Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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waren Pfarrer, Prediger oder pietistisch geprägte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Inspiriert wurden sie unter anderem durch die englische Erweckungsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts,245 die auch auf die Schweiz grossen Einfluss ausübte. Bei Schnyders las man Reuter, Frommel, Voss, Hebbel, C.F. Meyer, Lavater, Gotthelf sowie die Schriftstellerinnen Emma Waiblinger, Maria Waser, Dora Schlatter, Johanna Spyri und Elisabeth Müller. Natürlich wurden auch theologische Abhandlungen und evangelikale Traktätchen hin- und hergeschickt. So lasen die Geschwister reihum einen Text darüber, wie der Pietismus in Zofingen Fuss gefasst hatte, später sandte man sich Texte von Karl Barth zu und diskutierte diese kontrovers. Die vielfältigen Spuren, die diese Lektüre in Briefen, Tagebüchern und Memoiren hinterliessen, sind Zeichen des hohen Stellenwerts, der dem Lesen, Vorlesen und Zuhören zukam.246

      Bücher waren kostbare Geschenke, sie wurden ausgetauscht und zurückverlangt, sie wurden beschriftet und gehortet und immer wieder gelesen. Bücher waren Träger von geistigem Gut, sie waren Gesprächspartner und Tröster, sie öffneten die Welt und machten Verborgenes oder gar Verbotenes zugänglich. Interessant ist, dass in den Quellen nie von unpassender oder gar «verbotener» Lektüre die Rede ist, obwohl gerade für Mädchen viele Bücher als unpassend oder gar verderblich angesehen wurden.247 Es ist anzunehmen, dass diese Diskussion durchaus stattfand, da fast alle Geschwister in irgendeiner Form einen Bildungsauftrag hatten und somit mit der Auswahl passender Bücher konfrontiert waren.

      Sich über Literatur auszutauschen, bedeutete für die erwachsenen Geschwister, Lebenswelten zu teilen. Kaum ein Brief, in dem nicht ein kurzer Überblick über die derzeitige Lektüre vorkam. Dies konnte von religiösen Traktätchen über politische Schriften bis hin zu Goethes «Faust» und Baudelaire alles sein.

      Eine Ausnahme und zugleich ein Beispiel für die zentrale Rolle, die Literatur spielen konnte, bilden die Quellen Sophies. So zum Beispiel im Brief vom 8. November 1925, in welchem die Schwester ihrem jüngsten Bruder zunächst eine literaturkritische Abhandlung zu Strindbergs Dramaturgie lieferte, um dann den modernen Dramatiker in seinem Urteil über Shakespeare zu widerlegen. Dann verglich sie Strindberg mit Hebbel, Ibsen, Hauptmann, Mörike und Dumas, um sich zum Schluss bei Wilhelm Busch zu erholen. Weiter ging die Aufzählung zu den während der Woche geübten Fremdsprachen: Maupassant auf Französisch, eine leichte Liebesgeschichte zur Erholung auf Englisch und «Garben und Kränze», eine historische Abhandlung über Gregor den VII., der die Priesterehe abschaffte. Der Brief schloss folgendermassen: «Auswendig lerne ich Schillers ‹Weltweise› und wiederhole alles Gelernte immer zweimal im Tag und jeden Abend im Bett einen Buchstaben Gesangbuchlieder. Frl. W. sagte, ich wäre verrückt! Was sagst Du? Herzl. Gruss und Kuss in Dank und Liebe. Dein altes S.»248

      Solche Aufzählungen bilden in diesem Briefnachlass durchaus nicht die Ausnahme, der unglaubliche Wissensdrang und das rastlose Lernen und Weiterbilden sind Ausdruck des Stellenwerts, den Literatur und Musik für die Geschwister hatten. Im schwankenden Gemütszustand Sophies halfen diese kulturellen Stützen des Bildungsbürgertums, die Depression zurückzuhalten. Dass die Werke nur angedeutet werden mussten, zeigt, dass der Bruder mit dem Kanon bestens vertraut war. Diese Kenntnisse gehörten allerdings zum Beruf des Deutschlehrers, während für Sophie Literatur wie auch Musik überlebenswichtige Mittel waren, ihre Freitage ohne Familie zu überstehen.

      

26 Die Kinder von Walter Schnyder sagen, als Bergblumen verkleidet, Verse auf, um 1940

      26 Die Kinder von Walter Schnyder sagen, als Bergblumen verkleidet, Verse auf, um 1940.

      Die Abhandlungen in den Briefen gleichen Gesprächen mit einem imaginierten Gegenüber, sodass in der kleinen Wohnung der alleinstehenden Frau eine familiäre Nähe im brieflich-literarischen Austausch entstand.

      Grundstein aller Bücher und allen Lesens bildete die Bibel. Sie wurde zum Vergleich herangezogen, in ihr war alle Welt versammelt. Die Bibelfestigkeit der Geschwister lieferte Hilfe in guten und in schweren Situationen. So repetierte Paula während ihrer Krankheit Sprüche und Lieder, um ihre Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Ihr Tagebuch ist von Gedichten und Sprüchen durchdrungen, die sie sich selbst als Trost oder als mahnende Rufe hinschrieb. Wenn die Sprüche versagten, war die Kranke sehr verzweifelt: «Alles Aufsagen lieber Liedverse nützt nichts – die Verbindung mit Gott ist abgeschnitten, gottlob nur in solch dunklen Stunden!»249

      Die vertrauten und stärkenden Worte schienen eine Art heilende Kraft zu haben. Wenn diese nichts nützten, war die «Verbindung zu Gott» unterbrochen. Wörtlichkeit war wichtig und wurde ernst genommen. Früh gab man den Kindern Sprüche mit auf den Weg, die als Lebensmotto dienten; so zum Beispiel den Konfirmationsspruch, der oft bei der Abdankung als wegweisend für dieses Leben zitiert wurde.

      Selbst im spielerischen Zeitvertreib standen das Wissen und das Wort im Zentrum, so spielte man an Sonntagabenden das biblische Namenspiel.250 Sophie exerzierte ihr Wissen als Jugendliche, wenn sie sich mit ihrem Bruder Karl im Zitieren von lateinischen Klassikern duellierte.251

      In der nächsten Generation führte die engagierte Lehrerin Paula in moderner Form das Aufsagen und Zitieren weiter. Sie legte auch auf das Schauspiel wert und orientierte sich an den Lebenswelten der Kinder. Die Nichten und Neffen der Tanten durften in ihren Ferien Theaterstücke aufführen, in welchen sie als Berge oder als Pflanzen kleine Gedichte aufsagten.252 Auf der Fotografie sind die Nichten und Neffen Paulas, die unter der Regie ihrer Tante zum Geburtstag ihres Vaters Walter als Bergblumen auftraten und Verse vortrugen: «Jedes als Geburtstagsgruss. Da war beispielsweise Ruedi ein Enzian und wir haben aus Creppappier Blumen gebastelt. Hanswalter war ein Pilzli.»253

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