Der Ultralauf-Kompass. Norbert Madry

Der Ultralauf-Kompass - Norbert Madry


Скачать книгу
vorübergehend.

      Du hast bestimmt schon erlebt, z. B. jenseits von km 30 eines voll gelaufenen Marathons, dass Dir einfaches Kopfrechnen nicht mehr gelingt, dass Dir alle möglichen queren Assoziationen ungefragt durch den Kopf tanzen, dass Du einen verdammt engen Tunnelblick bekommst, keine vernünftigen Sätze mehr rausbekommst (und zwar nicht wegen Atemnot) usw. usw. Das gibt sich alles spätestens eine Viertelstunde nach dem Finish. Bei Ultraläufen können ganz ähnliche Phänomene auftreten – hier eher durch die Dauer als die Intensität der Anstrengung. Im 24-h-Lauf kann es Phasen geben, in denen man quasi im Laufen »pennt« – alle Deine Wahrnehmungssinne sind auf absoluten Energiesparmodus runtergefahren. So lange Du dabei vorwärts läufst und nicht an den minimalsten Bodenunebenheiten hängen bleibst, gar nicht mal so schlecht … Aber in einem Wettkampf ist es schon besser, wenn man zu jeder Zeit relativ wach und aufmerksam durch die Gegend läuft. Ilona Schlegels »Dilledöppchen« haben als Betreuer in 24-h-Rennen meist in den grauen Morgenstunden (für alle) gut lesbare Schilder mit Rätselfragen oder ganz einfachen Fragen (»Was ist Deine Startnummer?«) in die Laufrichtung gehalten und z. B. auch mich »Penner« wachgerüttelt – die wussten, dass man vorübergehend doof werden kann und dass man für ein ordentliches Finish besser wieder seine sieben Sinne zusammensuchen sollte.

      Langfristige Wirkungen hab ich weder bei mir noch anderen Ultras festgestellt. Sogar die Studie an den Teilnehmern des Transeuropalaufs 2009 hat per Messungen ergeben, dass die Gehirnmasse während der 67 Tage und 4500-Lauf-km tatsächlich im Schnitt um ein paar Gramm abgenommen hatte, aber nach ein paar Wochen »normalem« Leben bzw. Laufen alles wieder auf dem alten Stand war.

       Macht Ultralaufen kreativ/innovativ?

       Leider auch nicht.

      Auf den kürzeren Dauerläufen von rund einer Stunde Dauer ist es Dir sicher auch hier und da passiert, dass Dir die tollsten Ideen zu Problemen in den Kopf schießen, zu denen Dir in der Hektik des Arbeitsalltags aber auch überhaupt nichts einfallen wollte. Die Flutung des Gehirns mit Sauerstoff kann schon erstaunliche Potentiale zum Vorschein bringen – und deswegen hatte ich im letzten Jahrtausend zeitweise ein Diktiergerät auf meine Trainingsrunden mitgenommen, weil ich mich ohne Gedächtnisstütze nach dem Lauf immer nur höchstens an die letzte Idee erinnern konnte, obwohl ich bestimmt 5 oder 6 tolle Einfälle während des Laufens hatte. Diesen Booster-Effekt auf die kreativen oder innovativen Gehirnbereiche habe ich auch auf den ersten 1–2 Stunden von meinen längeren Trainingsläufen erlebt. Aber danach verebbt der Strom der Gedankenblitze. Also kann ich bei mir leider keine über die bei Lauf-Normalos hinausgehende ultra-spezifische Gehirnstimulierung direkt während des Laufens feststellen. Und, mit Verlaub, bei anderen Ultraläufern auch nicht … Dieser schöne Nebeneffekt des Laufens kann sich halt bei allen einstellen, die sich ein, zwei Stunden an der frischen Luft bewegen – und zwar in einer Intensität weit unterhalb der individuellen Leistungsgrenze.

      Ob dann unser langes Laufen wenigstens noch nachträglich die Gehirnzellen aktiver hält (so wie Muskeltraining noch einen nachlaufenden Kalorienverbrauch bewirkt), wage ich auch zu bezweifeln. Das Zufriedenheitsgefühl nach einem schönen langen Lauf überwiegt, und Zufriedenheit ist ja bekanntlich keine gute Seelenlage für das Aufkommen von innovativen Gedanken …

       Was ist der beste Laufstil für Ultraläufe?

       Der beste Laufstil ist der, welcher Dir das beste Gefühl gibt, dass Du mit minimalem Energieverbrauch relativ zügig vorwärts kommst.

      Da kann es individuell sehr große Unterschiede geben, die man ja bereits auch im Marathon-Spitzenbereich bei den großen Rennen immer wieder verwundert bestaunen kann. Aber ebenso wie im Marathon kann man für Ultraläufe schon beschreiben, wie es denn idealerweise laufen sollte: Der ideale Ultralaufschritt für Strecken ab 100 km sieht nicht besonders dynamisch aus, sondern eher flüssig-rationell:

      1.wenig Kniehub und generell wenig Bewegung in der Vertikalen – der Kopf des Läufers wird vom restlichen Körper mit einer möglichst geringen Abweichung von einer horizontalen Linie parallel zur Laufoberfläche vorwärts bewegt. Laufen wird ja gern als Aneinanderreihung von vielen kurzen Sprüngen beschrieben (und im Gegensatz zum Gehen sind für eine kurze Zeit ja tatsächlich auch beide Füße in der Luft). Es kommt beim Langstreckenlauf und erst recht beim Ultralauf darauf an, so wenig wie möglich an Energie zum Hochspringen zu vergeuden. Also so wenig wie möglich nach oben, sondern nach vorne »springen«.

      2.Wenig Wert auf einen dynamischen Fußabdruck legen: der ermüdet nämlich die Wadenmuskulatur, verführt zum unökonomischen Hochspringen. Gute Ultraläufer springen nämlich auch nicht vorwärts, sie gleiten eher über den Parcours.

      3.Eine Schrittfrequenz von ca. 90 Halbschritten pro Minute mit

      4.guter Körperspannung und austariertem Armeinsatz.

      Ein solcher Laufstil ist ideal, um viele befriedigende Ultralauf-Erlebnisse und -Ergebnisse einzufahren. Er ist für kürzere Distanzen auch nicht verkehrt, aber ganz schnelle Rennen kann man damit nicht erwarten.

       Soll ich meinen Laufstil ändern, wenn er zu weit vom idealen Ultralaufstil weg ist?

       Vieles gibt sich von alleine, wenn Du nur vernünftig trainierst.

      Wir wissen ja alle, dass es ziemlich schwierig ist, seinen Laufstil zu ändern. Jedenfalls viel schwieriger, als z. B. gezielt das Wettkampftempo für einen Halbmarathon zu erhöhen. Deswegen (»bringt mir nichts«) verzichten die meisten Läufer gleich komplett auf eine bewusste Verbesserung ihres Laufstils. Je länger allerdings die Strecke, desto gravierender können die Folgen eines schlechten Laufstils werden. Für Ultras ist ein ökonomischer Laufstil nicht nur ein wichtiger Faktor für gute Wettkampf-Ergebnisse, sondern auch entscheidend dafür, ob man lange Freude am Ultralaufen hat oder sich von einer chronischen Verletzung in die nächste hinein läuft.

      Die gute Botschaft ist, dass Du mit einem ausgewogenen Training Dein läuferisches Gesamtkunstwerk schon fast automatisch in Richtung idealer Laufstil veränderst. Ausgewogen heißt: Sinnvolle Abwechslung von Hochbelastungs- und Ausruhphasen über das ganze Jahr, über eine Trainingswoche und z. T. sogar in der einzelnen Trainingseinheit; kein einseitiges reines Ausdauertraining, sondern Einstreuen von Tempotraining zur richtigen Zeit in der richtigen Intensität, sowie Ausgleichsgymnastik zum Kontern der Überlastungsrisiken, die durch alleiniges Laufen zwangsläufig zu Verspannungen, Gelenkproblemen und Fehlhaltungen führen. Mehr dazu dann später in den Trainingsabschnitten dieses Buchs.

      Wenn Du bewusst Deinen Laufstil ändern willst, mach das bitte nur mit einem guten Trainer. Nur jemand, der mit dem ausgebildeten Blick Deinen Laufstil von außen sieht, kann Dich hier vorwärts bringen – dies ist ein Gebiet, wo Du rein autodidaktisch doch sehr beschränkt bist.

       Gibt es spezielle Laufschuhe für Ultradistanzen?

       Nein.

      Es gibt allerdings ein paar Dinge, die bei der Auswahl von Laufschuhen für Läufe über sehr lange Distanzen beachtet werden sollten. Vereinfacht gesagt: Die Überlegungen, die für die Wahl eines Marathonschuhs relevant sind, gelten erst recht für Läufe jenseits der Marathondistanz. Also lieber eine Nummer größer, lieber etwas mehr Gewicht und dafür auch mehr Halt/Stabilität.

      Apropos Gewicht: Während des Laufens aufgesaugte Flüssigkeit (Schweiß, Regen, Kühlwasser etc.) kann einen Laufschuh, der im trockenen Zustand zu den Leichtgewichten zählt, verdammt schwer machen. Das Flüssigkeitsvolumen, das vom Laufschuh gespeichert werden kann, ist abhängig von seinem Aufbau und den verwendeten Materialien, also auch von Laufschuh zu Laufschuh unterschiedlich. Je nach Strecken- und Witterungsbedingungen kann man also vielleicht mit einem Schuh A, der trocken etwas schwerer ist als Schuh B, trotzdem über die gesamte Lauflänge gesehen die bessere Variante an den Füßen haben.

Скачать книгу