Der Ultralauf-Kompass. Norbert Madry
subjektive Angelegenheit, aber anders lässt es sich nicht festmachen. Der häufigste Grund, warum es »nicht mehr läuft«, ist eine Verletzung. In den seltensten Fällen ist die Diagnose so klar, dass es sich um eine chronische und sich nicht mehr bessernde Verletzung handelt. Vielmehr testet sich der Ultra-Enthusiast geduldig monatelang selbst durch kürzere, dann wieder länger und oft leider wieder kürzer werden müssende Läufe, ob es vielleicht doch wieder läuft … Und gar nicht mal so selten kommen diese Sportskameraden sogar aus der scheinbaren »Dauerverletzung« heraus und laufen dann wieder, als ob es diese Episode nie gegeben hätte!
Manchmal können es äußere Faktoren sein, die einem die Lust am Ultralaufen so weit dämpfen, dass es einfach nicht mehr läuft. Meistens ist das Zeitmangel und/oder insgesamt zu viel Stress. Der deutsche Rekordhalter im 24-h-Lauf, Wolfgang Schwerk, hat mal einige Jahre auf seinen geliebten Sport verzichten (müssen), weil er sehr stark in den Auf- und Ausbau seines Hauses eingespannt war und einfach nicht den Nerv hatte, auf diesen ganzen Handwerks- und Handwerker-Stress noch ein Ultra-Trainings- und Wettkampf-Programm aufzusatteln. Er ist nach dieser selbstgewählten schöpferischen Ultrapause mit spektakulären Weltrekorden in den superlangen Distanzen 1000 Meilen und 10 Tage grandios in die Ultraszene zurückgekehrt.
Dieses Beispiel zeigt übrigens, dass ein Abschied vom Ultralaufen nicht immer ein endgültiger sein muss – der Entschluss, ein paar Jahre Ultrapause einzulegen, kann über Dein ganzes Leben betrachtet eine gute Entscheidung sein. Dass Du in der Pause ein paar Jahre älter wirst und daher beim Wiedereinstieg wohl nicht mehr ganz an die Leistungen vor der Pause anknüpfen wirst, dürfte Dir dann schon mit Blick auf die Entwicklung Deiner Unterdistanz-Leistungen klar sein.
Muss ich ein sehr disziplinierter Mensch sein, um Ultras erfolgreich zu laufen?
Nein, Du musst nur das lange Laufen mögen.
Wenn man einem Menschen befehlen würde, 100 km oder 24 h zu laufen, würde man völlig zu Recht als Folterer und Sadist vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt. Solche langen Ausdauerleistungen können nur von Leuten bewältigt werden, die das Ganze aus freien Stücken, aus eigenem Antrieb und mit wenigstens vorübergehenden Lustgefühlen betreiben. Wir Freiwilligen machen dann Trainingseinheiten, die Nicht-Ultraläufer als »verrückt, sadistisch, nur mit äußerster Selbstdisziplin machbar« bezeichnen. Wir wissen dagegen: Es ist nicht Selbstdisziplin, sondern eine rundum schöne Geschichte mit Vorfreude, Vergnügen während des Laufs und (verhaltener) Befriedigung nachher, wenn wir uns für ein paar Stunden auf die Socken machen.
Ich würde sogar behaupten: Wer für die langen Einheiten oder das gesamte Ultratrainingspensum ständig an seine Selbstdisziplin appellieren muss, wird nicht lange Ultraläufer bleiben. Egal, wie relativ erfolgreich er oder sie ist: Ohne inneren Antrieb und Freude an Ultraläufen wird es nix Dauerhaftes.
So gesehen, mag es einige Leute geben, die mit eiserner Disziplin sportliche Erfolge im Ultralaufen erringen – aber sie werden immer deutlich in der Minderheit gegenüber den echten Liebhabern dieser Sportart sein.
Gibt es Ultraläufer ohne Ehrgeiz?
Angeblich ja, wenn man manche so über sich reden hört. Ich glaube: Ganz ohne Ehrgeiz ist bei uns Ultras niemand.
Die Antwort auf die Frage nach dem Ehrgeiz hängt natürlich davon ab, was unter Ehrgeiz verstanden wird. Mein Verständnis von Ehrgeiz möchte ich an zwei Läufer-Typen illustrieren, die sich selbst als »reine Genussläufer« bezeichnen bzw. »heute nur reiner Trainingslauf« sagen und in der Regel jegliche Ambitionen von sich weisen.
Bei den Genussläufern ist meist mindestens der ausgeprägte Wille da, nicht nur ziemlich oft zu starten, sondern auch ziemlich oft zu finishen – wobei das Finishen eines Ultras ja bereits eine Leistung ist, die von weit mehr als 99,9% der Bevölkerung nicht (auf Anhieb) bewältigt werden könnte. Genussläufer laufen gern in Gesellschaft, gucken sich die Gegend an, bleiben für Erinnerungsfotos oder ein Schwätzchen am Verpflegungsposten schon mal länger stehen. Gegen Ende eines Rennens schalten jedoch viele Genussläufer dann eigenartigerweise doch auf »Wettkampf«, »Plätze gut machen« etc. um. Und gucken im Ziel auf die Zeitabstände zu ihren Spezis, um ihre aktuelle Leistung in einem Quervergleich einzuordnen – gar nicht so anders als die Leute weiter vorne!
Ähnlich ist es bei den »Trainings-Wettkämpfern«: Klar wollen sie heute nicht alles zeigen, verzichten freiwillig auf einen möglichen Top-10-Platz oder so, und halten sich auch anfangs schön zurück, aber auf den letzten 10 km, weil sie sich ja sehr zurückgehalten haben und noch viel mehr Reserven haben als die vor ihnen kämpfenden Läufer, müssen sie ihren Ehrgeiz schon echt im Zaum halten, um nicht noch »locker vorbeizuziehen« etc. – und oft lassen sie dann ihrem Ehrgeiz doch noch freien Lauf.
Wer Ultra-Wettkämpfe läuft, hat in meinen Augen immer auch den Antrieb, dieses keineswegs selbstverständliche Erlebnis auch mit einer feinen Leistung mindestens nach eigenen Maßstäben abzuschließen. Eine nach eigenem Ermessen feine Leistung abliefern heißt für mich: gesunder Ehrgeiz. Ehrgeiz gehört nun mal zum Sport, ansonsten würden wir ja nicht zu Wettkämpfen gehen.
Krankhaften Ehrgeiz, Verbissenheit und Missgunst gibt es natürlich auch unter Ultraläufern – das sind Leute, die sich eher an Platzierungen relativ zu Konkurrenten orientieren oder sich ständig überehrgeizige, weil für sie unrealistische Ziele setzen. Regelmäßiges Ultralaufen erzieht aber zu gewisser Demut und Dankbarkeit auch für Resultate, die nicht ganz so wie gewünscht ausgefallen sind, und daher sehe ich die Fraktion der verbissenen, missgünstigen und krankhaft ehrgeizigen Ultras ganz klar in der Minderheit.
Muss man sich denn überhaupt so viele Gedanken um das Laufen machen oder reicht es nicht, einfach zu laufen?
Es reicht völlig aus, einfach zu laufen.
Aber erstens ist der Mensch anscheinend so gestrickt, dass er sich über seine Lieblingstätigkeiten durchaus auch ab und zu ganz gerne Gedanken macht und zweitens wendet sich das Buch ja ausdrücklich an diejenigen, die es wissen wollen, wie es läuft. Gelegentlich kann ich sogar einen Grund nennen, warum etwas funktioniert oder nicht.
Wenn Du es wirklich wissen willst, also noch mehr Spaß und/oder Erfolg mit Deiner Lauferei haben möchtest, dann musst Du entweder einen Trainer haben, der Dich auch bis in die Kleinigkeiten des Alltags betreut und lenkt – solche Leute sind eine aussterbende Art. Oder Du nimmst auch Dein Läuferleben in die eigene Hand. Gedanken machen, analysieren, spekulieren und planen ist die eine Sache – das Umsetzen dann noch eine weitere Disziplin.
Macht Ultralaufen langsam?
Nein.
Langsamer (z. B. über Halbmarathon oder 10 km) wirst Du allenfalls durch zu viel Ultralaufen bzw. zu selten gesetzte Temporeize. Um aber vernünftige Ultraläufe hinzubekommen, brauchst Du unbedingt auch Tempovermögen, und zwar Dein spezifisches. Viele Ultraläufer haben ihre PBs (= Persönliche Bestleistung) über 100 km oder 24 h genau in den Jahren erzielt, in denen sie sich auch auf den Unterdistanzen verbessert hatten.
Auch langfristig (alterskorrigiert natürlich …) ist Ultralaufen keine Tempobremse. In meinen wenigen Nicht-Ultralaufjahren war ich über kürzere Strecken relativ schwächer als z. B. im Marathon. Meine 10-km-Zeit hätte nach der Faustformel 10-km-Zeit x 4,66 eine Marathonzeit von knapp 2:44 »erlaubt« – gelaufen bin ich 2:38:36 und einige weitere Male unter meiner Faustformel-Marke von 2:44. Das war, als ich Anfang/Mitte Dreißig war. Jetzt, mit über 60 Jahren und fast 30 Jahren als Ultraläufer, bin ich über die kürzeren Strecken allmählich relativ besser als über Marathon geworden. Oder anders ausgedrückt: Der altersgemäße Leistungsrückgang ist bei mir auf den (ungeliebten) kürzeren Distanzen weniger ausgeprägt als bei Marathon und mehr.