Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
Johannes Schnyder beschrieb die Ängste der zum sechsten Mal vor einer Geburt stehenden Hochschwangeren durch die Worte ihres kleinen Knaben. Das vor einer Geburt aufkommende Todesahnen, das manche Frau befallen konnte, ist verständlich. Betrachten wir die Statistik, so starben im Kanton Aargau 1880 28 Frauen am Kindbettfieber.165 Ebenda starben im gleichen Jahr 370 Kinder vor vollendetem erstem Lebensmonat.166 Die Fälle, in welchen entweder das Kind oder die Mutter oder beide bei der Geburt umkamen, waren zahlreich. Für Sophie, die schon zweimal nach einer Geburt fast gestorben war, war die nahe Geburt eine grosse Sorge.
Bei der um 14 Tage verzögerten Geburt des sechsten Kindes war es der Frau des Pfarrers möglich, bei ihm Nähe zu suchen. So beschreibt Johannes, dass seine Frau noch am Vortag der Geburt bei ihm in der Studierstube ruhte, um in seiner Nähe zu sein. Als die Wehen einsetzten, wurde der Arzt gerufen.167 Der Verlauf dieser Geburt wurde von Johannes im Erinnerungsbild an seine Frau genau beschrieben. Dies wohl auch, um den Schock über den Verlust der Frau und des Kindes zu überwinden:168 Die Beschreibung der Ereignisse gibt einen guten Einblick in den Umgang mit dem Ereignis Geburt.
Vom ersten Juni an wartete die Familie auf die Niederkunft. Noch am 13. Juni hiess es, Sophie sammle Kräfte: Sie ging zur Kirche, liess sich Bibelverse vorlesen, machte einen grossen Sonntagsspaziergang mit ihren fünf Kindern und dem Mann. Am Tag darauf begann die Geburt. Wie der Gatte beschrieb, halfen Gebete, die Schmerzen zu ertragen.
Während der Geburt wurde die Frau von ihren Schwestern und Freundinnen begleitet. Der Mann war nicht anwesend.169 Wie sehr die Geburt als bedrohliches Ereignis durch Bibelsprüche und direkte Anrufung Gottes unterstützt wurde, beschrieb Johannes Schnyder eindrücklich: «Montag Morgen blieb sie liegen; mit besonderer Zärtlichkeit empfing sie mich, den zur Berufspflicht Weggehenden: ‹Hast du keine Angst?› fragte sie. Als Antwort las ich ihr Psalm 91, sowie auch die Losung: ‹Ich will über sie wachen, zu bauen und zu pflanzen, spricht der Herr› (Jer. 31, 28) und: Dein Volk ergibt sich deinen treuen Händen/sieh, es liebt dich; wollst dich zu ihm wenden/wache – unter unserm Dache!› Das stärkte sie. Nachher bat sie die Freundin, ihr noch Luk. 15 zu lesen und einige Gedichte aus den Maiblumen, die sie sehr liebte. [...] Bald stellten sich Schmerzen und ein befremdendes Frösteln ein. Erstere wurden gegen Mittag so heftig, dass der Arzt gerufen wurde, der gleich bedenklich wurde, die Schmerzen für die beginnende Geburt erklärte. ‹O Herr hilf, o Herr, hab Erbarmen› waren die Seufzer in den bangen Stunden. Um 3 Uhr wurde nach unendlich schwerem Ringen ein grosser Junge geboren, der die Namen Paul Georg tragen sollte. Mit welcher Freude begrüssten wir den Kleinen, den wir schon gefürchtet hatten, nicht lebend zu sehen. Die Schmerzen waren sehr, sehr gross.»170
Die freudige Begrüssung des schon tot geglaubten Kindchens und die grosse Leidensfähigkeit der Frau waren Auszeichnungen der Güte Gottes und des tiefen Glaubens an Gott, der durch Gebete und Sprüche aufrechterhalten und gestärkt wurde.171 Obschon das Kind bei der Geburt gross und stark schien, nahm es schnell ab und starb schon am ersten Tag nach seiner Geburt: «Das sonst so kräftige Knäblein hatte über der Geburt zu arg leiden müssen und es sollte eine himmlische Mission erfüllen und seiner Mama den Weg durchs dunkle Todestal erleichtern, indem es voranging. Um 8½ Uhr fanden wir es entschlafen, um droben aufzuwachen zu einem schönern Leben. Die liebe Kranke bewegte es tief; lange hielt sie das kleine Wesen im Arm und sprach sich selbst Trost zu mit dem Liede: ‹Wenn kleine Himmelserben etc.› »172
TOD
Der Tod des Neugeborenen bewegte die Mutter tief, wie Johannes Schnyder beschrieb. Sie hielt das tote Kind im Arm und tröstete sich selbst mit geistlichen Liedern. «Auch wenn es sozusagen an der Tagesordnung war, ein Kind zu verlieren, scheint die kollektive Erfahrung den individuellen Schmerz keineswegs gemildert zu haben.»173 Der Vater erklärte sich den frühen Tod damit, dass das Kind eine Mission zu erfüllen hatte: Es war eine Art Zeichen Gottes, und es bereitete der Mutter den Weg in den Tod vor. Entsprechend wurde die Leiche des toten Paul während des Kindbettfiebers von Sophie im Haus behalten. Am Donnerstag, zwei Tage nach dem Tod des Kindes, verlangte die Mutter die Leiche noch einmal zu sehen: «Dann wünschte sie noch einmal die kleine Leiche zu sehen. Sie streichelte das kleine, liebe Gesichtchen und sagte: ‹Wie gerne möchte ich Abschied nehmen von dir, aber ich bin so matt; lebe wohl. Auf Wiedersehen im Himmel!› »174 Die Sterbende tröstete sich an der Anwesenheit ihres toten Kindes. Wenigstens mit diesem würde sie nun bald im Himmel vereint sein.
Der Tod seiner Frau wurde von Johannes Schnyder als «das schwerste Opfer» angesehen, das Gott von ihm gefordert hatte und das ihm nicht erlassen wurde. Er betrachtete dies als eine Strafe, die er verdient hatte.175 Gott, der seinen Diener strafte und zurechtwies, indem er ihm das Liebste wegnahm, wurde dadurch zum gerechten Richter. Der Tod von Sophie erhielt einen tieferen Sinn. Er wurde zur Glaubensprüfung des Pfarrers. Johannes Schnyder schrieb seine Erinnerungen an den Tod seiner Frau, als er selbst todkrank war und nicht wusste, ob er wieder gesund würde. Der Text ist durchtränkt von Bibelzitaten, Kirchenliedern und Sprüchen. Die Kraft der Worte sollte dem Tod und dem Glauben Sinn verleihen und dadurch über die Trauer hinweghelfen. Die zitierten Stellen mussten nur angedeutet werden, da die Verse bekannt waren: « ‹Warum leidet man auch so ungern?› Fragte sie nach einer schlaflosen, peinvollen Nacht ihre Schwester Meta und lohnte die Antwort: ‹Unter Leiden prägt der Meister etc.› »176
Der Trost wurde durch den Vergleich mit dem Martyrium von Christus zur köstlichen religiösen Erfahrung erhoben. Dies entsprach dem philosophisch-psychologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, «in welchem beispielsweise die Gebärfähigkeit von Frauen mit einer natürlichen Prädestination für grössere Leidensfähigkeit gleichgesetzt wurde. Dieser biologistischen Argumentation wurden oftmals religiös konnotierte Bilder der Frauen als demutsvolle Dienerinnen Gottes [...] beigesellt.»177 Dass diese Rolle bis hin zum Tod ertragen und als Weisung Gottes betrachtet werden musste, war eine Prüfung auf dem Weg zum erlösten Christ. «Dieses fatalistische Annehmen von Schicksalsschlägen – wie wir es heute vielleicht formulieren würden – beinhaltet die Unterwerfung unter Gottes Wille und Führung. Kein Aufbegehren gegen dieses Leid, im Gegenteil: ein Durchkosten.»178 So suchte auch zum Schluss der verzweifelte Johannes nicht nur Trost über ihren Tod bei Gott zu finden, sondern auch seine eigene Furcht vor dem Tod in Gottes Hand zu legen: «Den 23. Psalm wiederholte sie noch mit uns und betonte mit besonderem Nachdruck: ‹Und ich werde bleiben im Hause des Herrn ewiglich.› Auf den über ihr gesprochenen apostolischen Segen sprach sie als letztes noch das Amen und dann eilte sie hinweg im Feuerwagen Elia (während eines furchtbaren Gewitters!), um bei ihrem Herrn zu sein allezeit. Wir schauen aber hinweg über Grab und Verwesung zu dem, der abwischen wird alle Tränen von unseren Augen und bitten Ihn: Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut/Machs nur mit meinem Ende gut!»179
Die Bedeutung der Lieder, Sprüche und Bibelverse war existenziell. Das Ritual des wiederholten Zitierens in unbegreiflichen Situationen war Stütze und Trost, es scheint, als bannten die Worte den unbenennbaren Schmerz und Schrecken. Die Zitate aus diesem Text, der etwa ab 1885 regelmässig am Todestag von Sophie gelesen und später als Abschrift an alle Kinder verschickt wurde, tauchen in sämtlichen Quellen der Geschwister Schnyder wieder auf. Sie dienten in Tagebüchern und Briefen als Stütze und Trost und wiesen den Weg in unerklärlichen, ungerecht erscheinenden Situationen, aber auch im unerwarteten oder als unverdient angesehenen Glück. Das Schreiben eines Nachrufes, in dem akribisch das vorbildliche Sterben einer gläubigen Christin, eines gläubigen Christen beschrieben wird, hat Tradition im Pietismus. Mit einem Gebet auf den Lippen zu sterben, mit dem Tod eins sein waren feste Bestandteile dieser Schilderungen. Auch diese Stilisierungen bedeuteten eine Möglichkeit, den Tod einer nahen Person zu verarbeiten.180 Beim Tod eines Neugeborenen vermittelte der protestantische Glaube nicht nur die Botschaft von der Ergebung in den Willen Gottes und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung im Jenseits, sondern hielt durchaus Formeln und Riten bereit, um mit diesem schweren Ereignis umgehen zu können.181