Heimkinder. Urs Hafner
Kindern, nicht die sich quasi von selbst aufdrängende Alternative der Unterbringung bei Verwandten oder Bekannten. Die Geschichte der Institutionen, die elternlose oder verlassene Kinder aufnehmen, soll dem Leser die Vorgeschichte der heutigen Heime nahebringen. Wenn man deren Vergangenheit kennt, versteht man ihre Gegenwart besser. Dabei zeigt sich, dass es keine über die Jahrhunderte gleichbleibende Lösung des «Problems» elternloser Kinder gibt, ja dass sogar die Wahrnehmung der Existenz elternloser Kinder als ein soziales oder gar für die Kinder existenzielles Problem keineswegs selbstverständlich ist.
Zweitens ist die Geschichte der Unterbringung von Kindern bei Verwandten oder fremden Familien, abgesehen von den «Verdingkindern», kaum erforscht. Erstaunlich ist dies nicht: Während Institutionen wie Klöster, Spitäler, Armenhäuser und Heime zumindest offizielle und offiziöse Quellen produzieren, die von ihrer Entstehung, Gründung, Finanzierung, Leitung, den möglichen baulichen Veränderungen und so weiter und am Rande von den Insassinnen und Insassen zeugen, hat der Aufenthalt von Kindern in fremden Familien bis ins 19. Jahrhundert kaum Spuren hinterlassen. Wer etwas darüber wissen wollte, müsste umso intensiver suchen. Da sich dieses Buch vorwiegend auf publizierte Forschungen stützt und diese verdichtet, hat es diese Seite der Fremdplatzierung von Kindern – die Unterbringung bei Verwandten – zwangsläufig wenig berücksichtigt. Genau genommen handelt es sich bei der Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ebenfalls um eine institutionalisierte Fremdplatzierung, zumindest dann nämlich, wenn politische oder geistliche Behörden diese Massnahme systematisch und mit bestimmten pädagogischen Zielen anordnen. Zumindest in der Gegenwart stehen die beiden Möglichkeiten der Fremdplatzierung, sei es die Pflegefamilie oder das Heim, nahezu gleichwertig nebeneinander oder sind gar in ihren Mischformen nicht mehr deutlich auseinanderzuhalten.
Ein Klima der Kälte und der Angst
Eine Geschichte der Kinderheime und Jugendanstalten in der Schweiz – beziehungsweise der Heime auf dem Gebiet der heutigen Schweiz – muss freilich ein grosses Defizit in Kauf nehmen. Die überlieferten Quellen geben fast ausschliesslich die Sicht der Erwachsenen wieder. Diese Spuren sind indes nicht uninteressant, im Gegenteil: Aus Heimordnungen, Gründungsstatuten, Insassenlisten, Aufzeichnungen des Heimleiters, Speise- und Unterrichtsplänen und anderem kann man sehr wohl annäherungsweise den Alltag in der Anstalt, ja den Geist eines Heims rekonstruieren. Wer gründete, wer leitete, wer finanzierte die Anstalt? Wann mussten die Kinder aufstehen, wie den Tag verbringen, wann zu Bett gehen? Wie oft wurde gebetet, wie und wer wurde bestraft, was bekamen die Zöglinge zu essen? Wurden die Mädchen von den Knaben getrennt? Wie alt waren die Kinder und Jugendlichen beim Ein- und beim Austritt aus der Institution? Warum wurden sie in die Anstalt eingewiesen, was erhofften – und erhoffen – sich die Zuständigen vom Heimaufenthalt, welche Kinder und Jugendlichen wurden interniert?
Diese und andere Fragen versucht dieses Buch zu beantworten. Sein eigentlicher Gegenstand freilich kommt kaum vor: die Kinder und Jugendlichen als Subjekte – das heisst: ihre Sicht der Dinge, ihre Gefühle, Erfahrungen und Handlungen. Die ohnehin seltenen Quellen, in denen die Kinder überhaupt zur Sprache kämen – das könnten Aufzeichnungen, Briefe, Zeichnungen, Gespräche und Erinnerungen sein –, hat nahezu niemand überliefert. Für das 20. Jahrhundert stehen uns dafür auf Kindheitserinnerungen sowie auf autobiografischen Erlebnissen beruhende literarische Aufzeichnungen von ehemaligen Heiminsassinnen und -insassen zur Verfügung. Die teils erschütternden Erinnerungen evozieren meist ein Klima der Kälte und der Angst, das in der betreffenden Institution geherrscht haben muss. Natürlich täuschen wir uns fast immer, wenn wir uns genau an weit zurückreichende Ereignisse zu erinnern vermeinen. Was für die Angabe des Orts und der Zeit sowie Details wie Farben, Beteiligte und Formen gilt, trifft jedoch nicht für die Grundstimmung einer vergangenen Zeit zu. Eine grösstenteils düstere Kindheit wird kaum als glücklich verbrachte Lebenszeit erinnert werden – und umgekehrt. Auch Heimaufenthalte der jüngsten schweizerischen Vergangenheit sind wissenschaftlich wenig untersucht.
Von den soziologischen Aufzeichnungen sowie den Erinnerungen und literarisch-fiktionalen Aufzeichnungen abgesehen, stehen wir, was die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen ihrer Zeit in Heimen und Anstalten anbelangt, sozusagen vor dem Nichts. Wenn Kinder in den Quellen überhaupt vorkommen, dann nur in der Sicht der Erwachsenen, also der Anstaltsleiter und Heimerzieher. Und diese tendieren dazu, die Kinder so zu sehen, wie sie diese sehen wollen. Ein Erzieher, der davon überzeugt ist, dass er die ihm anvertrauten Zöglinge bessern muss, weil sie schlecht und verdorben sind, ist kein vertrauenswürdiger Zeuge. Seine Schilderungen der Kinder, ihrer Einstellungen und Ansichten sagen mehr über ihn, über seine Wahrnehmung seiner Umgebung aus als über das Wahrgenommene. Auch diese Heimgeschichte muss also fast vollständig auf die Wiedergabe der Erfahrungen der jungen Insassinnen und Insassen verzichten. Was gäbe der Historiker nicht dafür, wenn er wüsste, wie ein Kind seinen Aufenthalt im mittelalterlichen Spital – inmitten von verarmten und kranken Erwachsenen – oder im frühneuzeitlichen Arbeitshaus – in unmittelbarer Nachbarschaft von erwachsenen Delinquenten – erlebte.
Die Geschichte der Heimunterbringung von Kindern ist keine sorglose Geschichte. Kind und Jugendlicher zu sein, ist an sich keine einfache Sache. Mag auch die Zeit des zweckfreien Spiels und der empfundenen Wärme des elterlichen Körpers nicht nur zum Wichtigsten, sondern auch zum Schönsten gehören, was einem Menschen widerfahren kann, so gestaltet sich das Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen, das ohne die konfliktuelle Loslösung von den Eltern nicht gelingen kann, als eine in der Regel beschwerliche, ja schmerzvolle Angelegenheit. Der französische Philosoph Louis Althusser hat vom Drama eines jeden Menschen gesprochen, in Einsamkeit und gegen den Tod einen langen Gewaltmarsch auf sich nehmen zu müssen, auf dem er aus einer säugetierartigen Larve ein – männliches oder weibliches – Subjekt wird.2 So gesehen kann man sich sogar darüber wundern, dass dieser schwierige und hochkomplexe Vorgang – also die Entwicklung vom völlig unselbständigen Säugling, der ohne Hilfe von aussen zum Tod verdammt wäre, zum hoffentlich autonomen Erwachsenen – häufiger glückt als missglückt. Oder ist dem etwa nicht so? Jedenfalls ist die Zahl jener Kinder, die im Laufe der letzten Jahrhunderte eine unbeschwerte Kindheit verbringen durften, ohnehin verschwindend klein.3
Um wie viel schwieriger gestaltete und gestaltet sich ein gelingendes Heranwachsen für Kinder, die in autoritär geführten Heimen aufwachsen mussten und müssen! Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass einzelne Kinder wohl jeden anderen Ort der Hölle des elterlichen Zuhauses vorzogen und vorziehen und im Heim zumindest Schutz vor permanenter Drangsalierung fanden oder eine Art Geborgenheit anstelle grosser Einsamkeit, so dürfte der Heimalltag vor allem bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wenig Grund zu Freude, Ausgelassenheit und Glück gegeben haben. Auch wenn wir die Kinder nicht mehr selber fragen können: Der Grossteil der überlieferten Quellen vermittelt einen Eindruck von unerbittlicher erzieherischer Strenge, von körperlichen Strafen, seelischen Demütigungen, von Überwachung und Kontrolle, von schlechtem Essen, von anstrengenden Arbeiten – und von Mangel an Liebe, Zärtlichkeit und Zuwendung.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die von stationären Institutionen geleistete Betreuung fremdplatzierter Kinder stark religiös geprägt. Ob die Einrichtungen – wie das Spital im Mittelalter und das Waisenhaus in der Frühneuzeit – die Insassen in erster Linie aus einer christlichen Haltung der Barmherzigkeit verpflegten und verwahrten und sich dabei in weltanschaulich-erzieherischer Hinsicht auf religiöse Andachten und das Rezitieren biblischer Sprüche beschränkten oder ob sie im Gegenteil – wie die konfessionell ausgerichteten Rettungsanstalten und Kinderheime des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – die Kinder einer auf Frömmigkeit und Arbeitsamkeit abzielenden Pädagogik unterzogen: Die Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen war bis zur «Heimkampagne» Anfang der 1970er-Jahre, die im Geiste der 68er-Bewegung mit der Vergangenheit brach, stark christlich dominiert. Christlich freilich meistens nicht im Sinne der Nächstenliebe, die auf einer ideologischen Ebene immer wieder ins Feld geführt wurde, oder gar in der Tradition eines irgendwie franziskanisch inspirierten Frohsinns, sondern christlich in einem disziplinierenden und repressiven Sinn. Der nicht von ungefähr der spätmittelalterlichen Klosterwelt entnommene Sinnspruch «Ora et labora» – bete und arbeite – der protestantischen Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts bringt diesen Geist paradigmatisch zum Ausdruck: Als tüchtig arbeitender und innig betender Mensch sollte das einst sündige und missratene Kind zum nützlichen Staatsbürger