Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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religiöse Lieder wurden zur Ehre Gottes gesungen, der Pietismus hat so ein überaus reichhaltiges Liedgut hervorgebracht.»210 Eine grosse Anzahl der Lieder kompensiert das Verbot von Tanz und Vergnügen in sehr zu Herzen gehenden Melodien, die, im Dreivierteltakt komponiert, einen tänzerischen Charakter aufwiesen und oft aus dem Englischen übersetzt worden waren.211

      Da nun die reformierte Gemeinde beim Verkünden des Evangeliums singend mitmachen musste, war eine Begabung im musikalischen Bereich für den Pfarrer sozusagen Berufspflicht. Die Familie, die den Gottesdienst auch zu besuchen hatte, war dabei eine Verstärkung des Gemeindegesanges, der die Einheit und Stimmigkeit des Glaubens bezeugte und die Kraft der Predigt unterstützte. So galt die Pfarrfamilie bis vor kurzem «als Kern der singenden und musizierenden Gemeinde. Mit ihren Instrumenten und Stimmen halfen Ehefrau und Kinder im Gottesdienst, bei Konzerten, zu Weihnachten und all den Festtagen, die durch Kirchenmusik ihren Glanz bekommen. Wie weit die Kinder sich später vom Elternhaus geistig und geistlich entfernen mochten, über die Musik waren sie immer noch am dauerhaftesten mit den Quellen ihrer Kindheit verbunden.»212

       GEMEINSAMES MUSIZIEREN UND DIE SONDERSTELLUNG DES KLAVIERS

      Gemeinsames Musizieren bildete einen besonderen Akt der Geschwisterbindung. Ähnliche musikalische Vorbildung, ähnliche Vorlieben und vor allem gemeinsame Erinnerungen konnten über den musikalischen Weg ausgetauscht werden. Das Zentrum des gemeinsamen Musizierens war das Klavier. Es gehörte zum Alltagsleben und durfte in einer besseren Wohnung nicht fehlen.213 Das Klavier bedeutete Harmonie und Zusammengehörigkeit, wie dies im Zitat der um das Klavier versammelten Pfarrersfamilie sichtbar wurde. Zugleich demonstrierte es einen Standard an Vermögen und Bildung.214 Im Pfarrhaus von Johannes Schnyder standen ein Harmonium und ein Klavier. Während der Pfarrer das Spiel auf dem Harmonium recht gut beherrschte, war er des Klavierspiels lange nicht mächtig.215 Das Harmonium war das Instrument in pietistischen Kreisen, für Schwestern und Brüder der Basler Mission bildete die Anschaffung eines Harmoniums zur Hochzeit ein deutliches Zeichen der zukünftigen harmonischen Beziehung des Ehepaars.216 Nach dem Tod des Vaters wird das Harmonium nicht mehr erwähnt. Ein Klavier, das teurere und künstlerisch ergiebigere Instrument, stand in der Mietwohnung von Caroline Schnyder, bei Onkel Gustav in Basel, später verfügten fast alle Geschwister über ein Klavier, selbst die allein wohnenden Geschwister Paula und Sophie hatten ihr eigenes Klavier. Das Verstummen eines Klaviers war Zeichen fehlender Personen, es markierte eine Beziehungslücke. So schrieb Lilly, nachdem ihre 29-jährige Schwester nach den Ferien wieder als Lehrerin in «ihre» Schule zurückkehrte: «Es ist jetzt sehr still bei uns; damit will ich nicht gesagt haben, Paula habe Lärm gemacht, aber ihre lebhafte Art und ihre Musik fehlen uns immer, wenn sie fort ist.»217

      Ähnlich klingt es in einem Brief von Hanny an ihren ältesten Bruder Ernst nach der Abreise ihrer Nichten: «Es war gestern gar still bei uns, besonders am Abend. Da tönten keine hellen Kinderstimmen zum Klavier! Tante Pauline hielt Jungfrauenverein, Tante Meta war ganz vertieft ins ‹Theresli› u. Onkel u. ich spielten Sulta.»218

      Hanna blieb mit ihren alten Tanten und dem Onkel allein. Während sich die beiden alleinstehenden Frauen selbst beschäftigten, musste deren Bruder durch ein Spiel unterhalten werden. Das Verstummen des Klaviers zeigt zugleich das Fehlen von Kindern, von Leben an.

      Zur grossen Mode wurde das Klavier ab 1815. Es wurde zum bürgerlichen Instrument, das nicht nur als Statussymbol galt, sondern auch Bildung und gute Erziehung bedeutete und vor allem für Frauen zu einer Art ästhetischen Mitgift wurde.219 Zu einer guten Erziehung gehörte das Klavierspiel wie die Predigt zum Sonntag. So ist der Seufzer von Renée Mauperin kurz vor der Jahrhundertwende verständlich: «Mit den Frauen kann man nur über die letzte Predigt sprechen, die sie gehört haben, über das letzte Klavierstück, das sie geübt haben oder über das letzte Kleid, das sie getragen haben: das Gespräch mit meinen Zeitgenossinnen ist beschränkt.»220 Das Klavier wurde zum weiblichen Attribut, das Klavierspiel unterstrich die weiblichen Wesensmerkmale. Mit einer aufrechten Haltung, bedeckten Beinen und geneigtem Kopf gab sich die Frau der Musik hin, beim Zusammenspiel war sie Begleitung, ihr Talent erforderte Einfühlungsvermögen für den – selbstverständlich männlichen – Solisten.221 «Danièle Pistone hat in der französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts zweitausend Szenen entdeckt, in denen das Klavier vorkommt. In der Hälfte dieser Szenen spielt ein junges Mädchen eine Rolle, in einem weiteren Viertel eine verheiratete Frau.»222 Dass in zwei Dritteln der Fälle eine Frau vorkommt und in der Hälfte der Fälle ein unverheiratetes Mädchen, ist nicht bloss auf ein romantisches Klischee der französischen Literatur zurückzuführen, sondern hat mit der Ausbildung bürgerlicher Mädchen zu tun. Waren die Männer «militärpflichtig», so waren die Frauen, wie Kritiker meinten, «klavierpflichtig».223 Als bürgerliches Hausinstrument war das Klavier ein weibliches Accessoire. So wollten es die gesellschaftlichen Regeln, über die sich nur adlige Frauen oder Frauen aus der Unterschicht ungestraft hinwegsetzen konnten.224 Alle Schnyder’schen Töchter hatten Klavierstunden gehabt, dabei wurden sie je nach Talent mehr oder weniger gefördert. Die Stunden wurden ihnen zu Beginn zu Hause von der Mutter erteilt. Später erhielten sie Unterricht bei einer Klavierlehrerin. Diese genoss dafür unentgeltlichen Lateinunterricht bei Pfarrer Schnyder.225 Während des Welschlandjahres gehörte das Klavierspiel zu den Pflichtfächern,226 und es durfte im Stundenplan des Lehrerinnenseminars an der Neuen Mädchenschule nicht fehlen. Dass das Klavierspiel die Heiratschancen erhöhte, mag sein. Jedoch war dabei jede Form von Virtuosität für Frauen nicht vorgesehen. Das Klavier kam im Falle grösserer Begabung eher der Selbständigkeit der Frau entgegen und erhöhte ihre Chancen, selbständig Geld verdienen zu können.227 Sophie gab während der vier Jahre, in welchen sie in Aachen wohnte, Klavier- und Sprachunterricht und verdiente so einen Grossteil des Unterhalts des jungen Paars. Sie hatte Mühe, den Ansprüchen ihres Gatten in puncto Haushalt zu genügen, sorgte aber durch ihre Begabung für Einkommen: «Ich darf aber wohl sagen, dass ich mir alle Mühe gab meine Pflicht zu erfüllen. [Die Pflicht, den Haushalt zu führen, Anm. A. S.] Dazu suchte ich mir Schüler und hatte schliesslich eine ganze Schar, so dass ich des Tags oft 13 Stunden zu geben hatte. Das tat ich auf eigenen, aber ebenso sehr auf meines Mannes Wunsch, der nach kurzer Zeit gefunden hatte, ich wäre wohl ‹zu hochmütig und zu faul›, sonst würde ich als Klavierspielerin in ein Kino gehen. [...] Ich stand immer um 5 auf, da ich eine ganze Haushaltung zu machen hatte, bevor die Schüler kamen und brachte dem jungen Herrn sein Frühstück ins Bett, weil ich doch bis 8 Uhr fertig sein musste. [...] Ich erteilte Klavier-, Französisch- und Englischstunden und so bald ich konnte, bezahlte ich die Miete.»228

      Sophie sah es als selbstverständlich an, ihr Geld selbst zu verdienen. Ihr Mann assoziierte ihre Fähigkeit, Klavier zu spielen, mit der Möglichkeit, durch öffentliche Auftritte Geld zu verdienen, was für Sophie ausser Diskussion stand, schliesslich war sie Lehrerin, und mit Unterricht verdiente sie auch hier ihr Leben.

      Auch innerhalb des erlernten Berufes der anderen Schnyder-Schwestern bedeuteten ihre Kenntnisse im Klavierspiel eine Aufwertung ihrer beruflichen Fähigkeiten. Als Schwester Gertrud, Diakonisse von Riehen, wegen Spannungen mit dem Ärzteteam vom Spital Teufen, wo sie in einer leitenden Position war, in das Frauenheim Pilgerbrunnen versetzt wurde, schrieb ihre Mitarbeiterin, die Versetzung komme überraschend: «Wir werden sie in manchen Teilen vermissen, hat sie es im Grunde ja gut gemeint, und dann fehlt halt auch die Haus-Organistin!»229 Die etwas eigenwillige und widerspenstige Schwester wurde wohl in manchen Dingen vermisst, was aber auch heisst, dass sie in vielem nicht vermisst wurde. Ihre Fähigkeit als Hausorganistin wurde aber speziell vermerkt und schien, im Gegensatz zu allem anderen, eine besondere Auszeichnung gewesen zu sein. Rosa, die in Horgen als Sprachlehrerin tätig war, wurde als Chorleiterin angestellt, als der Musiklehrer aus Kostengründen weggespart werden musste. Ob sie für diese zusätzlichen Stunden entlöhnt wurde, ist nirgends festgehalten.

      Das Klavier bot eine erstklassige Möglichkeit, gleichzeitig zu unterhalten, weiterzubilden und Beziehungen zu pflegen. Verschiedentlich wird in Briefen das gemeinsame Musizieren oder das Vorspiel der einen oder des anderen erwähnt. Die meistgenannten Komponisten sind


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