Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
war, wird aus dem folgenden Zitat sichtbar. Sophie schrieb an ihren jüngsten Bruder Walter: «Seit langer Zeit wieder einmal habe ich wirklich von Herzen Klavier gespielt, auch gänzlich Unvorgeschriebenes. Mendelssohn war es und 3 Schubertlieder, die Tante Rosa auch öfter zu spielen und Rösy zu singen pflegte; die ‹Stadt›, von Heine und dann das einzige Lied, was ich mit meiner Stimme eigentlich noch richtig singen kann und was mir doch immer aus tiefstem Herz gesprochen war, nämlich ‹Musik›. Ich weiss nicht, ob Du Dich erinnerst. Du musst es in 8 Tagen spielen während ich koche, ich hab es doch so gern. Und zum Schluss das Herbstlied von Lenau ‹Holder Lenz du bist dahin› das ich mir einmal angeeignet, weil es so für mich passt und ich für Worte und Melodie eine Vorliebe habe. – Ich spielte übrigens schon heut früh eine Stunde vierhändig mit Frl. Weckerle, die plötzlich gestern abend an meine Türe polterte, so dass ich schleunig allen Grümpel vom Tisch in die Schublade wischte. [...] Wir spielten das erste Händelkonzert und ich muss sagen, immer reisst mich Händel einfach hin. Das ist etwas was ich lebhaft bedaure im Grab nicht mehr hören und spielen zu können und Händel versteht auch Frl. W. eher als anderes und geht mit.»230
Sophie schrieb jede zweite Woche einen solchen Sonntagsbrief an ihren Bruder Walter. Die Briefe gleichen Protokollen der Tätigkeiten, mit denen die alleinstehende und oft einsame Frau den einzigen freien Tag ihrer Woche verbrachte. Der Bruder konnte am Musik- und Literaturprogramm der Schwester teilnehmen und sich auf den kommenden Sonntag – zu diesem Zeitpunkt besuchte er seine Schwester vierzehntäglich – vorbereiten. Schliesslich wollten die Geschwister gemeinsam musizieren und über Lektüre debattieren. Im Zitat wird das Klavier zum Ort des Gemeinsamen und Vertrauten schlechthin. Es weckte Erinnerungen an Rosa, die Tante, die mit der Schwester Rösy musizierte, es war der Ort, an dem der Bruder spielte, während die Schwester zuhörte und kochte. Das vierhändige Klavierspiel war Ausdruck davon, dass Sophie an diesem Sonntag nicht allein war. Auch wenn Fräulein Weckerle den Ansprüchen von Sophie nicht genügen konnte, gab die Freundin ihr doch die Möglichkeit, in der gemeinsamen Musik über sich hinauszuwachsen. Noch bedeutender wurde dies allerdings, wenn die Schwester mit ihrem Bruder gemeinsam spielte, zum Beispiel Mendelssohns «Italienische Symphonie», die der Bruder, so Sophie im selben Brief, auf den kommenden Sonntag hin zu üben hatte.231
Wie berückend und berührend das gemeinsame Musizieren der Geschwister sein konnte, beschrieb die bereits oben zitierte Schülerin von Walter: «Später hätt er sogar eini vo sine Schwöschtere, s Marthy, won e schöni Stimm gha hätt, i d Schuel mitbracht, und sie hätt eus das Lied – und anderi – mit der Melodie vom Schumann gsunge, vo ihm am Flügel begleitet. Ich bi gsy wie verzauberet, ich ha tänkt, öppis Schöners chönns überhaupt nüme gäh.»232
Die Musik war für Frauen um die Jahrhundertwende einer der wenigen Orte, ihre Gefühle auszudrücken.233 Besonders berühmte Vorbilder finden sich unter den literarischen Beispielen Klavier spielender Frauen. So in Goethes «Wahlverwandtschaften», wo Ottilie durch ihre einfühlsame und virtuose Klavierbegleitung das Herz des solospielenden Eduards gewinnt. Die Harmonie, die zwischen den beiden während des Spiels entsteht, dient als Spiegel ihrer Charaktere, die einander zugeneigt sind. Während die Begleitung der Gattin von Eduard nur vom Willen, ihn zu begleiten, getrieben ist, führt die von Ottilie zur perfekten Harmonie.234 In der Musik kam zum Ausdruck, was niemals ausgesprochen werden durfte, sie wurde zum Ort vollkommenen Glücks und vollkommener Verzweiflung. Auch Meinrad Inglin bediente in seinem Roman «Schweizer Spiegel» dieses Klischee: Die noch kaum geahnte Liebe, die sich zwischen dem armen Dichter Albin und der Frau von Oberst Hartmann regt, wird im gemeinsamen Spiel sichtbar. Sie begleitet ihn auf dem Klavier. In der Musik offenbart sich die Liebe und Harmonie, die sich hier verbotenerweise im verdunkelten nächtlichen Zimmer ausbreitet.235
Das Klavier wurde durch diese Intimität zum Verbündeten, es kannte die innersten Regungen und Wünsche der spielenden Person. So war denn in den Gedichten Sophies das Klavier der Ort, an den sie sich in ihrer Sehnsucht zurückzog:
«Dämmrung
An dem Klavier in meinem kleinen Zimmer
So sitze ich im trauten Dämmerschein
Und spiele bei dem letzten trüben Schimmer
Die alten Lieder die wir sangen immer
Als Kinder schon und gestern noch zu zwein.
Die Finger gleiten auf den weissen Tasten
Das Lied vom Herbst und von der Jugendzeit
Vom Trommelklang und Kriegsgeschrei und Hasten
Und wie der Pilger sucht ein Haus zum Rasten
Vom Heimatglück und Erdenlieb und Leid.
Die alten trauten Weisen leis verklingen
Und nimmer werde ich des Spieles müd
Vor meine Seele alte Bilder dringen
Dass nicht ein einzig Lied ich mehr mag singen
Weil alles Weh durch meine Seele zieht.
Weil ich gedenke alter Schuld und Fehle
Auch am Klavier im letzten Dämmerschein
Mich Tag und Nacht mit wilder Reue quäle
Und einen Ausweg suchet meine Seele
Und einen Gott, denn ach, ich bin allein.»236
In «Dämmrung» wird das Klavier zum Anbindungspunkt an die verlorene Heimat, die durch die alten Lieder, die zu zweit gesungen wurden, heraufbeschworen werden sollte. Die zitierten Volkslieder lassen noch einmal das Liedgut aufscheinen. Nun kommen keine Lieder mehr über die Lippen, nur noch die Finger gleiten über die Tasten und bringen die Erinnerungen zurück. Die verstummten Lieder blieben in Worten als Verse, Zitate, als Literatur zurück. Während das Musizieren immer an Gemeinschaft und Harmonie erinnerte, konnte Literatur der Ort werden, an dem die Einsamen im Zwiegespräch Gehör und Verständnis fanden.
LESEN, VORLESEN, ZUHÖREN UND DER DRANG NACH AUSTAUSCH UND BESTÄTIGUNG
Im bäuerlichen Elternhaus von Johannes Schnyder waren Bücher eine Rarität. Bauernkalender und die Bibel waren der Lesestoff, der im Haus zu finden war.237 Das Fehlen anderer Bücher und die gleichzeitige Lesewut des Jungen führten zur weiter oben zitierten Anekdote, er habe bis zu seinem 15. Lebensjahr die Bibel vier Mal durchgelesen.238 Anders mochte das Verhältnis zu Büchern bei den beiden Frauen von Johannes Schnyder gewesen sein. Im Pfarrhaus in Beringen bei Pfarrer Peyer standen gewiss einige literarische Werke. Onkel Gustav Peyer, der Bruder Sophies, hatte eine grosse Bibliothek. «Der Bücherschrank im Pfarrhaus versammelte das Bildungsgut der Zeit, allerdings meist ohne die fortschrittliche oder gar avantgardistische Literatur.»239 Auch auf dem Wyttenbach’schen Gut im Wyssenbühl waren Bücher vorhanden. So erinnert sich der Vater Caroline Schnyder-Wyttenbachs in seinen Memoiren, dass zum täglichen Programm seines Vaters Lektüre gehörte.240 Bücher gehörten zum Ausweis von Wissen, Bildung und Geld. Allerdings spielten auch öffentliche Bibliotheken eine wichtige Rolle.241 So liess sich Ernst Schnyder, der als junger Pfarrer in Nesslau keinen Zugang zu einer grossen Bibliothek hatte, von seinem Onkel Gustav Peyer in Basel Bücher aus der Lesegesellschaft schicken. Die Schwester hatte dann jeweils den Auftrag, diese zu holen und zu verschicken. Um die Bücher in der Lesegesellschaft ausleihen zu können, musste der Onkel Mitglied sein.242
Lesen war zugleich Bildung und Luxus. Lesen war keine produktive Arbeit.243 So wurde es nicht geschätzt, wenn Mädchen zu viel lasen. Lektüre wurde oft am Sonntag oder auch am Abend genossen, wobei die oben zitierte Arbeitsteilung, einer liest, die anderen erledigen Handarbeiten, bevorzugt wurde. Im Pfarrhaus Schnyder gehörte eine regelmässige Abendlektüre zum Tagesprogramm: «Am Abend lasen wir gewöhnlich gemeinsam ein Buch vor, und Papa war dabei, um uns Freude zu machen, zu erklären und zu korrigieren. So lasen wir verschiedene Spyribücher und auch endlich einmal die ganze Odyssee, was mir in der Schule sehr zu statten kam.»244
Das gemeinsame