem Körper und «Volkskörper». Diese Reisestile werde ich in den Kapiteln zwei bis vier ausführlicher behandeln.

      WANDERN IM NATIONALMONUMENT

      7 «Eine Alpenspitze.» Illustration von 1861.

      Die Alpen und vor allem das Hochgebirge wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerne dazu genutzt, um zentrale Vorstellungen der damaligen Gesellschaft als «natürlich» erscheinen zu lassen: zum einen die Nation, zum andern die Idee, einer jeweils besonders überlebenstüchtigen nationalen «Volksgemeinschaft» anzugehören, die ihre Tugenden dem Überlebenskampf in der «freien Wildbahn» verdankte. Schweizer Autoren machten damals aus den Alpen ein nationales Monument; dies zeige ich im ersten Teil dieses Kapitels. Zur selben Zeit besuchten immer mehr ausländische Touristen das Gebirge. Nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der touristischen Infrastruktur in den Alpen untersuche ich im zweiten Teil dieses Kapitels das Beispiel zweier englischer Alpinisten, die das Bergsteigen gewissermassen als imperialistische Tätigkeit betrieben. Und schliesslich zeige ich im dritten Teil, wie der SAC versuchte, sich die nationale Erinnerungslandschaft Alpen anzueignen und zu kontrollieren, und lege am Beispiel der Jugendgruppen der Alpenclubs dar, wie Bergsteigen Anfang des 20. Jahrhunderts als Technik zur Erzeugung nationalistischer Gefühle in Mode kam.

      DIE ALPEN ALS ERINNERUNGSLANDSCHAFT DER SCHWEIZ

      Die Dichter und Philosophen der Aufklärung hatten die Alpen als Bühnenbild genutzt, auf das sie ihre gesellschaftspolitischen Utopien imaginieren konnten. Für diese in ganz Europa verbreiteten Fantasien


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